Ich bin mittlerweile seit zehn Jahren im Journalismus tätig. Ich habe schon unzählige Interviews mit Menschen geführt, die unfassbare Schicksalsschläge erlitten haben: Familien, die ihren gesamten Besitz im Hochwasser verloren haben, Eltern von sterbenden Kindern, Krebspatienten im Endstadium und sogar einmal einen Mann, der als Schüler von Nonnen missbraucht wurde.

Oft denke ich, dass mich wirklich nichts mehr umhauen kann und ich ohnehin schon eine meterdicke Elefantenhaut entwickelt habe. Doch dann werde ich leider immer wieder eines Besseren belehrt.

Wie etwa letzte Woche, als ich für eine profil-Reportage ein Frauenhaus besuchte. Es ist unmöglich, nicht betroffen zu sein, wenn eine Frau mit ihrem Kind vor einem sitzt und sich das völlig schüttere Haar nach hinten streicht, das ihr von ihrem Mann büschelweise ausgerissen wurden. Genauso nahe geht es, wenn eine andere ihr geliebtes Neugeborenes heulend an sich drückt, während sie versucht, die Geschichte von ihrem gewalttätigen Ex-Freund zu erzählen, der sie mit allen Mitteln zu einer Abtreibung zwingen wollte.

Leider sind solche Frauen kein Einzelfall: In Österreich wird auch heute noch jede fünfte Frau Opfer von häuslicher Gewalt, in der europäischen Union insgesamt ist es im Durchschnitt sogar jede dritte Frau. Aus diesem Grund werden wieder verstärkt Anti-Gewalt-Kampagnen gestartet. Am kommenden Samstag, dem Valentinstag, wird sogar ein internationales Happening unter der Schirmherrschaft der internationalen Organisation One Billion Rising (der Name leitet sich von der weltweiten Opferzahl ab) stattfinden. Interessenten können sich in Wien ab 14 Uhr als Zaungast vor dem Parlament einfinden.

So viel zu den traurigen Fakten.

Doch wie geht es solchen Frauen wirklich? Viele denken sich: Warum geht die denn nicht einfach? Oder vielleicht noch zynischer: Wenn die bei so einem Typen bleibt, ist sie selber Schuld!

Tatsächlich ist das alles viel leichter gesagt als getan. Außenstehende können nicht einmal ansatzweise erahnen, welch psychischer Sog bei so einer gewalttätigen Beziehung entsteht. Die körperliche Gewalt steht nur am Ende eines langen Prozesses: Die Täter bemächtigen sich ihrer Opfer Schritt für Schritt. Sie sehen ihre Partnerin als Besitz an und sind meist krankhaft eifersüchtig. Zunächst isolieren sie die Frau von ihrer Familie und den Freunden, bis sie die einzige Bezugsperson in deren Leben darstellen. Dann wird eine finanzielle Abhängigkeit hergestellt, was übrigens auch möglich ist, wenn die Frau einem Job nachgeht und der Täter arbeitslos ist: Er muss nur die Kontrolle über das gemeinsame Konto erlangen.

Danach beginnt langsam der Psychoterror: Durch Beschimpfungen und Abwertungen wird langsam jegliches Selbstwertgefühl zerstört. Die körperlichen Ausschreitungen sind dann nur die Draufgabe. Die Täter sind meist völlig uneinsichtig: Die Frau hat sich doch selbst die Schläge zuzuschreiben, da sie eben mit ihrem Verhalten provoziert hat, oder zu unfähig ist, eine Sache richtig zu machen. Das Schlimme daran: Die Opfer glauben das am Ende selbst. Sie werden so gebrochen, dass sie gar keine Kraft mehr für einen Ausbruch haben.

Und es ist ein Irrtum zu glauben, dass es nur Frauen mit Migrationshintergrund trifft, die patriarchal sozialisiert wurden: Auch Akademikerinnen mit einem eigenen, hohen Einkommen müssen sich mitunter ins Frauenhaus flüchten.

Mir wurden einige anonymisierte Fallbeispiele von Frauen zur Verfügung gestellt, die aktuell in einem Frauenhaus untergebracht sind. Sie zeigen sehr schön, dass sich häusliche Gewalt durch alle Gesellschaftsschichten zieht:

Akademikerin, berufstätig, 35 JahreSie lebt seit fünf Jahren in einer Beziehung mit einem Mann, der schwer eifersüchtig ist, sie ständig kontrolliert, ihren Kalender, ihre SMS liest und ihr auch manchmal auf der Arbeit auflauert. Als er auch körperlich übergriffig wurde, rief sie nicht die Polizei, sondern flüchtete sofort ins Frauenhaus.

Junge Frau, 25 Jahre, verheiratet, türkischer Herkunft, Mutter von einem einjährigen KindZuerst waren es nur Beschimpfungen, Demütigungen, Beleidigungen, dann fing ihr Mann an, sie zu stoßen, dann bei jeder Auseinandersetzung schwerer zu verletzen. Nach einem Krankenhausbesuch wollte sie nicht mehr nach Hause, sondern in ein Frauenhaus.

Frau, 55 Jahre, verheiratet, zwei erwachsene KinderJahrzehntelange Gewalterfahrung, die Übergriffe eskalierten immer mehr. Ihr Mann wurde bereits zwei Mal von der Polizei weggewiesen, beim dritten Mal hat es ihr gereicht. Sie zog ins Frauenhaus, ihr 18-jähriger Sohn zur Tante, ihre Tochter ist bereits ausgezogen.

Frau 40 Jahre, verheiratet, drei minderjährige KinderDer Ehemann, mit dem sie gemeinsam eine Landwirtschaft führt, tyrannisiert und demütigt sie seit Jahren. Er erklärt ihr etwa, sie wäre zu blöd zum Arbeiten und würde auch die Kinder nicht richtig erziehen. Ihr Selbstwertgefühl ist schon sehr geschwächt. Nun drohte er ihr, dass er sie vom Hof jagt, da er eine schönere und geschicktere Frau gefunden hat. Sie flüchtete daraufhin ins Frauenhaus.

Frau, 38, berufstätig, verheiratet, vier KinderIhr Mann stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien und ist derzeit arbeitslos, sie verdient das Geld. Er hat Angst, dass sie ihn verlässt, droht schon lange damit, sie und die Kinder umzubringen, sollte sie ihn jemals verlassen. Sie hat Angst, dass er die Ankündigung wirklich in die Tat umsetzt und flüchtete ins Frauenhaus.

Frau, 60 Jahre alt, geschieden, Mutter von 2 erwachsenen SöhneDie Gewalt dauerte Jahrzehnte. Der Vater schaffte es, die Söhne stets auf seine Seite zu ziehen. Sie haben leider sein gewalttätiges Verhalten übernommen. Ein Sohn lebt mit der Mutter, die er ständig tyrannisiert. Statt ihn wegweisen zu lassen, flüchtete sie ins Frauenhaus.

Ein Opfer hat mir übrigens einen Tipp gegeben, um sich das Ausmaß von häuslicher Gewalt besser vorstellen zu können: Das nächste Mal, wenn sie in eine Menschenansammlung geraten, etwa in der U-Bahn, dann zählen sie die Frauen durch und halten bei jeder fünfter inne.

Stellen sie sich vor, wie es bei ihr zu Hause hinter der Fassade zugehen könnte.

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