Ricki hat ein Repertoire an Weisheiten von seiner Großmutter väterlicherseits im Kopf. Heute brachte er die folgende an:„Wer Sprichwörter kennt, der kann kein böser Mensch sein.“Bei mir war das anders. Der Tag, an dem ich das erste Sprichwort lernte, machte mich damals zum traurigsten und bösesten Mensch der Welt.

Angefangen hat es mit Sonja Janke. Sonja Janke ist gar nicht wirklich meine Freundin. Sie rollt das r so komisch und ich weiß nicht, was ich mit ihr reden soll. Manchmal kann ich sie ein bisschen rumkommandieren, aber meistens will sie, dass wir uns gegenseitig einen Wollfaden von den Fingern fädeln. Das hat sie mir gezeigt, und das Spiel, wo wir uns abklatschen und einen Spruch dazu sagen, auch. Der heißt zwar überhaupt nichts, aber es ist lustig, und wir müssen nichts reden. Ihre Mama, die redet noch komischer und sagt Wörter, die ich nicht verstehe, zum Beispiel „Kredenz“. Und sie sagt Sachen falsch, zum Beispiel „das Teller“. Und sie ist total streng, aber nicht so wie andere Mütter. Einmal hab ich der Mama gesagt, ich gehe jetzt zu Sonja rüber. Sie wohnt gleich neben uns, im 111er-Block. Da hat die Sonja gerade gegessen, und ich habe mich auch zum Tisch setzen müssen, und dann habe ich fast ein Zwetschkenkompott essen müssen. Ich muss aber bei der Mama nie was essen, was ich nicht mag. Sie hat mich ganz böse angeschaut, die Augen haben hinter ihren Brillengläsern richtig rausgefunkelt, wo ich ihr erklärt hab, dass ich bei der Sabine Löschberger einmal einen Erdbeertee getrunken hab und dann hab ich überall im Gesicht Flecken gekriegt, das heißt Allergie, und sicher hab ich das bei Zwetschken auch. Die Sonja hat ihres ganz schnell gegessen und gefragt, ob wir was zeichnen gehen dürfen. Dann sind wir auf Sonja ihrem Bett gesessen und haben uns zum Spaß immer angerempelt. Die Sonja hat voll gegluckert beim Lachen. Etwas hat die Sonja gemacht, sie hat mich immer gezwickt. Komplett fest und ohne Vorwarnung. Wenn mich da nicht der Martin, das ist ihr kleiner Bruder, mit seinem plötzlichen Losplärren übertönt hätte! Der Sonja ist ein Stein vom Herzen gefallen, sie hat langsam wieder ein Grinsen aufgezogen, und dann hat sie plötzlich an meiner Hand gerissen, hat sie in ihre Unterhose gezogen und mir danach unter die Nase gehalten! Dabei hat sie mich mit riesengroßen Wangen angeschaut, weil sie auf keinen Fall losgluckern wollte. Ich habe sie dafür gebissen, genau in die Mitte von der Hand, da wo der Ellenbogen ist. Auuuuuuuuuuu! Ich weiß noch, wie ihre Mama uns dann auseinandergerissen hat. Sie hat Sonja ihre Hand festgehalten und ihr eine Watschn gegeben. Da hat sie dann die blaue Stelle und meine Zahnabdrücke gesehen. Sie hat mich wieder mit diesem Böser-Vogel-Blick angeschaut und auch ein bisschen, als ob sie gleich weinen würde und hat mich mit dem Rücken ins Eck geschupft. Zur Sonja hat sie nur leise gesagt: „Auf“, und hat mit dem Finger in die andere Ecke gezeigt. „Winkelstehen“ hat sie das genannt und sie hat uns in einer komisch auf und abgehenden Stimme gesagt, dass wir uns jetzt schämen müssen, dass wir so mit unserer Freundin tun. Ich hab mich aber nicht geschämt, und die Sonja sicher auch nicht.

Später hat mich Sonja Preiml am Eck vom 101er gefragt, ob ich Vater-Mutter-Kind spielen mag. Damals standen gerade wieder die Holzplakatständer mit den ernsten Männerköpfen im Hof, die haben wir immer als Haus genützt. Sie hat gesagt, ich muss das Kind sein, und sie muss mir die Haare schneiden. Ich hab sie natürlich sofort schneiden gelassen. Die Sonja Preiml ist nämlich schon groß. Ihre Hände haben gut gerochen, wie ein Shampoo vielleicht. Es war sehr eng und sie hat geschnipselt und mich dazwischen immer ganz zufrieden angelächelt. Das war sehr schön. Aber auf einmal hat sie erschrocken geschaut und hat gesagt, ich darf meiner Mama ja nicht erzählen, wer das getan hat.

Und zuhause sagte ich: „Sonja war’s“, wohlwissend, damit die andere zu beschuldigen. Nach der unvermeidbaren Aufklärung der wahren Umstände und dem vertrauten Schimpfgewitter sah Mama mich plötzlich zum ersten Mal mit einem ganz anderen Blick an. So, als wäre ich eine Fremde. „Wer einmal lügt“, sagte sie mit gefährlich vibrierender Stimme, „dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Merk dir das.“ Jede Silbe ein Messerstich, jedes Wort ein Eismeer.

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Den restlichen Tag über ignorierte sie mich. So, als wäre ich gar nicht da. Am Abend aber, beim Waschritual, streichelte sie meine Haare und hockte sich auf die blauen Fliesen und erzählte mir beim Zähneputzen leise: „Als ich noch ein Kind war, genauso alt wie du jetzt bist, da bin ich einmal krank gewesen. Und meine Mama, also die Schliesnig-Oma, die war wieder mal in irgendeinem Gasthaus unterwegs. Mich hat sie den ganzen Tag allein gelassen, weil“,sie imitiert eine wegwerfende Handbewegung– „‚ach die Bärbl, die kommt schon zurecht...’ Ich habe aber Fieber gehabt. Weißt du, wie du da auf deine Mama wartest? Und wie sie dann endlich heimgekommen ist, hat ihr die Astrid Mödritscher, die hat über uns gewohnt und ist damals schon in die Volksschule gegangen, gesagt, die Bärbl hat da ins Stiegenhaus --- Lulu gemacht. Dabei hat das die blöde Funzn selber gemacht! Und die Mama?!? - Ohne mich zu fragen, kommt sie rein, zieht mich aus dem Bett raus – Kristanje, ich war damals vier Jahre alt! Ich war den ganzen Tag allein und krank!!!– schleift mich ins Stiegenhaus und sagt zu mir, ich soll die Brunze da wegputzen. Und die Astrid Mödritscher steht daneben und lacht.“

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Naladin

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fischundfleisch

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