Buchauszug "Mendacia - Die Verschwörung" - Roman

Wie Joachim erwartet hatte, kam schon früh morgens eine Depesche zu ihm ins Büro. Der junge Mann brachte ihm die Antwort von Professor Baumgartner, oder zumindest war das, was Joachim erwartet hatte. Seine Erleichterung dauerte nicht lange, als er den kleinen Briefumschlag öffnete, las er lediglich zwei Worte: „Empfänger unerreichbar.“

Joachims Sorge um seinen Freund war nun noch grösser als zuvor. Er war nicht zu Hause aufzufinden, also wahrscheinlich doch abgereist, aber nie in der Hauptstadt angekommen. Zugfahrten an sich waren sehr sicher, seitdem alle Fernzüge von bewaffneten Wachen begleitet wurden, hatte man nie wieder von Überfällen gehört. Er hatte also keinerlei Anhaltspunkte über den Standort des Professors.

Doch, einen hast du. In seinem Brief hat der Professor jemanden erwähnt, wie hiess dieser Mann noch gleich? Hof... Hofmeister, ja doch, Patrick Hofmeister.

Vielleicht hatte dieser ja von Baumgartner etwas gehört, denn schliesslich war sein ganzer Grund in die Hauptstadt zu reisen der, Herrn Hofmeister zu treffen. Aber wer war dieser Hofmeister? Joachim hatte den Namen noch nie gehört, aber er wusste wo er ihn ausfindig machen konnte.

In jedem Kreisgebäude gab es ein Einwohnerverzeichnis, eine Sammlung von Büchern in denen alle eingetragenen Einwohner der Hauptstadt vermerkt waren. Dieses Verzeichnis sollte genau dazu dienen, die Einwohner, aus welchen Grund auch immer, ausfindig zu machen. Das Nachschlagen in diesem Verzeichnis war allerdings reguliert, um die Angaben der Einwohner zu schützen. Eigentlich konnte man nur mit gutem Grund beim verantwortlichen Beamten die Informationen eines Anwohners nachfragen. Joachim wusste aber, dass dieser Beamte in seinem Kreisgebäude, Erwin Strauss, ihm einen Gefallen schuldig war, seit er ihn gedeckt hatte als man eine unentschuldigte Abwesenheit bemerkte. Erwin war auf der Suche nach einer neuen Wohnung gewesen, und um mit der grossen Nachfrage mitzuhalten, hatte er seinen Arbeitsplatz noch vor Feierabend verlassen, sodass er noch vor dem grossen Andrang vom Vorabend eine Wohnung besichtigen konnte. Dabei hatte er das Pech, dass gerade an dem Tag ein Antrag gestellt wurde, und er nicht auffindbar war. Auf seine Bitte hin gab Joachim an, er hätte Erwin zu sich ins Büro bestellt, um eine andere Anfrage aufzugeben. Dies war für die Kreisleitung schliesslich eine zufriedenstellende Erklärung, obgleich man Joachim darauf hinwies, dass er sich das nächste Mal in das Büro der Verzeichnisse begeben sollte, um den Beamten nicht von seinem Arbeitsplatz zu entfernen.

Dieses kleine Büro war im Erdgeschoss, wenig mehr als ein Kämmerlein neben den Treppen. Auf der Tür befand sich eine Aufschrift die besagte „Verzeichnisse“. In diesem Raum gab es einen Tresen, dahinter unzählige Regale voll mit allen möglichen Verzeichnissen und Nachschlagewerken die man benötigen könnte. Trotzdem war dieser Ort nur wenig frequentiert. Joachim fand Erwin Zeitung lesend hinter dem Tresen. Er stand sofort auf als Joachim herein kam.

„Ach, du bist es. Was gibt's?“, fragte Erwin.

„Ich muss dich um einen Gefallen bitten, nichts grosses, nur... kannst du mir einen Namen nachschlagen? Nur so unter uns, ohne es aufzuzeichnen.“ Eigentlich musste jede Anfrage protokolliert werden.

„Für dich sicher. Wen suchst du?“

„Einen Herrn Hofmeister. Ich weiss nichts ausser diesem Namen: Patrick Hofmeister.“ Erwin ging sofort zu einem der Bücherregale rüber und suchte von den Einwohnerverzeichnisbändern der Hauptstadt das Exemplar von G bis I aus. Ein grosses, dickes Buch, in einem blauen Einband. Er legte es auf den Tresen und suchte nach Hofmeister.

„Hofmann... Hofmark... Hofmeier...“, las Erwin die Namen vor, wie er mit dem Finger die Seite runter fuhr, „Hofmeister, da haben wir ihn ja. Gibt nur einen, 'P.' steht wohl für Patrick.“ Erwin drehte kurzerhand das Buch herum und deutete auf den gesuchten Namen, in winziger Schrift gedruckt, verloren in einem Meer von anderen Namen. Joachim sah sich die Adresse die als Arbeitsplatz angegeben war an und notierte sie sogleich auf einem kleinen Stück Papier, dass er aus einer Jackentasche kramte: Mülligenstrasse 4. Mülligenstrasse, dachte Joachim, das ist doch nicht weit von der Magistratur, eine gute Gegend. Es musste sich um einen angesehen Herren handeln.

„Alles klar, ich danke dir, Erwin“, sagte Joachim und steckte sein Papier ein, „weisst du vielleicht welche Haltestelle das ist?“

„Ich möchte meinen das ist beim Caligariplatz. Frag den Schaffner um sicher zu gehen. Sonst noch etwas?“

„Reicht schon, danke. Ich empfehle mich.“ Joachim verliess das kleine Zimmer und ging zurück zu seinem Büro, dann nahm er seinen Mantel und seinen Hut, und ging direkt zum Ausgang des Kreisgebäudes. Auf dem Weg nach draussen rief er Frau Steinach noch zu er müsse nochmal zur Kohlenverteilungsstelle, dass seine Abwesenheit keine grösseren Verdachte schöpfe. Er stieg in die erste Strassenbahn in Richtung der Adresse, die im Verzeichnis stand. Etwas an der Adresse kam ihm bekannt vor, davon abgesehen, dass diese Strasse in der Nähe der Magistratur war. Irgendwo hatte er diesen schon mal gehört, doch es kam ihm nichts und niemand in den Sinn, den er damit verbinden konnte.

Als er an der Haltestelle Caligariplatz ankam und aus der Strassenbahn stieg, wurde ihm sofort klar woher er diesen Namen kannte: Es war eine kleine Seitenstrasse, die sich gleich neben dem Hauptsitz der Bank P. Hellmer und Sohn befand. Die Fassade der Bank war direkt an der Magistraturstrasse, und die Mülligenstrasse führte senkrecht zu dieser am selben Häuserblock entlang. Der Strassennahme war ihm sicherlich bei einem Besuch im Bankgebäude aufgefallen. Joachim hatte seit seiner Beförderung schon einige Male dieses Gebäude besuchen müssen, es handelte sich schliesslich um die bedeutendste Bank im Lande Mendacia. Die Kredite von P. Hellmer und Sohn hatten die Industrialisierung im grossen Stil überhaupt erst möglich gemacht, und die Regierung hatte sich seit der Epoche des Übergangs reichlich daran bedient. Auch heute noch war der Fortschritt von dieser Bank stark abhängig, erst recht seitdem die Versorgungsmängel zu grösserer Armut und Misere geführt hatten. Somit war auch der politische Einfluss von P. Hellmer und Sohn inzwischen unverkennbar, manche sagten, dass die Bank sogar der Regierung vorschrieb wie sie zu handeln hatte, was Joachim allerdings für eine Übertreibung hielt. Schliesslich hatte er selbst einige Male geschäftlich mit der Bank verkehrt, und niemals hatte man ihm irgendwie vorgeschrieben, wie er zu handeln habe. Wenn man einem kleinen Beamten wie ihn nicht herumkommandieren konnte, dann bestimmt noch weniger die Regierung. Noch überspitzter waren die Gerüchte, die über das Innenleben dieser Bank kursierten. Manche Leute sprachen von Geisterbeschwörungen, dunklen Ritualen, schwarzer Magie und ähnlichen Ammenmärchen. Tatsächlich war die Familie Hellmer sehr diskret und nur selten traten ihre Mitglieder in der Öffentlichkeit auf. Joachim hatte nur einmal einen solchen Auftritt mitbekommen, vom Urenkel des Begründers Pelonius Hellmer, Albrecht Hellmer. Dies war als vor einigen Jahren dieses prächtige neue Gebäude eingeweiht wurde, welches das vorherige, kleinere, ersetzte, und eine Photographie dieses Ereignisses in den Zeitungen veröffentlicht wurde.

Joachim ging am Bankgebäude vorbei zur Mülligenstrasse, einer kleinen, etwas düsteren Gasse gleich daneben. Der Eingang der Nummer 4 war scheinbar Teil des selben Gebäudes wie die Bank. Joachim fragte sich, ob es sich dabei um einen Teil davon handelte, oder nur ein Zufällig dort beheimatetes Büro war. Er kam vor eine grosse, hölzerne Tür, und in der Tat war hierauf ein kleines Messingschild angebracht auf dem lediglich stand „P. Hofmeister“. Auf der rechten Seite des Eingangs hing eine Schnur mit einem kleinen Holzgriff, wohl die Türklingel. Er zog daran, und aus dem Inneren war das Geräusch einer kleinen Glocke zu hören. Eine altmodische Klingel, nicht wie die modernen, elektrischen Anlagen. Kurz darauf öffnete ein Dienstmädchen mit unfreundlichem Ausdruck die Tür: „Sie wünschen?“

„Ich denke sie haben einen Professor Baumgartner erwartet, ich –“, Joachim konnte den Satz nicht zu ende aussprechen als er vom Dienstmädchen unterbrochen wurde: „Augenblick bitte.“ Sie machte ihm vor der Nase die Tür zu, und entfernte sich von der Tür. Eine kurze Zeit später öffnete das selbe Dienstmädchen wieder die Tür. „Bitte folgen“, sagte sie genau so barsch wie vorher, kehrte Joachim den Rücken und ging hinein. Joachim machte noch die Tür zu, und lief ihr hastig hinterher. Beim eintreten kam er in einen Gang, auf der rechten Seite befand sich eine Holztreppe die nach oben führte, auf der linken Seite eine doppelte Tür mit Ornamentglas. Eine der Türen war geöffnet, und das Dienstmädchen deutete zu diesem Zimmer. „Hut und Mantel“, sagte sie noch. Joachim gab beides ab und trat ein. Er kam in einen grossen, bürgerlichen Salon. Direkt Gegenüber vom Eingang brannte im Kamin ein Feuer, auf der linken Seite war die Wand mit Bücherregalen versehen. Auf der rechten Seite gab es zwei Fenster, die Vorhänge liessen allerdings nicht nach draussen blicken. Das Zimmer war voll von Gemälden und eingerahmten Photographien von Leuten die Joachim nicht kannte. Der Boden war von einem dicken Teppich bedeckt, und in der Mitte des Raumes stand ein massiver Holztisch mit einigen prächtig gepolsterten Stühlen herum. Auf einem dieser Stühle sass ein Mann in feiner Kleidung mit einer Zigarre in der Hand. Er war schlank und nicht sehr gross, seine dunklen Haare mit Wachs gekämmt, seine Gesichtszüge kantig und markant, mit einem spitzen Kinn und kleinen, tief liegenden Augen. Er strahlte eine gewisse Präsenz aus, doch Joachim empfand ihn wenig vertrauenerweckend. Er erhob sich sofort als er Joachim hereinkommen sah und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

„Na endlich, ich bin ja so erleichtert sie zu sehen. Wir haben sie doch schon seit gestern erwartet.“ Der Mann schüttelte Joachim die Hand, er schien sehr erfreut ihn zu sehen, doch Joachim wusste nicht wieso man ihn erwarten würde, oder was er überhaupt sagen sollte.

„Nun, hier bin ich ja, guten Tag“, platzte es aus ihm heraus, „Herr Hofmeister, nehme ich an?“

„Zu ihren Diensten. Ich hatte schon gedacht sie kämen gar nicht mehr. Darf ich ihnen etwas zu trinken anbieten?“

„Nun... Tee wäre gut. Schwarztee, wenn möglich.“

„Nichts alkoholisches, den Verstand wach halten, was?“, sagte Hofmeister und lächelte schleimend, „Wilhelmina, bitte einen Schwarztee für Professor Baumgartner.“ Als Joachim dies hörte verstand er plötzlich was vor sich ging, das Dienstmädchen hatte ihn scheinbar missverstanden, und gedacht er sei Professor Baumgartner. Seine erste Reaktion war es, das Missverständnis aufklären zu wollen, doch die Neugierde war stärker, er wollte doch wissen worum es sich bei diesem Treffen handelte. Vielleicht konnte er ja so etwas darüber herausfinden, wo der echte Professor Baumgartner abgeblieben war.

Was soll das, dich als Professor Baumgartner auszugeben? Bist du von Sinnen? Das hier ist nicht ein Betriebsfest, sondern eine wichtige, einflussreiche Person, kein Wicht wie du. Einen riesigen Ärger wirst du dir mit solchen Maskeraden suchen. Man wird dich sogleich durchschauen.

„Aber bitte, fahren sie fort“, sagte Joachim im Versuch aus Hofmeister herauszubekommen worum es bei diesem Treffen eigentlich ging.

„Natürlich, sie sind ja ein beschäftigter Mensch. Wie sie ja wohl erfasst haben, ist uns ihre vielversprechende Arbeit zu Ohren gekommen, und wir bei P. Hellmer und Sohn können uns natürlich nicht erlauben, den Anschluss zu den fortschrittlichen Errungenschaften zu verlieren. Wir haben bisher– ah, ihr Tee.“

Das Dienstmädchen Wilhelmina brachte eine kleines Servierbrett mit einer Kanne Tee und einer Tasse, beide aus feinstem Porzellan, mit minutiös gemalten Ornamentierungen und mit Gold versehenen Rändern. Joachim schenkte sich ein während er Hofmeister weiter zuhörte.

„Wie ich sagte, wir haben bisher grosse Investitionen in den technologischen Fortschritt getätigt, aber wir müssen natürlich viel stärker durchgreifen und direkt die Entwicklung neuer Technologien fördern. Als wir natürlich von ihrem Projekt erfahren haben, konnten wir uns das nicht entgehen lassen. So eine Errungenschaft wäre ein Wendepunkt unserer Zivilisation!“

„Sie wollen mich also für sich anheuern, ja?“ sagte Joachim dazwischen um den Eindruck zu geben er wüsste worum es sich hier handelt. Nun wurde Hofmeister ernst. Er lehnte sich zu Joachim herüber.

„Ich habe sie hergebeten weil das natürlich unter uns bleiben muss“, sagte er leise, „habe ich ihr Wort dafür?“

„Selbstverständlich, das verlässt diesen Raum nicht“, versicherte ihm Joachim, und begann seine Krawatte mit den Fingern zu kräuseln.

„Wir wollen sie, und ihr ganzes Projekt für uns. Es ist uns bewusst, dass das rechtswidrig ist, aber so eine Situation verlangt es, das Gesetz zu biegen. Gesetze sind ja bekanntlich da um gebrochen zu werden, nicht?“ Er lachte, Joachim spielte mit, obwohl er diesen Mann immer abstossender fand, je mehr er sprach.

„Wir wollen alles über ihren bisherigen Fortschritt wissen, und über den Prototyp. Ja, wir wissen von diesem. Sie arbeiten derweil weiter, aber halten uns auf dem laufenden. Womöglich werden wir eventuell das Projekt gänzlich übernehmen. Sie werden dann natürlich die Leitung übernehmen. Und auch jetzt sollen sie fürstlich entlohnt werden. Wir wollen sie rundum versorgt. Geld spielt überhaupt keine Rolle.“

Joachim wurde immer nervöser. Es ging hier offensichtlich um sehr heikle Angelegenheiten, die Bank P. Hellmer und Sohn wollte das Forschungsprojekt von Professor Baumgartner ausspionieren und übernehmen. Wenn diese allmächtige Bank das nicht auf gesetzliche Weise tun konnte, lag es nahe, dass die Forschung für die Regierung strategische Wichtigkeit besass. Ansonsten war es ja nicht unüblich, dass Forschungsprojekte gekauft und verkauft wurden. Wahrlich war jemand der offen davon sprach, auf diese Art vorzugehen, wohl kaum einer, mit dem zu spassen wäre.

„Das ist ein gutes Angebot, ohne Zweifel. Aber sie wissen dass ich mir hier Feinde machen würde,“ sagte Joachim um die Konversation weiterzuführen.

„Wir würden uns um all das Kümmern, sie wären eine der wichtigsten Anlagen für uns. Wir sehen sogar vor dass in schon baldiger Zeit unser Einfluss viel weitreichender sein könnte als bisher. Sie wollen doch sicher auch an diesem Unternehmen Teil haben? Denken sie daran, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.“ Joachim wusste nicht, wie er weitermachen sollte, ohne sich irgendwie zu verplappern.

„Erlauben sie mir doch ein Paar Tage um über ihr Angebot nachzudenken“, sagte er schliesslich. Hofmeister war enttäuscht, gar etwas verärgert über diese Antwort. Er lehnte sich zurück und sprach nun mit Arroganz.

„Wie sie wünschen. Aber bedenken sie dass es in ihrem Interesse wäre mit uns zusammenzuarbeiten. Ich werde vorerst weiterhin hier für sie auffindbar sein. Aber ich weiss nicht wie lange unser Angebot noch andauert. Wir haben ja auch noch andere Interessenten.“

„Ich werde ihnen sofort mitteilen sobald ich eine Entscheidung getroffen hätte. Jetzt müsste ich aber weiter, ich habe noch eine Verabredung.“ Joachim wollte so schnell wie möglich verschwinden, er war schon viel zu tief in etwas drin, was ihn nichts anging. Je weiter er es treiben würde, desto eher könnte er sich verraten. Er erhob sich und machte Anstalten zu gehen. Hofmeister rief das Dienstmädchen: „Wilhelmina, den Hut und den Mantel vom Professor, bitte.“ Als Joachim die Tür öffnete stand Wilhelmina auch schon gleich bereit, immer noch mit demselben unfreundlichen Gesichtsausdruck. Joachim zog sich seine Sachen an und ging zur Eingangstür. Ihm nach kam Hofmeister.

„Ich hoffe sie dann bald wieder zu sehen, Professor Baumgartner. Und hoffentlich mit einer positiven Rückmeldung.“

„Bestimmt. Ich danke ihnen für die Einladung und das grosszügige Angebot. Auf bald.“

„Auf wiedersehen.“

Joachims Herz raste als er zurück zur Strassenbahn lief, doch gerade als er in den Wagen einsteigen wollte hielt er inne.

Du kannst es nicht dabei belassen. Dieser Mann weiss offensichtlich sehr viel über den Professor und seine Arbeit, du könntest Anhaltspunkte über seinen Verbleib herausbekommen. Du kannst den Professor nicht einfach im Stich lassen.

Joachim machte kehrt. Dutzende Sachen fielen ihm ein die er hätte sagen können um etwas mehr über die Arbeit von Professor Baumgartner zu erfahren, oder seine Beziehung zu diesem Hofmeister, oder irgend etwas, was ihm einen Anhaltspunkt darüber geben könnte, wo seinem Freund abgeblieben war, wieso er nie in der Hauptstadt angekommen war, wie er sowohl ihm wie offenbar auch diesem Herrn Hofmeister angekündigt hatte. Joachim fiel ein, wenn Baumgartner auf Einladung Hofmeisters hatte kommen wollen, es auch einen Briefwechsel zwischen den Beiden gegeben haben musste. Vielleicht war aus diesen Briefen ein Anhaltspunkt zu erfassen, aber dafür müsste er erst an diese Briefe kommen. Vielleicht einbrechen und die Briefe suchen?

Der anständige Joachim will jetzt ein solches Verbrechen begehen, Joachim der sich immer an die Regeln hält. Professor Baumgartner wäre sehr enttäuscht wenn er erfahren würde was du hier zu tun vermagst. Und wenn die Wachen dich erwischen sollten... dann kannst du lange Zeit im Kerker schmoren. Kommst vielleicht sogar in die Minen von Severinstadt...

Professor Baumgartner hatte Joachim zu seiner Studienzeit sehr geholfen, als er sich selbst in einer schwierigen Situation befand. Joachims Familie hatte Geldprobleme, nachdem eine Dürreperiode mehrere Ernten zerstört hatte, und sie konnten mit den Kosten von Joachims Studium kaum mithalten. Professor Baumgartner hatte Joachim damals bei sich zu Hause aufgenommen, damit er sich die Pensionskosten sparen könnte. Baumgartner lebte in einem grossen Anwesen, alleine seit dem Tode seiner Frau, Jahre zuvor. Auch Kinder hatten sie nie gehabt, stattdessen hatte er Joachim warmherzig bei sich aufgenommen, und wie seinen eigenen Sohn behandelt. Aus dieser Zeit entstand eine tiefe Freundschaft zwischen den Beiden, die auch lange Zeit danach anhielt. Obwohl der Briefwechsel manchmal etwas lethargisch wurde, fanden beide doch immer wieder Zeit, sich gegenseitig zu Besuchen, Professor Baumgartner in Severinstadt, und Joachim später dann in der Hauptstadt. Joachims erfolgreicher Studienabschluss und anschliessende Beschäftigung als Beamter hatte es ihm ebenfalls erlaubt seinen Eltern einen zu einem gemütlichen Lebensabend zu verhelfen. Der Gedanke, seinen alten Freund jetzt so zu verlieren, bedeutete für Joachim dass eine Welt einstürzte, schon deshalb wollte er, auch entgegen seiner rationalen Vernunft, unbedingt herausfinden was zwischen Baumgartner und Hofmeister besprochen worden war.

Joachim stand eine weile Lang auf der anderen Strassenseite und betrachtete das Gebäude von P. Hellmer und Sohn gegenüber, und die kleine Mülligenstrasse nebenan. Hofmeisters Räumlichkeiten waren wahrscheinlich mit dem Bankgebäude verbunden, doch sowohl der Haupteingang wie der Eingang von der Mülligenstrasse waren ausgeschlossen. Allerdings musst es noch einen Diensteingang geben. Alle herrschaftlichen Häuser hatten einen Diensteingang, damit die Bediensteten und Lieferanten nicht den Haupteingang verwenden mussten. Joachim ging über die Magistraturstrasse, lief erneut durch die Mülligenstrasse und sah sich um. Tatsächlich war ein Stück weiter vorne vom Eingang zu Hofmeisters Anwesen eine kleine Abzweigung, die in eine enge, dunkle Sackgasse führte, die in das Gebäude eingelassen war. Dort befanden sich die Abfallkübel und sonstiger Unrat, und daneben eine dunkle Metalltür. Ohne Zweifel der Diensteingang. Von aussen allerdings nur mit einem Schlüssel zu öffnen. Joachim suchte ein kleines Stück Holz aus dem Abfall, der nicht unweit des Diensteinganges abgelegt wurde. Dann stellte er sich, einige Meter weiter, hinter der Ecke des Gebäudes, wo er von den Bediensteten nicht entdeckt würde, aber sofort hören könnte, wenn jemand aus dem Gebäude käme. Er wartete lange, stundenlang kam es ihm vor. Es war schon dunkel als er endlich das quietschen der sich öffnenden Metalltür hörte, ein Diener kam aus dem Haus kam um Abfall zu entsorgen. Joachim hörte wie er etwas in die Abfalltonne leerte, und dann zurück zur Tür ging. Er ergriff den Moment, und schlich an der Wand entlang zum Diensteingang. Er schaffte es knapp das Stück Holz dass er zuvor aufgesammelt hatte in die Tür zu klemmen, sodass sie, für den Bediensteten unbemerkt, nicht ins Schloss fiel. Mit etwas Glück würde niemand bemerken, dass die Tür einen Spalt offen geblieben war. Joachim wartete einige Minuten bis er sicher war das niemand kam, und betrat schliesslich das Gebäude.

Er kam in einen Raum, der nach einer Waschküche aussah, das Licht war allerdings aus und machte es schwer, alles genau auszumachen. Joachim ging zur Tür die in den Gang führte, als er stimmen hörte. Es klang nach Hofmeister und dem Dienstmädchen, das ihn zuvor hineingeführt hatte.

„Haben der Herr sonst noch einen Wunsch?“, fragte sie.

„Nein. Sie dürfen sich zurückziehen. Ich habe noch zu tun, und ich möchte auf keinen Fall gestört werden“, antwortete Hofmeister.

„Jawohl, Herr Hofmeister“, antwortete das Dienstmädchen Wilhelmina. Dann hörte er ihre Schritte, sie ging bis zur Treppe, dort öffnete sie eine Tür darunter und ging hinein, sie führte wohl in die Zimmer des Dienstpersonals im Keller, wie es üblich war. Während er dies gehört hatte, hatten sich seine Augen etwas besser an die Dunkelheit gewöhnt, und sogar ein Paar Kerzen entdeckte er, die in einer Kartonschachtel auf einem Regal lagen. Die letzten Lichter im Erdgeschoss gingen aus, und er hörte Hofmeister die Treppe hinauf gehen. Joachim ergriff nun seine Chance und ging weiter hinein, zuerst in den Salon wo er sich mit Hofmeister getroffen hatte. Sein Herz klopfte bis zum Hals, trotzdem zündete er so leise wie möglich ein Streichholz an, und damit die Kerze. Er sah sich in diesem Zimmer um, doch es schien keinerlei Kommoden, Schubladen oder ähnliches zu geben wo Briefe aufbewahrt sein könnten. Lediglich ein Regal voller Bücher. Als nächstes versuchte er es im Zimmer am ende des Flurs, doch als er sah dass es sich um ein Esszimmer handelte ging er gleich wieder zurück. Nein, die Briefe waren bestimmt in einem Arbeitszimmer, und dieses war nicht hier im Erdgeschoss. Er musste die Treppen hinauf.

Joachim blies die Kerze aus, um weniger auffällig zu sein, dann ging er so leise er konnte die Treppen hinauf. Manche Stufen quietschten ein wenig, bei jedem Quietschen raste ihm das Herz in der Furcht, dass jemand ihn bemerken würde. Am Ende der Treppe war ebenfalls ein Flur wie im Erdgeschoss, allerdings mündete in diesem ein weiterer Gang der in Richtung des Gebäudes von P. Hellmer und Sohn führte. Genau wir Joachim es vermutet hatte, waren diese Gebäude verbunden. Es gab mehrere Zimmer hier, sicherlich nicht einfach herauszufinden, welches jetzt das Arbeitszimmer von Hofmeister wäre. Joachim ging erkundete erst mal diesen anderen Gang, er führte zu einem grossen Treppenhaus in welchem die Treppen in Form einer viereckigen Spirale hinaufführten, und in der Mitte einen grossen Schacht frei liessen, der sich durch das ganze Gebäude erstreckte. Er erkannte sofort, dass dies die grosse Treppe im Hauptsitz der Grossbank war, den er einstmals schon besucht hatte. Wenn Joachim sich an das Geländer lehnte konnte er alle Etagen des Gebäudes von diesem Treppenhaus sehen. Dabei fiel ihm auf das zwei Stockwerke weiter oben Licht brannte, allerdings nicht das helle, konstante Licht elektrischer Lampen, sondern ein rötlicher, flackernder Schein, wie von einer Öllampe. Solche waren geläufig, vor allem ärmere Haushalte und Stadtviertel hatte man noch nicht mit elektrischem Strom ausgestattet, aber das wäre ja nicht bei P. Hellmer und Sohn der Fall, immerhin handelte es sich hier um die wichtigste Bank im Land. In der Stille des Treppenhauses konnte Joachim ein Geräusch ausmachen, dass aus diesem Raum zu kommen schien, ein sehr merkwürdiges Geräusch, es klang nach einer Phonographenaufnahme eines Chors, aber tief, dissonant, unschön. Joachims Neugierde verstärkte sich noch mehr.

Du kannst jetzt nicht weg. Dort oben geht etwas ungewöhnliches vor sich, und du musst wissen was es ist. Du musst wissen, was in dieser geheimnisvollen Bank nach Einbruch der Dunkelheit geschieht. Du hast den Gerüchten über diesen Ort niemals Glauben schenken wollen, denn es waren doch alles nur Ammenmärchen. Und jetzt soll dir wohl das Gegenteil bewiesen werden.

Entgegen aller Vernunft lief Joachim geräuschlos die steinerne Treppe hinauf, und schlich dann, immer an der Wand lang, bis zur Tür des Zimmers, aus dem dieses Licht kam. Er schaute um die halb geschlossene Tür direkt ins Zimmer hinein. Das Bild das er dort zu sehen bekam übertraf jedmögliche Vorstellung.

Ein grosser runder Holztisch stand in der Mitte des Raumes, um diesen herum sassen mehrere gut bekleidete Männer. Der Raum war nicht mit Öllampen sondern mit Kerzen beleuchtet, vielen Dutzenden davon. Auf dem Tisch war mit roter Farbe ein Symbol gemalt, es sah aus wie ein Kreis mit einem Auge in der Mitte aus welchem acht schlängelnde Linien entsprangen. Es erinnerte an eine Krake mit ihren acht Tentakeln. Doch es war schwer das Symbol genau zu erkennen da der ganze Tisch mit dem Blut eines Menschen beschmiert war, der wie ein Tierkadaver im Schlachthaus, mit einem grossen Metallhaken, der mitten in den Rücken ragte, über der Mitte des Tisches aufgehängt war. Der Körper war auf der Vorderseite vom Hals bis zum Bauch aufgeschnitten, und das Blut tropfte noch daraus. Die Leute, die um den Tisch sassen, hatten vor sich jeweils einen Holzkelch, aus dem sie etwas tranken, könnte es das Blut sein, welches sie diesem Menschen entnommen hatten? Einer der Anwesenden rezitierte etwas auf einer Sprache, die Joachim nicht verstand. Als einen dieser Männer erkannte er niemand anderen als Hofmeister, und ein anderer schien – nein, das konnte nicht sein, aber doch – ein Mitglied der Magistratur zu sein. Die Magistratur, die oberste Kammer der Regierung, bestand aus sieben Magistraten die alle politische Macht von Mendacia in sich vereinten. Und einer davon war tatsächlich Teil dieses abscheulichen Rituals.

Joachim wurde schwindelig und übel von diesem grässlichen Anblick, doch er hatte auch Mühe sich abzuwenden, der Schrecken übte eine grausame Anziehung auf ihn aus. Plötzlich traf sich sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde mit dem von Hofmeister. Er schreckte sofort zurück hinter die Tür, wo man ihn nicht sehen konnte, aber er war sich sicher dass Hofmeister ihn bemerkt hatte. Ob er wohl erkannt worden war? Oder war der Gang zu dunkel, um von Hofmeister identifiziert zu werden? Joachim wollte die Überlegung nicht auf die Probe stellen, und raste so schnell er konnte die Treppe herunter, und durch das Dienstzimmer nach draussen. Die Eile um aus diesem Gebäude raus zu kommen war ihm jetzt wichtiger als den Lärm beim laufen zu vermeiden. Er lief schnurstracks zur Hauptstrasse, wo er sogleich auf die erste Strassenbahn aufsprang, ohne überhaupt darauf zu achten in welche Richtung sie überhaupt fuhr. Hauptsache, Weg von diesem Ort.

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