Armenien, Aserbaidschan, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgisien, Lettland, Litauen, Moldawien, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan, Weißrussland. Was das soll? Das sind die Länder der ehemaligen Sowjetunion, die Russland seit 1990 in die Unabhängigkeit entlassen hat. Zusammen rund 5,2 Mio. km² und 145 Mio. Menschen. Das ist fast ein Viertel des Territoriums der Sowjetunion und genau die Hälfte ihrer Bevölkerung. Oder anders: Das ist ein Gebiet, das mehr als der Hälfte der Fläche Europas entspricht. Nach der Einwohnerzahl so viel wie Deutschland und Großbritannien zusammen.

Komisch. Irgendwas passt da nicht zusammen. In unseren Medien lese und höre ich doch immer wieder wie aggressiv Russland ist und wie es dabei ist, sich immer weiter auszubreiten und sich andere Staaten einzuverleiben. Habe ich da was übersehen? Ach ja, die Krim. Ja, die Russen haben sich die Krim zurückgeholt. Rund 27.000 km² Fläche, das sind doch wirklich 0,5% von dem Gebiet, das sie abgetreten haben. Wahnsinn!

Allerdings wäre es wohl nicht soweit gekommen, hätte der Westen nicht tatkräftig am Sturz des demokratisch gewählten, russlandfreundlichen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch mitgewirkt. Und hätte das neue prowestliche Parlament in Kiew in Überschätzung seiner Macht nicht sogleich das Sprachengsetz gekippt, um russisch als Regionalsprache zu verbieten. Und das in einem Gebiet wie der Krim, wo der Anteil der Russen an der Bevölkerung bei rund 60% liegt. Der der Ukrainer liegt bei gerade einmal 25%. Kein Wunder, dass das dort auf wenig Begeisterung stieß.

Und während wir im Westen immer den Schutz nationaler Minderheiten und ihrer Sprachen fördern und fordern, unterstützen wir im Osten das Verbot russischer Sprachausübung, selbst wenn die "Minderheit" die Mehrheit stellt wie in Teilen der Ukraine. Abgesehen davon gehörte die Krim fast 200 Jahre zu Russland, aber nie zur Ukraine. Der wurde sie erst 1954 von Staatschef Chruschtschow per Dekret zugeschlagen. Was den Westen damals nicht interessierte und wohl auch viele Russen nicht, denn in der zentralisierten Sowjetunion hatte das wenig praktische Auswirkungen. Heute schon. Daher ist der Ausgang des unter russischer Kontrolle durchgeführten Referendums zum Anschluss der Krim an Russland nicht verwunderlich. Es wäre nicht anders ausgegangen, hätte es unter Aufsicht der UNO stattgefunden.

Während der Westen also den aggressiven Russen beschwört, der sich ein Land nach dem andern einverleiben will, schafft er selber ganz andere Fakten. Das ist unschwer zu erkennen, wenn man sich einmal die Ausdehnung der NATO ansieht - 1990 und in der Gegenwart. Da wird sehr gut sichtbar, wer da wem auf die Pelle rückt. Übrigens ganz entgegen der Absprachen, die es 1990 bei der Zustimmung zur deutschen Einheit gab. Man muss schon mit einem sehr schlichten Gemüt ausgestattet sein, um die Argumentation des Westens und der westlichen Medien plausibel zu finden. Es ist der Westen, der Russland versucht, immer stärker in die Enge zu treiben und eigene Machtpositionen auszubauen. Warum eigentlich?

Das Russland Putins ist nicht mehr die Sowjetunion Breschnews. Sicher gibt es auch manches zu kritisieren, aber die Menschen in Russland besitzen heute Freiheiten, die sie nie zuvor in der russischen Geschichte hatten. Und es herrscht nicht mehr Kommunismus, sondern Marktwirtschaft. Der Einfluss von Oligarchen ist ungleich geringer als in der von uns so geschätzten Ukraine mit ihrem Superoligarchen Poroschenko an der Spitze. Russland ist aber auch nicht mehr der Chaos-Staat wie unter Jelzin. Verständlich, das insbesondere die USA daher ein starkes Russland fürchten. Europa sollte sich jedoch nicht zum Erfüllungsgehilfen der USA in diesem Machtkampf machen. Dabei kann es nur verlieren. Wichtig ist für Europa nicht nur ein gutes Verhältnis zu den USA, sondern auch zu Russland. Die derzeitige Politik Europas tut jedoch genau das Gegenteil. Da wird Putin zum großen Diktator und erklärten Feind Europas stilisiert. Was für ein Unfug. Erscheint nicht Putin wesentlich zivilisierter und verlässlicher als ein Donald Trump, der vielleicht demnächst Präsident der USA ist? Und er ist allemal besser als Erdogan.

Und hier sind wir nun endgültig bei der Frage, welche Maßstäbe wir im Westen eigentlich anlegen. Das NATO-Land Türkei hat 1974 einen großen Teil Zyperns annektiert und hält ihn immer noch besetzt. Und das mit militärischer Gewalt und ganz ohne Abstimmung. Und vergessen sollte man auch nicht, dass zu diesem Zeitpunkt deutlich mehr als 80% der Zyprer ethnisch Griechen waren. Die NATO und die EU hat diese Annexion bis heute nicht gestört. Oder bestehen etwa Sanktionen gegen die Türkei? Im Gegenteil, wir verhandeln mit der Türkei über den EU-Beitritt, wir sagen Visafreiheit zu.

An ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Das gilt auch für die Politik des Westens. Die Werte, die wir so gern betonen, gelten offensichtlich nur nach Wetterlage und Gutdünken. Tut mir leid, aber da das so ist, sollten wir besser nicht mit Fingern auf andere zeigen. Nicht auf Putin, nicht auf Erdogan oder sonst wen.

shutterstock/Evgeny Sribnyjj

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