(B)Rexit: Keep calm and, well, just keep calm

Der Sommer ist zwischenzeitlich vorbei, ich kann wieder schreiben. In der Auseinandersetzung mit dem überraschenden Brexit sieht man realpolitisches Ärgernis, populistische Muskelzerrung und historisches Delirium in den Hauptrollen. Die Emotionen aller Seiten - es sind mindestens drei - sind wohl nicht nur gespielt, sind verständlich, aber mir Vorsicht zu genießen. Schnell könnte die eine Populismus-Falle in die nächste führen, vor allem dort, wo jetzt so getan wird, als hätte man damit nichts zu tun.

Die erste Seite: Die ist weniger das Vereinigte Königreich, viel mehr England als dessen dominierender Teil. Gekränkte Geschichtsträchtigkeit: Sie verstärkt die EU-Skepsis, die man auch woanders findet. Man muss sich nur englische Fußballfans anschauen. Sie und die russischen haben sich während der EM gefunden. Zwei ehemalige Supermächte mit zu vielen Männern, denen Zärtlichkeit und Anerkennung fehlt.

Neoliberalismus als Vater des modernen Populismus (Ausverkauf des Sozialen und die Kommerzialisierung des Asozialen)

Wie auch? Die Mutter des Populismus, der in den Abgrund führt, ist eine Wirtschaftspolitik, die u.a. vom Ausverkauf sozialer Gefüge und menschlicher Empathie lebt - berüchtigterweise in und von der City of "Money-Londonering" (blöder Wortwitz) aus.

Wer bremst verliert. Wer an Konsequenzen für Mitmenschen denkt, kann keine Karriere an den Börsen dieser irren Welt machen. Es begann ungefähr mit den Achtzigern. Es endet heute im Brexit. Sie haben die Masse wieder so weit gebracht: Über Jahrzehnte verzogen von Reklame und Demagogie, ist sie vor allem emotional und geisteskulturell verarmt. Nur so macht die Sinnlosigkeit des Brexit Sinn. Sie führt direkt und erklärend zur Reaktion...

Die EU ist nichts für faule Säcke

...der zweiten Seite: In der EU gibt es - abgesehen von der "deutsch-französischen Freundschaft" - nicht wenige, denen die arrogante Distanz und Rosinenpickerei des popigen Britentums seit langem auf die baked beans geht. Als wäre das englische "Come-One-Wealth" (auch nicht besser) ein konkurrierendes Modell zur Europäischen Union. Oder ein Widerspruch.

Man muss 2016 nicht mehr vom Great Empire träumen, als man den Rest Europas vom Meer aus übervorteilen konnte. Großbritannien kam lange alleine über die Runden, dank der Ausbeutung seiner Kolonien inklusive Irland (also eben nicht wirklich alleine). Es scheint daher leichter zu sein, seinem Volk weiterhin diesen Traum zu verkaufen, als sich mit Brüssel und Straßburg auseinandersetzen zu müssen. Die EU bedeutet vor allem politische Schwerarbeit, während Profi-Populismus das Handwerk der faulen Säcke ist. Darin sind die britischen Rechten nicht alleine Europa, aber sie gingen bisher am weitesten. So weit, dass sie nach angerichteter "Arbeit" das Weite suchen.

Die Vernunft der historischen Opfer

Man kann sich also eine gewisse Schadenfreude nur schwer verkneifen, sollte es aber tun. Wie gesagt, emotional ist alles verständlich; gerade die Ungeduld der zentralen EU-Mitglieder. Blicken wir daher schnell zur dritten Seite: In Schottland und Nordirland - weniger in Wales - will man nicht mit dem UK aus der EU steigen. So wie die englische Arroganz historisch zu begründen ist, wäre es auch eine erneute Rebellion der Iren und Schotten gegen die Regierung in London. Die hat ihnen im Laufe der Geschichte und egal in welcher Staatsform sehr viel Leid zugefügt. Und jetzt verdanken sie ihr auch noch das Ausscheiden aus der EU.

Stimmen die alten Hassliebhaber nun aber in den Chor der Enlgand-Basher ein, wie es emotional verständlich wäre? Im Gegenteil. Es sind gerade die Staatsspitzen Schottlands und Irlands, Nicola Sturgeon und Enda Kenny, die sich für einen verständnisvollen und verstand-orientierten Umgang mit England und seinem Brexit einsetzen.

Der gute Egoismus

Das hat natürlich auch gute egoistische Gründe. Die gesamte Region profitiert von den Handelsbeziehungen mit der EU. Aber auch neue Grenzen quer durch die Inseln braucht kein Schaf. Das hochverschuldete, arme Sorgenkind Nordirland wäre bei schwächelnder englischer Wirtschaft und mehrheitlich katholischen Brexit-Gegner_innen besonders negativ betroffen. Es ist noch nicht so lange her, da war eine Belfast Carbomb nicht einfach nur ein abenteuerlicher Cocktail im Irish Pub, sondern blutige Realität.

Der gälische Egoismus ist daher genauso vernünftig wie der Egoismus aller EU-Mitglieder, die wissen, dass sie in der Gemeinschaft eher profitieren als draufzahlen. Ich könnte daher schreiben, dass man das überheblich-dumme England - und damit die gesamten britischen Inseln - nicht bestrafen sollte. Aber allein der Gedanke bzw. das Gefühl einer Strafe ist unsinnig und lediglich das Spiegelbild der gesamten Brexit-Problematik.

England-Bashing ist auch nur Populismus

Ganz Europa ist gekränkt, durch eine kranke Welt, die es selbst maßgeblich mitgeschaffen hat. Die beleidigten Reaktionen und der Druck durch die EU auf London sind nicht nur notwendige Verhandlungsbasierung. Die erhobenen Stinkefinger in Richtung London entspringen auch wahltaktischem Populismus - um Härte und Macht zu demonstrieren, damit sich die französischen und deutschen Wähler_innen in der nationalistischen Seele wieder ein bisserl erhaben, überheblich oder erheblich fühlen können. Die züchtigende Rhetorik gegenüber dem UK wurzelt im selben verseuchten Dreck wie der letzte Propagandakrieg gegen Griechenland oder eben die EU-feindlichen Lügen von Nigel Farage und Boris Johnson.

Außerdem: Würden wir das UK bestrafen, würden wir nicht Hauptveranwortlichen treffen. Die haben sich schon aus der Verantwortung verkrümelt. Auch wenn man zugeben muss, dass gerade ein demokratisches Volk gelegentlich eine G'nackwatschen von der politischen Realität benötigt, die es in seiner unermesslichen Blödheit immer wieder wählt.

Beleidigte Leberwürste machen gepickte Rosinen nicht besser

Dennoch kann die EU kein Interesse an einem benachteiligten, wirtschaftlich schwächelnden Vereinigten Königreich haben, gerade dann nicht, wenn es Schottland und vielleicht sogar Nordirland in der Union halten will. Die EU sollte sich also unbedingt ein Beispiel an der Lady und dem Gentlemen aus Edinburgh und Dublin nehmen. Beleidigte Leberwürste sind nämlich genauso unappetitlich wie Rosinenpicker.

Die EU hat kein Problem mit Norwegen (und seinen reichen Ölvorkommen). Die Schweiz hat so viele Handelsabkommen und multilaterale Verträge mit Resteuropa, da fehlte zur EU-Mitgliedschaft auch nicht mehr viel (unsere hinterzogenen Steuern haben sie auch schon). Die Tatsache, dass die Mehrheit der englischen Brit_innen nicht Teil unserer politischen Gemeinschaft sein will, muss unsere Handels- und andere Beziehungen nicht schwächen. Weil wozu? Davon haben auch wir nichts. Und das UK wird - mit oder ohne Schottland - nicht morgen von der Landkarte verschwinden. Es bleibt unser Nachbar.

Unsere eigenen Rechtspopulisten beachten

Die übrige EU-Bevölkerung sollte also darauf achten, dass seine gewählten Populist_innen nun, vor lauter Wahlkampf- und sonstiger Emotionaltät, nicht auf die Idee kommen, ähnlichen Schwachsinn zu riskieren wie Cameron. Man muss hierfür nur auf die Details in den Reden der weniger gewählten FPÖ und des Team Stronach achten.

So will die Rhetorik H.C. "Rache" Straches andeuten, dass irgendwelche Anderen von Außen alles in der EU kontrollierten. Hört sich nur richtig an, wenn man nicht mehr weiß als er vorgibt zu meinen. Z.B.: beruhten die für Österreich erkennbaren flüchtlingspolitischen Folgen - auf denen er erneut herumhackt, weil ihm nix besseres einfällt - nicht auf Entscheidungen der EU, sondern auf jenen einzelner Staaten.

Die EU sind wir

Und zumindest der Kickl weiß, dass die EU kein Fremdkörper ist. Die Kommission wird von nationalen Regierungen gestellt, im europäischen Rat beschlossen, der aus den selben Regierungen besteht, die genauso von den europäischen Völkern gewählt werden, wie das europäische Parlament. Und gerade die Flüchtlingskrise zeigt, dass die EU ohnehin das ist, was sich Strache & Co wünschten: Eine Wirtschaftsgemeinschaft deren politische Kooperation darüber hinaus nach Bedarf gekappt werden kann. Kickl und der Team-Stronach-Typ wissen auch ganz genau, dass Euro (und Pfund) nicht eh immer schon schwächeln und dass der rassante Sturzflug der Börsenkurse nicht rein zufällig mit dem Brexit zusammenfiel.

Sie wissen's, aber sie setzten die Unwissenheit ihrer potenziellen Wähler_innen voraus, denen sie den ganzen verlogenen Schwachsinn vielleicht verkaufen könnnen. Vielleicht auch nicht mehr. Wollen wir hoffen, dass das Brexit ein paar Augen öffnet.

Mit Lässigkeit gegen das "Rexit"

Nicht missverstehen: Ich halte es nicht für falsch, dass die EU, also wir, das United Kingdom nicht anbettelte zu bleiben, ihm keine weiteren Rosinen unter die hohe Nase hielt. In einer Gemeinschaft sollte man einander grundsätzlich nicht anbetteln müssen. Aber wir sollten jetzt, bei den After-Brexitverhandlungen, die selbe Lässigkeit praktizieren wie vor dem Brexit. Es könnte ansonsten schnell passieren, dass die EU beim Blutlecken einen eigenen "Rexit" hinlegt - einen Exit of Reason.

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Jake Ehrhardt

Jake Ehrhardt bewertete diesen Eintrag 13.07.2016 11:41:51

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