Die Renaissance des Idioten.

Wie die Metaphern real werden und der Selbstsaboteur die Weltbühne erobert...

"...Leben wir in einer Idiokratie?

Wie kann man die Selbstsabotage des politischen Denkens, die Herrschaft der gemeinten Meinung, den kursierenden Bullshit und die Quatsch-Ideologien unserer Zeit sonst bezeichnen?..."

Ich warne abermals: Dummheit und Idiotismus sind existenzielle Gefahren für die Menschheit.

➡️ Gedanken von [ Zoran Terzić ]

"...Etwas ist anders.

Die Art und Weise, wie über Politik gesprochen, befunden und geurteilt wird, ergibt keinen Sinn mehr.

Wenn man heute z.B. Faschisten nicht eindeutig als Faschisten ausmachen kann und deshalb von „Postfaschismus“ oder „Rechtspopulismus“ sprechen muss, und wenn diese Rechtspopulisten in manchen Flugblättern fordern, was längst Gesetz ist, dann ist das merkwürdig.

Merkwürdig ist auch, wenn linke Aktivisten „Ausländerbonzen raus“ an die Wand eines Kreuzberger Cafes schmieren, um gegen Gentrifizierung ein Zeichen zu setzen, oder urbaner Tribalismus Ressentiments gegen Touristen schürt, weil das ökologisch bewusste Szene-Bürgertum ihr natürliches Habitat in Gefahr sieht.

Merkwürdig ist auch, wenn sich eine junge Dschihadistin freiwillig an die syrische Front meldet und dann schockiert ist, mit Krieg und Barbarei konfrontiert zu werden, oder wenn ein rechter jüdischer Blogger mit antisemitischen Stereotypen aufwartet, um dem liberalen Judentum eines auszuwischen.

Auffällig ist, dass politische Positionen nicht nur widersprüchlich, sondern auch willkürlich sind, so dass man z.B. am nächsten Morgen googeln muss, um zu verstehen, was man am Abend zuvor gewählt hat.

In solch merkwürdigen Zeiten kann man das "christliche Abendland" als nationale Rechtfertigung gegen Asylunterkünfte ins Feld führen, russisches Zarenreich und sowjetischen Stalinismus versöhnen, ein so anti-westliches wie turbokapitalistisches Kalifat des 18. Jahrhunderts gründen oder im vierradgetriebenen Sport-Cabrio-Geländewagen den innerstädtischen Biomarkt ansteuern.

➡️ Idiokratie

Man mag alle diese Fälle als Kuriositäten abtun.

Für mich offenbart sich darin eine tiefer gehende Tendenz: die Selbstsabotage des politischen Denkens, die Herrschaft der gemeinten Meinung, die keinen Gegenstand hat oder am laufenden Band Pseudo-Gegenstände produziert:

Pseudo-Debatten,

Pseudo-Religionen,

Pseudo-Staaten,

Pseudo-Fakten,

Pseudo-Gefühle.

Es gibt viele Namen für diese Tendenz.

Der Philosoph Harry G. Frankfurt hat 2004 in einem berühmten Aufsatz das Verschwinden der diskursiven Ordnung als "Bullshit" bezeichnet. Ein Lügner benötigt die strikte Unterscheidung von wahr und falsch.

Ein Bullshit-Akteur hingegen zerstört alle Verbindlichkeit, glaubt aber am Ende selbst an die intimen Parameter seiner Argumente.

Für sich genommen, bedeuten all seine Idiosynkrasien nichts – jeder kann sich zuhause problemlos eine private Quatsch-Ideologie zusammenschustern.

Das Problem ist, dass dieser Quatsch inzwischen zum modus operandi des öffentlichen Lebens geworden ist, und dass sich in letzter Konsequenz die darin waltende „Tyrannei der Intimität“ (Richard Sennett) auch gegen sich selbst wendet.

➡️ Platon schreibt in den Nomoi, dass das Sonderinteresse „den Staat zerreißt“.

Eine Gesellschaft von Privatleuten ist unmöglich, weil es keine Vermittlung aller Einzelinteressen geben kann und der politische Logos nicht die handelnde Vernunft umfasst. Das antike Wort für das Subjekt dieser Unmöglichkeit war idiotes. Der idiotes bezeichnete nicht nur die „Privatperson“, sondern vor allem jemanden, der den Unterschied von privat und öffentlich sabotierte. Der Begriff wurde in der Antike zwar oft funktional verwendet, z.B. als politischer Gegensatz zum strategos, als Begriff für einen Prosaiker im Gegensatz zum Dichter, als Bezeichnung für Laien oder zur Kennzeichnung bürokratischer Angelegenheiten (für private Opferriten galten beispielsweise andere Tarife als für öffentliche). Politisch bedeutete idiotes aber eine gesellschaftliche Dysfunktion.

Jedes Mal, wenn man sich in diesen Tagen fragt, warum Wähler gegen ihre eigenen Interessen stimmen oder warum Polit-Hasardeure wie Duterte oder Trump an der Macht sind, sollte man sich die antike Perspektive vergegenwärtigen: Man kann es nicht jedem Recht machen, wenn jeder schon auf seine Weise Recht hat, aber genau deswegen gerieren sich Polit-Hasardeure immer wieder als historische Erfüller der idiotischen Begierde.

➡️ Eine treffende Illustration hierfür liefert der Film Idiocracy (2006).

Die Zukunftsgesellschaft besteht hier aus daueronanierenden Wutbürgern, die einen ehemaligen Wrestler und Pornostar zum Präsidenten gewählt haben.

➡️ Das kapitalistische Unbewusste

Channel 4 and YouGov führten 2016 eine Befragung mit 1.700 Briten durch, um zu erfahren, wie viele Nutzer durch so genannte „Fake News“ in die Irre geführt werden.

Dafür wurden sie mit verschiedenen Nachrichtenmeldungen konfrontiert (z.B. „Tourist bitten by massive crocodile after trying to take a selfie“, „Immigrants to be given £8,500 upon arrival to boost economy“ – welche Nachricht ist wahr, welche falsch?). Nur 4% der Befragten schafften es, alle Meldungen korrekt zuzuordnen. 49% waren sich aber sicher, bei allen Beispielen richtig gelegen zu haben.

➡️ Die Unfähigkeit, seine eigene Unfähigkeit zu erkennen, wird in der Psychologie manchmal als Dunning-Kruger-Effekt bezeichnet.

Diese Selbstverkennungen haben aber schon in der kulturellen Logik der Postmoderne eine gewisse theoretische Fundierung erfahren, sie wurden dabei durch eine zunehmend liberalisierte Ökonomie und die ihr innewohnenden Narzissmen unterfüttert. Der Kunsttheoretiker Matthew Poole bezieht sich auf diese Entwicklung, wenn er vom „Idiotenparadigma“ spricht und damit den neoliberal gespeisten Untergang der politischen Urteilskraft bezeichnet. Damit ist ein „Paradigma der Paradigmenlosigkeit“ umschrieben, in dem gesellschaftliche Leitunterscheidungen ihre Bedeutung verlieren und jegliche Differenzierungsmobilität sabotiert wird. Für Poole heißt das,

'dass das kapitalistische Wirtschaftssystem als ein derartig blind machender Komplex, der mit allen Aspekten des Lebens verbunden ist, erscheint, dass wir anscheinend nicht mehr in der Lage sind, die Beziehungen von Ursache und Wirkung zwischen den gesellschaftlichen, politischen, ethischen oder ökonomischen Aktivitäten auf der Welt zu unterscheiden.'

Schon der Historiker Moishe Postone betonte, dass bei Marx die Kapitalform gesellschaftlicher Verhältnisse einen „blinden Charakter“ habe und das Kapital die unaufhörliche Selbstvermehrung des Wertes darstelle – als irrationale Abstraktion, die am laufenden Band rationale Sündenböcke produziere, z.B. nach dem alten Muster: Jude = Kapital (die heutigen Postfaschisten à la Steve Bannon sprechen von „Globalisten“, wenn sie George Soros bzw. ‚Judengeld‘ meinen). Es ist daher nicht verwunderlich, wenn in der Ära des Idioten auch Flüchtlinge zur Zielscheibe des kapitalistischen Unbewussten werden.

➡️ Den Idiotismus-Begriff finde ich hier auch deshalb treffend, weil er den realen Gehalt der polit-ökonomischen Wirklichkeit beschreibt: Die Metapher des Idioten ist zur politischen Realität aller geworden.

Diese „Realisierung der Metapher“ ist dabei nicht nur ein literarisches Stilmittel wie etwa im russischen Formalismus, sondern, wie die Schriftstellerin Dubravka Ugrešić in Kultur der Lüge illustrierte, auch das Symptom einer Krisen- oder Kriegssemiotik.

Es herrscht ja nicht nur dort Krieg, wo es knallt, sondern schon dort, wo die Metaphern real werden. Das „Volk“ (ob himmlisch oder auserkoren) ist dabei wohl die beliebteste Ur-Metapher, die sich als Territorium realisiert oder eben nach Stammtisch-Projekten wie BREXIT oder der Trump-Mauer verlangt, deren Verwirklichung gerade im Gange ist.

➡️ Der Idiotismus-Begriff ist außerdem deshalb passend, weil das „Tier in Menschenform“, wie Julien de La Mettrie Idioten einst nannte, die Form des konsumistischen Menschen bestimmt.

Man denke an die Bildsprache in Martin Scorseses The Wolf of Wall Street, wo Investitionen mit Injektionen, Geldgeschäfte mit Kokain und Wertpapiere mit Prostituierten verwachsen – als berauschte Wahrheit des homo economicus.

„I smell money“ flüstert sich Jarred Vennett in Adam McKays Film The Big Short (2015) zu, bevor er eine Investmentfirma von seiner CDO-Strategie überzeugt. Es geht beim Idioten um situative Instinkte, nicht um Dummheit.

➡️ Der Dummkopf kriegt nichts mit, der Idiot alles, nur eben auf absurde Weise. Für diesen Eiertanz des Bewusstseins hat der Wirtschaftswissenschaftler Willem Buiter den Begriff „cognitive capture“ geprägt. Diese spiegelt sich sowohl im Film als auch in dessen Wirklichkeit – in der Figur einer staatlichen Finanzregulierungsbeamtin – wider, die sich in Las Vegas an einem Pool mit einem Broker von Goldman Sachs vergnügt.

Das Kapital ist libidinös, und die Libido ist idiotisch, sie schafft sich ihre Gesellschaftsordnung – die Vermählung der Regulierer mit den Regulierten.

Das ist die Idiotenebene der Wirklichkeit, die Funktion, die das Ich zum Es verkrümmt, und dabei das Über-Ich aus dem Psycho-Orbit wirft. Das ist das Unausgesprochene, das Trump ausspricht, wenn er weihevoll bekennt: „I am a very instinctual person“.

➡️ Der Idiot ist der fiktive Symptomträger der gegenwärtigen Wirklichkeit, und er ist die reale Manifestation einer auf Fiktionen fußenden Ökonomie.

Commissioner Dreyfus bemerkt im zweiten Pink-Panther-Film A Shot in the Dark: „Give me ten men like Clouseau and I could destroy the entire world.“ Aber in Idiotenzeiten genügt da womöglich schon einer.

In einem Artikel des Guardian mit dem Titel The five biggest threats to human existence listet der Autor fünf existenzielle Gefahren für die Menschheit auf:

Nuklearkonflikte,

Bioengineering,

Superintelligence,

Nanotechnologie, Unknown Unknowns.

Der Idiot aber bleibt unerwähnt.

➡️ Es ist an der Zeit, sich dieser zahllosen Figur näher zu widmen..."

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