Tolle Zeiten für Meinungs-Junkies.

Geil! Es ist so geil! Ein Flash jagt den nächsten. Ich fühle mich wie ein Junkie in Katmandu im Kreise anderer abhängiger Genießer. Drogen im Überfluss, an jeder Ecke für kleines Geld oder umsonst zu haben. Es sind ausgesprochen gute Zeiten.

Ja, ich bin süchtig und ich stehe dazu. Und ich bin maßlos, kann gar nicht genug von dem guten Stoff bekommen. Dieses wohlige Gefühl, dieses warme Rieseln, wenn die Droge in meinem Gehirn das Dopamin freisetzt, geht mir über alles.

Meinungen. Ich brauche Meinungen, täglich und in immer stärkerer Dosis. Direkt nach dem Wachwerden schaltete ich mein Tablet ein und setze mir gewissermaßen den ersten Schuss. Glücklicherweise lebe ich in einem Drogenparadies: Deutschland, das Katmandu für die Meinungssüchtigen. Cold Turkey kennen wir hier nicht. Wir leben im Überfluss und unserer Leben dreht sich fast nur noch um unsere Lieblingsdroge.

Mit Grauen denke ich an die Vergangenheit zurück, als grausame Knappheit regierte und wir mit zitternden Gliedern, kaltschweißig auf den nächsten Schuss hofften. Die Jüngeren können sich das gar nicht vorstellen. Wie wir hektisch dicke Zeitungen durchblätterten, Seite um Seite nicht als News, Fakten und Informationen. Wie wir dieses eine, glücksverheißende Wort suchten: „Kommentar“. Wir wussten, dort ist der Pusher zu finden und dort gab es die ersehnte Meinung, die wir begierig aufsogen. Jeder Sonntag war für uns ein Freudentag, denn um 12 Uhr brachte das Fernsehen Werner Höfers „Frühschoppen“. Eine Handvoll Journalisten produzierte dort vor unseren Augen Meinungen von Feinsten. Ein Flash folgte auf den nächsten.

Gottseidank sind diese finsteren Zeiten schon lange vorbei. Heute leben wir im Überfluss und Meinungen gibt es an jeder Ecke. Sie bestimmen unser Leben. In den Zeitungen sind eigentlich nur noch die Börsenkurse und Fußballergebnisse echte, faktenbasierte Informationen. Die Artikel, die sich immer noch verschämt Nachrichten nennen, sind durchsetzt von Meinung. Ein mieser Stoff, viel zu sehr gestreckt.

Auf das Fernsehen ist mehr Verlass. Mehrmals wöchentlich versorgen uns Talk-Shows mit hochdosierter Meinung, die wirklich knallt. Unverschnitten und postfaktisch. Genau das Richtige für den abendlichen Kick, der unsere zerebrale Erregungskurve in die Höhe schießen lässt.

Aber es geht noch besser. Neue Dealer sind aufgetaucht, die in ihren Meinungs-Blogs und Meinungsmagazinen edlen Stoff von Feinsten anbieten. Bei Tichy oder Der Achse findet der Meinungs-Connaisseur alles, was sein Herz begehrt. Mehrmals täglich wird frischer Stoff produziert und die Junkies warten schon mit klopfendem Herzen. Sehr zu empfehlen ist deren Hausspezialität. Sie nehmen die Meinungen aus den TV-Talkshows und verschneiden diese regelmäßig mit eigenen Meinungen. Das turnt richtig an.

Mangel kennen wir nicht mehr. In den social media, vor allem auf Facebook, finden sich jede Menge Kleindealer und Pusher, die Meinungen für den kleinen Kick zwischendurch anbieten, meist minderwertiger Stoff, hastig zusammengemixt aber jederzeit verfügbar und kostenlos. Da ist man nicht wählerisch.

Ja, wir Deutsche sind ein Volk von Meinungs-Junkies geworden. Sogar unsere Politiker meinen es gut mit uns. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Unsere Drug-Queen meint, wir schaffen das.

Ich konsumiere mittlerweile rund um die Uhr, weitgehend gedankenlos. Früher habe ich mich mal dafür interessiert, was in meiner Lieblingsdroge eigentlich drin steckt und ob sie mir langfristig Schaden zufügt. Ich wollte wissen, ob es alternative Wirkstoffe gibt. Antworten zu finden war gar nicht einfach. Schließlich wurde ich bei einem gewissen Immanuel Kant fündig, der sich seinem Buch mit dem merkwürdigen Titel „Kritik der reinen Vernunft“ sorgsam mit der Meinung und dem Meinen beschäftigt hatte.

Kant schrieb, dass Meinen, Glauben und Wissen drei Stufen des Fürwahrhaltens seien. „Meinen ist ein mit Bewusstsein sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es Glauben. Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das Wissen.”

Ja! Kant kannte sich aus. „Sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten“! Das ist der Stoff der Unverbindlichkeit, das Fluidum der ultimativen Freiheit. Nicht einfach nur postfaktisch, sondern auch viel bekömmlicher als der Glauben, der oft zu einem veritablem Kater führt.

Kant, dieser alte Fuchs, hatte sogar eine Art Drogenschnelltest entwickelt, mit dem man die Reinheit des Meinens oder auch Glaubens feststellen kann: die Wette. Er schrieb:

„Öfters spricht jemand seine Sätze mit so zuversichtlichem und unlenkbarem Trotze aus, dass er alle Besorgnis des Irrtums gänzlich abgelegt zu haben scheint. Eine Wette macht ihn stutzig. Bisweilen zeigt sich, dass er zwar Überredung genug, die auf einen Dukaten an Wert geschätzt werden kann, aber nicht auf zehn, besitze. Denn den ersten wagt er noch wohl, aber bei zehn wird er allererst inne, was er vorher nicht bemerkte, dass es nämlich doch wohl möglich sei, er habe sich geirrt.“

Einfach genial, der Mann. Ich habe diesen Test noch nicht ausprobiert. Wozu auch? Es gibt genug Stoff in dieser Welt und täglich wird es mehr. Wenn der eine Schuss nicht reinknallt, einfach den nächsten setzen.

Aber manchmal reizt es mich schon, den Test zu machen. Dann stelle ich mir vor, wie ich jemanden, der etwas über Chemtrails oder den Hooton-Plan von sich gibt, oder behauptet, wir schafften das oder dass Flüchtlinge wertvoller als Gold seien oder dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, auffordere, sein gesamtes Vermögen auf diese Überredung zu setzen. Wenn er oder sie dann entsetzt einen Rückzieher macht, dann kann ich sicher sein, dass ich den Stoff gefunden habe, der mein Leben beschwingt:

Eine kristallklare Meinung, garantiert unverschnitten mit Wissen.

1
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

mike.thu

mike.thu bewertete diesen Eintrag 01.01.2017 15:09:08

3 Kommentare

Mehr von Davinci