Das Ich & die Medien: Viel Provokation, wenig Reflexion

Die Online-Gesellschaft in der Echokammer

Armut, Desinformation, Hass, Neofaschismus: Das Wichtigste hierzu ist gesagt. Gut nachzulesen u.a. bei Carolin Emcke, die dieses Jahr mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Im Zusammenhang von Hass im Netz ist auch der Begriff der "Echokammer" interessant. Diese richtet man sich im Internet nach und nach ein, auch ohne es zu beabsichtigen. Die Programmierung der Suchmaschinen liefern uns die Inhalte, die uns mit hoher Wahrscheinlichkeit gefallen, weil das wiederum die potenziellen Klickzahlen erhöht. Und mit Klicks wird online Geld verdient. Das heißt: Irgendwann bekommt man von Google, Facebook, YouTube & Co nur noch die eigene Meinung widergespiegelt. Alternativen werden heraus gefiltert, weil sie voraussichtlich keine Klicks bringen.

Man kennt das ja von Pornoseiten (außer mir natürlich!): Hat man sich einmal verschrieben, tauchen Bilder von Aktivitäten auf, von denen man nicht einmal gealpträumt hätte, dass sie ein Fetisch sein könnten. Das Problem betrifft also nicht nur Menschen mit einseitigem Suchverhalten.

"Nazis" vor dem Nichts

Ich überlege Weiteres. Die wehleidige Defensive der Populistinnen und Extremisten, die zugleich als Angriff zu verstehen ist, ist mehr als eine rhetorische Verdrehung des Opferstatus. Man stelle sich vor, man würde ihnen die Verschwörungstheorien, pseudowissenschaftlichen und ahistorischen Vorstellungen von der Welt und dem Selbst darin nehmen – wie Rassismus, Deutschtum, Dschihadismus, Sowjetnostalgie. Ich befürchte, dann würde, in den meisten Fällen, kaum Gedankengut übrig bleiben. Ein solches ist natürlich notwendig für eine Identifikation des Ichs. Wenn zu wenig Gedanken-Grund vorliegt, stürzt das Ich-Gebäude in sich zusammen. Das Ego wäre damit aufgelöst bzw. orientierungslos schwebend in einem leeren Raum. Und wer will das schon?

Es ist also kein Wunder, dass gewisse Personen – die an beiden Polen der politischen Landschaft zu finden sind – an ihren Vorstellungen festhalten, selbst wenn man ihre Argumente offensichtlichst faktisch widerlegt. Die Gefahr, das Gedankengut loszulassen, durch das sie möglicherweise bereits seit ihrer Kindheit oder frühen Jugend, ältere Generationen spätestens seit den „sozialen Netzwerken“ geprägt sind, zwingt sie dazu. Ihre Vorstellungen, die sie umso mehr als einzig realistische und politisch vernünftige verteidigen, sind quasi Zwangsvorstellungen.

Für ganz Links und ganz Rechts ist Putin nix Schlecht's

Es lässt sich in den "sozialen Netzwerken" – diesem fekaliendurchsetzten Brainstorm aller angeleinten Kommunikatonswilligen – gut beobachten: Da gibt's Linke, die sich nicht kritisch mit der Geschichte des "Realsozialismus" oder Hugo Chávez auseinandersetzen können. Es gibt Rechte, für die können Strache, Orbán oder Trump nichts Falsches sagen, egal was sie sagen. Der historische Faschismus wird zwar als schlimme Zeit bezeichnet, aber genauer will man nicht darauf eingehen, warum er so schlimm war. Man kann es nicht, man ist ideologisch paralysiert und dadurch selbst-entmündigt. Gewisse Linke wie Rechte sind sogar gleichermaßen unfähig, Putin zu kritisieren. Im Gegenteil: Sie attackieren alle, die so freundlich sind, es ihnen abzunehmen.

Mediale Zwangsstörung und Fantasy-Rollenspiele

Die britische "Daily Mail" erklärte jene Richter, die urteilten, dass das Parlament beim Brexit mitzupalavern hätte, zu "Enemies of the people", also Volksverrätern. Hier muss man vermutlich schon von Zwangsstörung sprechen. Und vielleicht ist Faschismus – und alle seine Begleiterscheinungen auch früher Stadien – nichts anderes. Eine Selbstaufgabe des werdenden denkenden Wesens, eine Unterwerfung unter die herrliche Wahnvorstellung von einer einfachen Welt mit klaren Rollen, die sich in absolutes Gut und Böse aufteilen lässt, erfüllt von Märchen, Mythen und Heldenfiguren.

Ich kann's nachvollziehen. Ich spiel(t)e gerne Fantasy-Rollenspiele (nicht im Bett, sondern auf dem Brett). Aber jede dieser bespielbaren Fantasy-Welten wäre langweilig, wenn sie dem Klischee von Gut und Böse entsprechen würde, wenn Charaktere in ihr nicht auch widersprüchliche, komplexe Persönlichkeiten hätten; wenn sie keine Vielfalt an Völkern, Kulturen, Wesen und Kreaturen bieten würde. Die Welt, die sich Faschistinnen oder Islamisten für die Realität wünschen, ist nicht nur tödlich, sondern auch todlangweilig.

Wenn alle Recht haben

Ausdauernde Kritik u.a. an den medialen Verhältnissen ist wichtig. Aber neben dem Sudern wäre eine weitere Möglichkeit, dem überall aufkeimenden Neofaschismus zu ent- und begegnen, seinen Zwangsvorstellungen alternatives Gedankengut gegenüber und somit zur Verfügung zu stellen. Nicht als weitere Mauer, die man vor seiner Begrenztheit aufbaut, sondern als offene Tür. Möglicherweise kann man jenen Gefangenen ihrer eigenen Denkräume etwas anbieten, an das sie sich genauso leicht klammern können, ohne zwischendurch ins Leere greifen zu müssen. Dafür bräuchte es natürlich Geduld, Mitgefühl und Verständnis für die Ängste dieser unnötigen, gestörten Volltrottel, wie ich sie hasse... Die habe ich leider selten, aber ich gebe mir Mühe.

Immerhin: Würde ich der zwanghaften Denkweise der Neofaschisten folgen, würde ich vermutlich genauso gestört. Ich würde vielleicht fordern, jeden rechten Trottel und jede faschistoide Idiotin sogleich tot zu schlagen, damit diese nicht Gelegenheit erhielten, Demokratie und Rechtsstaat zu gefährden; oder ihnen, etwas moderater bzw. öffentlich, wenigstens das Wahlrecht zu entziehen; oder sie gesammelt an einem Ort zwangsumzusiedeln, an dem wir sie im Auge behalten könnten, egal ob sie als Flüchtlinge oder Immigrantinnen ins Land kamen oder schon immer hier lebten. Aber ich weiß natürlich, dass das Blödsinn wäre und ich, wenn ich so etwas forderte, logischerweise als allererstes mich selbst richten müsste. Wenn allerdings die Logik dahin ist, was soll man dann machen? Dann haben sowieso alle Recht, also niemand.

Obacht: Selbstkritik

Das ist auch ein Problem: In den Informations-Eingeweiden des Internets wollen alle Recht haben, weil man besser sein will als die Anderen; weil es eine einfache Möglichkeit bietet, sein Ego zu erhöhen, wenn man vom niedrigeren Ego der Anderen ausgeht. Das machen nicht nur recht Trolle, das mache ich selbst. Ich versuche – auch mit Provokation – Andere zu bemängeln, weil ich mich (meine Meinung) für besser halte. Muss nicht falsch sein, falls ich wirklich Recht habe. Kommt aber auch auf den Ton, die Höflichkeit, also die „politische Korrektheit“ an.

Billig-Prinzip: Besser durch Schlechtermachen

Stets besser sein zu wollen, bedeutet, dass man sich selbst dauernd schlechter einschätzt. Ansonsten hätte dieses Bestreben keinen Sinn. Wer besser sein will, findet sich nicht gut genug. Wer sich selbst bereits gut findet, will nur besser werden, wenn er/sie einen Mangel an/in sich erkennt. Wer sich aber verbessern will, um nicht einfach nur gut zu sein, sondern damit andere schlechter aussehen, reflektiert nicht über eigene Mängel, sondern lediglich über die Mängel der Anderen, definiert sich über deren Fehler. Dadurch verbessert man sich nicht. Man senkt nur die eigenen Ansprüche, die man von den Anderen ableitet: "Ich muss nicht, weil die sind ja auch so und so". Irgendwann erkennt man allerdings doch wieder, dass man mit sich unzufrieden ist, weil man sich nicht verbessert hat und der Kreis öffnet sich wieder. Das kann auch dazu führen, dass man die Fehler der Anderen dauerhaft konstruiert oder unhinterfragt annimmt, um darauf sein eigenes Ego aufzubauen und sich ausdauernd von eigenen Mängeln und Fehlern abzulenken .

Billig- und Gratiszeitungen funktionieren schon länger nach diesem Prinzip: "Wir" sind die Gemeinschaft der Leser und Leserinnen und dieses "Wir" ist makellos, normal, eh super. Dem gegenüber werden die ganzen Horror-G'schichteln gestellt, in denen Leute vorkommen, die nicht "Wir" sind. Auf diese Weise wird das (kollektive) Ego der Leserschaft erhöht, indem jene Anderen immer als die Schlechteren, die Abnormalen dargestellt werden. Obwohl von diesen nicht wenige ebenfalls Reklame-Journale, Billigpresse und Gratiszeitungen lesen. Ähnlich funktionieren auch "Realityshows", in denen sich die "Unterschicht" vor laufender Kamera demütigt, damit sich die "untere Mittelschicht" bzw. „obere Unterschicht“ überlegen fühlen kann. Die Online-Medien schaffen nur neue Möglichkeiten für diesen modernen Brot-und-Spiele-Schmäh.

Kritik ohne Gewalt?

Ich bin manchmal gerne eine zynische Enddarmöffnung, bin manchmal sehr angf'ressen und speie es hinaus, wenn's zuviel wird. Aber vielleicht sollte auch ich einmal versuchen, statt dem ständigen Geschimpfe, mich aufs Darstellen meiner alternativen Meinung zu beschränken. Auch das wäre Kritik, die ohne das Schlechtermachen anderer Menschen auskäme. Das wäre auch eine Alternative zu gegenwärtigen, nicht nur verbalen Gewalt-Trends. Es braucht weniger Aufregung und mehr Aufklärung! Und wenn mir alles zu viel wird, sollte ich mir einfach jemanden zum Umarmen suchen. Oder zum Prügeln. Sex soll auch helfen, hab ich gehört. Aber offline.

Alexandre Cabanel

1
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
4 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Amadeus

Amadeus bewertete diesen Eintrag 19.11.2016 12:39:10

Noch keine Kommentare

Mehr von Antonik Seidler