Als ich mich vor vielen Jahren mit einem rassistischen Ungarn wegen dessen Hasstiraden gegen Roma und Sinti stritt, sagte der: “Wart´s nur ab. Sobald die Zigeuner nach Westeuropa kommen, wirst du schon sehen, dass eure Leute sie genauso hassen werden, wie wir es tun”. Er hatte Recht. Kaum wagten es einige Roma, die als großes Verdienst der EU gefeierte Reise- und Niederlassungsfreiheit in Anspruch zu nehmen, begegnete ihnen dort, wo sie sich ansiedeln wollten, Hass und Ablehnung. Politiker, gerne auch Sozialdemokraten, taten sich in Frankreich und Deutschland als Mahner wider den “Sozialtourismus” hervor und befeuerten so den Fressneid der Eingesessenen.

Ganz schnell wurde klar, dass Reisefreiheit nach Möglichkeit nur für Exportgüter der westeuropäischen Industrie gelten solle, nicht aber für arme Menschen, die dorthin wollen, wo diese Exportgüter hergestellt werden. Ganz besonders schnell und ganz besonders ekelhaft outeten sich Deutsche als Antiziganisten. Das Volk, das Hunderttausende Roma ermordet hatte, gründete Bürgerinitiativen genannte Lynchmobs, sobald sich Roma in einer Stadt ansiedelten, und ließ in Internetforen wie Facebook seinen Mordfantasien freien Lauf. Verstöße gegen deutsche Tugenden wie Mülltrennung, die Erziehung von Kindern zu Schweigsamkeit und die Pflicht Armer, sich demütig unsichtbar zu machen, nehmen Deutsche besonders krumm. Es treibt sie in den Wahnsinn, wenn jemand sich die Freiheit herausnehmen will, mitten in Deutschland anders zu leben, als es die deutsche Mehrheit macht. Im besten Fall fordern die empörten Anrainer sogenannter “Problemhäuser”, also jener Häuser, in denen Roma leben, nur die Deportation der ungeliebten neuen Nachbarn. “Die Politik”, so diese Spießbürger, müsse “was unternehmen”. Ganz Unrecht haben sie mit letzterem gar nicht. Europa hat ein massives und sich täglich zuspitzendes Problem mit den ärmeren Teilen seiner Bevölkerung, und wir stehen genau jetzt an einer Weggabelung und müssen uns entscheiden, welchen Weg wir nehmen wollen.

Wir müssen uns entscheiden, ob wir den totalen Markt und die totale Konkurrenz haben wollen oder nicht. Wenn wir ersteres wollen, dass also alle europäischen Volkswirtschaften gegeneinander und der europäische Block gegen alle anderen Blöcke konkurrieren, also den Kapitalismus in seiner natürlichen, unkorrigierten Form, dann bringt das zwangsweise die Barbarei mit sich. Wenn alles nur mehr Konkurrenz und Kostenfaktor ist, können sich die konkurrierenden Wirtschaften Menschen, die mehr kosten, als sie einbringen, nicht leisten und müssen sie daher loswerden. Das geschieht üblicherweise durch Mord, dem zumeist noch die Verwertung der zu Ermordenden durch Sklavenarbeit vorausgeht. Das ist kein Ausdruck von Sadismus, obwohl die dazu gehörenden Prozesse der Menschenmaterial-Verwertung natürlich Sadisten und Psychopathen anziehen, sondern die Folge ökonomischer Sachzwänge einer globalen Konkurrenzwirtschaft. Wenn Marktteilnehmer A seine Alten und Kranken durchfüttert, Marktteilenhmer B aber nicht, dann wird Marktteilnehmer B Marktteilnehmer A wirtschaftlich in absehbarer Zeit auslöschen. Natürlich könnte Europa auch sagen: “Nein, das wollen wir nicht, so sind wir nicht mehr. Wir möchten, dass jeder Mensch existieren darf und kann, da dies ein Menschenrecht ist und außerdem vernünftig, da ja auch wir mal zu den Überflüssigen gehören könnten”. Solche Überlegungen gab es schon mal, man nannte sie unkorrekt “Kommunismus”.

Dazu ein kleiner Exkurs:

Die Roma waren und sind die großen Verlierer des Untergangs des Realsozialismus. Ich habe oft genug über die negativen Seiten des so genannten Kommunismus geschrieben, ich brauche mich also weder für die Erwähnung seiner positiven Aspekte zu rechtfertigen, noch muss ich jedes Mal “Pol Pot” , “Stalinismus” und “Kulturrevolution” dazuschreiben. Die Schwächen aller sozialistischen Versuche sind allgemein bekannt, die größte davon war wohl, dass nahezu überall verabsäumt wurde, Herrschaftsstrukuren abzuschaffen oder so zu entschärfen, dass die immer noch oft genug tödliche Machtausübung von Menschen über Menschen nicht stattfinden kann, dass sich keine neuen Eliten bilden, was wieder nur jene Charaktere nach oben spült, die auch im Kapitalismus zu den Herrschenden gehörten. Statt der Freiheit kam die Unfreiheit in neuem Gewand. Wie jeder klar denkende Mensch lehne ich aber Totalitarismustheorien ab. Rassistisch motiviert ganze Menschengruppen vom Baby bis zum Greis millionenfach, industriell, programmatisch, kaltblütig und geplant zu ermorden, ist nicht “gleich schlimm”, wie durch Fehlentscheidungen Versorgungsengpässe herbeizuführen. Es ist wesentlich und qualitativ viel schlimmer. Geistig Kranke hunderttausendfach umzubringen ist nicht “gleich schlimm”, wie einige Regimegegner in die Psychiatrie zu stecken. Es ist wesentlich und qualitativ viel schlimmer.

Wenn man den Realsozialismus beurteilen will, sollte man auch mal darauf achten, was der nicht gemacht hat. Er hat Menschen nicht aus rassistischen Gründen verfolgt, eingesperrt und ermordet. Er hat Menschen, die eingeschränkt oder gar nicht arbeitsfähig waren, nicht verrecken lassen. Für die Roma und etliche andere Gruppen, die zuvor jahrhundertelang mit entsprechenden Folgen für Selbstwertgefühl, Eigendefinition und ökonomisches Standing ausgegrenzt worden waren, bedeutete dies, dass sie in den sozialistischen Diktaturen Arbeit, menschenwürdige Behausung, Ausbildung und medizinische Versorgung hatten. Sie waren inkludiert und durften zumindest offiziell nicht diskriminiert werden. Ihre Kinder gingen zur Schule und viele davon später auf Universitäten. Die Integration der Roma und anderer zuvor ausgeschlossener Menschen in die realsozialistische Wirtschaft und Gesellschaft war eine politische Entscheidung. Man entschied sich dafür, jedem Menschen ein Recht auf Existenz zuzugestehen. Das war, rein ökonomisch betrachtet, ineffizient und teuer. Daher wurde das mit dem Einzug des Kapitalismus auch sofort beendet. Nicht nur Roma, aber vor allem auch diese waren plötzlich arbeitslose Sozialhilfeempfänger. Massiv rassistisch ausgegrenzt, konnten sich Roma und Sinti am schlechtesten an die neue Kultur des Konkurrenzkampfes anpassen und versanken in Not und Elend, hausend in Ghettos und einmal mehr zurückgeworfen auf sich selber und überholte Clanstrukturen. Und heute schlägt jenen, denen durch das Zusammenstreichen der Sozialsysteme und durch Diskriminierung schlimmster Sorte die Lebenschancen gestohlen werden, Hass und Ablehnung dafür entgegen, dass sie Opfer sind.

Um den Wert von Menschenleben nicht ökonomisch festzuschreiben, was zur Vernichtung von Menschenleben führen muss, braucht es nicht zwingend die Diktatur des Proletariats. Es braucht politische Entscheidungen und den Willen, eine Gesellschaft zu haben, in der niemand so weit zurückbleiben muss, dass er durch strukturelle oder offene Gewalt seine Existenz verliert. Entweder Europa, dieser unglaublich reiche Kontinent, bekennt sich zu einer Form eines gemäßigten Kapitalismus, die jeden Menschen leben lässt, oder man muss den Kapitalismus abschaffen. Eine reiche Gesellschaft, die ihren stetig und immer weiter wachsenden Reichtum durch Exklusion und letztlich Mord zu verteidigen und auszubauen beabsichtigt, hat keine Existenzberechtigung, da sie verbrecherisch ist. Und auch wenn das mal wieder als Alarmismus abgetan werden wird: Wir sind nicht mehr weit davon entfernt, dass das stille und etwas verschämte Morden, wie das Verreckenlassen von Armuts- und Kriegsflüchtlingen oder das Sterbenlassen von Armen und Kranken, in offenen Massenmord übergehen wird. Schon der Status Quo ist inakzeptabel und unerträglich, aber was da immer schneller am Horizont aufsteigt, ist die totale Dehumanisierung, ein neues Massenmorden im Namen von Wettbewerbsfähigkeit und Geldwertstabilität. Jetzt ist die Zeit, Position zu beziehen, offen, immer und überall. Wer nicht will, dass wir diese Straße, die zu Lagern und Krematorien führt, weiter gehen, muss handeln. Macht verdammt noch mal euer Maul auf! Sagt es den Politikerinnen und jedem, ob er es hören will oder nicht, dass ihr keine Welt wollt, in der Menschen nur Zahlen in Kosten-Nutzen-Rechnungen sind!

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Herbert Erregger

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