Erdoğans Trümpfe: Dass Europa vor der Türkei kuschen muss, ist nicht Merkels Schuld

Wenn ich etwas nicht verstehen kann, dann die Kritik daran, dass Angela Merkel als deutsche Bundekanzlerin vor dem türkischen Präsidenten Erdoğan „kuscht“ (wie zum Beispiel die Zeit schreibt). Denn dass Merkel gegenüber Erdoğan momentan nicht sonderlich viele Asse im Ärmel hat, dass Deutschland und Europa auf die wohlwollende Kooperation der Türkei angewiesen sind, das ist die Schuld vieler – aber am allerwenigsten ist es die Schuld von Merkel.

Der Deal mit der Türkei ist der hauptsächliche Grund dafür, dass die Zahlen der geflüchteten Menschen, die nach Europa kommen, in den vergangenen Wochen stark zurückgegangen ist. Und so ist das nun einmal in internationalen Beziehungen: Wenn man von der Kooperation der Gegenseite abhängig ist, kann man ihr gegenüber nicht beliebig auftrumpfen.

Angela Merkel hat diese Situation nicht gewollt. Um uns kurz zu erinnern: Sie hat dafür geworben, fast als einzige bedeutende Politikerin, dass Europa mehr Flüchtlinge aufnimmt und ist in Deutschland mit gutem Beispiel voran gegangen. Doch die anderen europäischen Länder haben ihr die kalte Schulter gezeigt, sie nehmen nur lächerlich kleine Zahlen von Geflüchteten auf. Aber auch ihre eigene Partei und viele ihrer Verbündeten sind ihr in den Rücken gefallen. Die rechtspopulistische AfD hat hohe zweistellige Wahlerfolge gefeiert, die CDU verloren.

Merkel blieb also gar nichts anderes übrig, als Deals mit der Türkei einzugehen. Aber ihre Schuld ist das nicht. Es ist die Schuld all derer, die eine humanitäre europäische Lösung der Flüchtlingsfrage verhindert haben. Der Grund, dass Europa Erdoğan Honig um den Bart schmieren muss, liegt an unserem eigenen Versagen in der Flüchtlingsfrage.

Merkel ist keine Zauberin, sie muss in internationalen Verhandlungen wie alle anderen auch die jeweiligen Machtverhältnisse berücksichtigen. Es ist nicht ihre Schuld, das Erdoğan im Verhältnis zu Europa momentan Oberwasser hat. Aber da er es nun einmal hat, muss Merkel sich sehr genau überlegen, bei welchen Themen es sich lohnt, den Kampf aufzunehmen und Erdogan klare Grenzen zu setzen, und bei welchen Themen es besser ist, ihm entgegenzukommen.

Und ich an ihrer Stelle wäre über eine so lustvoll mit rassistischen (und speziell: anti-türkischen) Stereoptypen spielende „Satire“ wie die von Jan Böhmermann extrem genervt. Weil sie schlicht und ergreifend Erdogan noch mehr Munition liefert. Der kann sich jetzt als Opfer aufspielen, als Retter der türkischen Ehre. Und auch wenn wir ihn hier alle lächerlich finden, im eigenen Land hat er viel Zustimmung. Die Causa Böhmermann hilft ihm, noch mehr Zustimmung zu bekommen und von den eigentlichen Skandalen seiner Politik abzulenken. Prima gelaufen.

Natürlich muss Merkel mit sowas leben, es ist nicht die Aufgabe von Comedy und Satire, ihr internationale Verhandlungen zu erleichtern. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass Angela Merkel gegenüber der Türkei bei denjenigen Themen Standfestigkeit zeigt, die wirklich wichtig sind: zum Beispiel zu verhindern, dass türkische Soldaten auf Flüchtlinge schießen.

Deshalb finde ich es völlig in Ordnung, dass Angela Merkel die paar guten Karten, die sie Erdogan gegenüber in der Hand hat, nicht ausgerechnet dafür verwendet, Jan Böhmermann ein Strafverfahren zu ersparen. Ob seine in Anführungszeichen gesetzte Schmährede gegen Erdoğan die Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten hat oder nicht, das können nämlich sehr gut die deutschen Gerichte entscheiden. Dafür sind sie ja da.

shutterstock/Frederic Legrand - COMEO

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