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Weil die Emotionen gerade allenthalben überkochen und Viele dabei der altbekannten Schwarz-Weiß-Logik »Russland böse - Der Westen gut« anheimfallen, wäre eine etwas differenziertere Sicht- und Denkweise möglicherweise geeignet, nicht nur die Gemüter zu kühlen, sondern auch eine entspanntere Debattenkultur zu befördern, um überhaupt eine sachlich nüchterne Diskussion führen zu können.

Hinter der durch Politik, Propaganda und die Medien verzerrten Realität gibt es ein wesentlich aussagekräftigeres Panorama, welches - so man es denn betrachtet - erstaunliche und vor allem unbestreitbare Fakten zeigen kann. Dieses Panorama nennt sich schlicht Geschichte.

So wie Historiker irgendwann zukünftig das aktuelle Geschehen analysieren, bewerten und aufschreiben werden, so geschah das auch in der Vergangenheit mit den Vorgängen, die zu dem Desaster geführt haben, welches wir aktuell erleben. Und diese gilt es kritisch zu betrachten.

Da es in unserer westlichen Hemisphäre gerade jetzt - im Angesicht eines Krieges - verpönt zu sein scheint, auch einmal einen Blick auf die "dem Westen" eher unangenehmen Einträge in den Geschichtsbüchern der letzten Dekaden zu werfen ('Putin' und 'Russland' werden ja gerade ausgiebig und hyperkritisch behandelt), möchte ich an dieser Stelle einen Artikel von Kai Ehlers, der bei ossietzky.net erschienen ist und der diese Ereignisse überschaubar und treffend deutlich macht, in ganzer Länge zitieren.

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von Kai Ehlers, Ossietzky - Ausgabe 05/2022

Angst vor Russland

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Will Russland Krieg? Muss die Welt Angst vor einem Aggressor Putin haben, nachdem Russland die Regionen Donezk und Lugansk als eigene Staaten anerkannt hat und einen Tag später Bomben auf Militäranlagen der Ukraine abwerfen ließ? Muss die »freie Welt« ihre »Hilflosigkeit« überwinden, wie es Tage zuvor auf der Münchner »Sicherheitskonferenz« unter dem Motto »unlearning helplessness« propagiert wurde?

Trifft die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Nagel auf den Kopf, wenn sie unter der Überschrift »Der deutsche Denkfehler« kommentiert, jahrzehntelang und parteiübergreifend habe deutsche Außenpolitik sich an dem Glaubenssatz orientiert, »dass es Sicherheit und Frieden in Europa nur mit Russland« geben könne? Nun müsse sie sich endlich der Frage stellen, der sie so lange ausgewichen sei: »Wie sorgt man für Sicherheit und Frieden in Europa gegen Russland?« (FAZ 23.02.2022)

Tatsächlich? Ist das so? Ist Umdenken angesagt? Haben sich Deutschland, die EU, der Westen jahrelang um Frieden und Sicherheit mit Russland bemüht, die jetzt von Putin mutwillig aufs Spiel gesetzt werden?

Bleiben wir sachlich, stellen wir die Emotionen zurück. Erinnern wir uns:

Von wem stammt der Vorschlag, ein »Haus Europa« aufzubauen, samt der dazugehörigen Öffnung der Sowjetunion bis hin zur Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands? Von Michail Gorbatschow, 1989. Und hat Gorbatschow nicht die Zusage erhalten, dass die Nato nicht über die deutschen Grenzen nach Osten erweitert würde, wie soeben noch einmal im Spiegel durch Dokumente belegt wurde?

Wer hat mit dem Gedanken gespielt und sogar Schritte in diese Richtung gesetzt, die Nato, nachdem sie absprachewidrig doch bereits auf Osterweiterungskurs war, durch einen Beitritt Russlands zur eurasischen Sicherheitsorganisation umzuwandeln? Boris Jelzin.

Wer ist 2001 als eine seiner ersten außenpolitischen Amtshandlungen im deutschen Bundestag mit dem Angebot aufgetreten, anstelle der zusammengebrochenen Ordnung des Kalten Krieges eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa von Wladiwostok bis Lissabon zu entwickeln und erhielt dafür »standing ovations« der Abgeordneten? Wladimir Putin.

Wer hat das das Angebot einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur auf der Strategietagung der Nato in Lissabon im Jahr 2010 wiederholt? Dimitri Medwedew.

Wer hat vor dem Ausbruch des Maidankonfliktes 2014 dafür geworben, das anstehende Assoziierungsabkommen in dreiseitiger Zusammenarbeit zwischen Ukraine, EU und Russland zu entwickeln? Russland.

Und wie wurde darauf geantwortet?

Mit schrittweiser Erweiterung der Europäischen Union.

Mit Erweiterung der Nato bis hart vor die Grenzen Russlands.

Mit Unterstützung von bunten Revolutionen in den Randgebieten der ehemaligen Sowjetunion seit 2004 bis hin zum Maidan in der Ukraine 2014.

Erinnern wir uns weiter an die von Zbigniew Brzezinski nach dem Ende der Sowjetunion vorgelegten Strategien der Einzigen Weltmacht, die im Kern darauf orientierten, dass und wie die USA das Herzland Eurasiens, Russland, beherrschen müsse, wenn sie ihre Weltherrschaft sichern wolle und dass ein zentraler Schritt dafür die Loslösung der Ukraine von Russland und ihre Einbindung nach Europa sei, weil Russland ohne die Ukraine nicht wieder zum Imperium werden könne. Brzezinski ging so weit, eine Dreiteilung Russlands in einen östlichen, einen zentralen und einen europäischen Teil vorzuschlagen, während er die Europäischen Staaten umstandslos als nützliche Erfüllungsgehilfen, offen sogar als Vasallen bezeichnete, die zur Umsetzung dieser Strategie gebraucht würden.

Erinnern wir uns insbesondere daran, wie die Dreiteilung der Ukraine in der Folge des Maidan 2014 zustande kam: Hervorgegangen aus einer ethnisch, sprachlich und kulturell uneinheitlichen Provinz der Sowjetunion, die nur durch willkürliche Verwaltungsgrenzen zusammengehalten war, verfiel das Gebiet in den Prozess einer nachholenden Nationenbildung mit krassen nationalistischen Begleiterscheinungen und sozialpolitischen Mängeln. Es entstand ein Staat, der nicht durch seine schnell übergestülpte demokratische Maske, sondern durch die Willkür seiner oligarchischen Eliten definiert war und dessen jeweilige Staatsführungen in ihren Orientierungen zwischen Russland und der EU saisonal hin- und her schwankten.

Und hier beginnt nun die neuere Geschichte, die unter der Frage erinnert werden muss, wer die Minsker Verträge beerdigt hat:

Die Unruhen des Maidan hinterließen eine von Nationalisten eroberte Staatsmacht - Arsenij Jazenjuk, der erste Ministerpräsident, wollte die russischsprachigen Teile der Bevölkerung ukrainisieren. Seine Strategie: Gewaltsame Nationalisierung statt Integration.

Sein Nachfolger Petro Poroschenko ließ sich zwar formal auf einen Integrationsprozess gegenüber dem Osten ein, dekretierte dann aber eine anti-terroristische Kampagne gegen die abtrünnigen Republiken, die jedes Gespräch unter Kanonenschuss stoppte.

Zu Minsk II holte man 2015 die Sezessionisten auf deren Protest gegen ihre Abqualifizierung als Terroristen hin zwar mit in die Verhandlungen - aber nur im Nebenzimmer. Beschlossen wurde dennoch immerhin ein Programm der schrittweisen Annäherung zwischen Kiew und den Regionen, die in diesem Zuge ihre begrenzte Autonomie erhalten sollten. Der dafür notwendige Dialog zwischen ihnen und Kiew wurde von Kiew jedoch weiterhin verweigert, stattdessen wurde geschossen.

Alle Appelle Russlands an die Adresse Kiews, den Dialog endlich aufzunehmen, blieben erfolglos. Verantwortlich dafür wurde von westlicher Seite aber nicht Kiew, sondern Russland gemacht, das versäume Druck auf die abgespaltenen Gebiete auszuüben. Gleichzeitig warf man Russland vor, rechtswidrig in die Gebiete zu intervenieren. Eine westliche Einwirkung auf Kiew, sich dem Dialog zu stellen, fand nicht statt, fiel zumindest, wenn sie denn versucht worden sein sollte, in Kiew auf keinen fruchtbaren Boden.

Nachdem sich dieser Austausch leerer Worthülsen über Jahre hingezogen hat, erklärten die Garantiemächte Deutschland und Frankreich vor zwei Jahren die Minsker Gespräche für gescheitert. Schuld gaben sie wiederum Russland.

Wenn Macron und Scholz im Zuge der jetzigen Krise nach Kiew und Moskau eilten, um, wie sie angaben, die Minsker Gespräche wieder in Gang bringen zu wollen, so war das ein Wirbeln von heißer Luft, denn Kiew war daran nicht beteiligt noch an Gesprächen interessiert. Wolodymyr Selenskyj weigert sich bis heute, das Gespräch mit den Sezessionisten aufzunehmen.

Vor diesem Hintergrund war Putins Entschluss, die Minsker Gespräche jetzt seinerseits für gescheitert zu erklären und die Republiken als eigenständige Staatsgebilde anzuerkennen, nicht als Beerdigung von Gesprächen zwischen den Separatisten und Kiew zu verstehen, sondern als Versuch, veränderte Bedingungen für die Aufnahme von Gesprächen auf neuer Basis zu schaffen - wenn beide Seiten das gewollt hätten. Gesprächsgegenstand hätte dabei werden können, wo die Grenzen der Regionen Donezk und Lugansk konkret zu ziehen wären, ob sie den ganzen administrativen Raum innerhalb der Ukraine vor der Abspaltung umfassen sollten oder auf die Gebiete hinter der Frontlinie beschränkt bleiben müssten. Die russische Anerkennung der Regionen ließ diese Frage offen.

Mit der Mobilmachung Selenskyjs am Tag unmittelbar nach der Anerkennung der Regionen durch Russland und den darauf ebenso prompt folgenden Bombardierungen der militärischen Infrastruktur der Ukraine durch Russland wurde der oft verschobene Dialog, könnte man sarkastisch sagen, jetzt noch einmal um eine weitere Stufe hinausgeschoben. Ob dies nun endlich zur Aufnahme eines effektiven Dialogs führen wird, und wer da mit wem spricht, wird sich sehr schnell zeigen.

Die Antwort liegt nicht bei der Ukraine, auch nicht bei den Europäern, sondern bei den Amerikanern, denn objektiv liegt der ganze Verlauf dieses Konfliktes mehr als je zuvor - ganz in dem seinerzeit von Brzezinski vorgegebenen Sinne - im strategischen Interesse der USA:

Um Russlands Kräfte zu binden und Russland politisch weiterhin als Aggressor isolieren zu können. Das hielte ihnen den Rücken frei für ihr Vorgehen gegen China.

Um mit der Aufrechterhaltung der Möglichkeit eines jederzeitigen Kriegsausbruches, der auf europäischem Boden ausgetragen würde, Europa weiter als Vasall zu binden.

Um ein Zusammenfinden der EU und anderer europäischer Kräfte mit Russland zu unterbinden. Im Zentrum steht da zweifellos die Kampagne der USA gegen die Inbetriebnahme von Nord Stream 2.

Anders gesagt, die Ukraine wird immer noch gebraucht, um die Russen klein und die Europäer botmäßig zu halten. Die Ukraine spielt dabei keine Rolle, schon gar nicht ihre ohnehin darbende Bevölkerung, wie laut auch gegenwärtig ins Horn einer Solidarität mit der Ukraine gestoßen werden mag.

Für die Europäer stellt sich die Frage, wie lange sie sich entgegen ihren fundamentalen eigenen Interessen weiter vor den Wagen einer um Aufrechterhaltung ihrer Vormacht kämpfenden Weltmacht spannen lassen wollen.

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Link zum Originaltext: https://www.ossietzky.net/artikel/angst-vor-russland/#

Link zu einem interessanten Videobeitrag von Michael Lüders zur gleichen Thematik: https://www.youtube.com/watch?v=FlXihZc2IzQ

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