"Karoshi"-Tod durch Überarbeitung. Japans degenerierte Kapitalismus

Fälle von Karoshi, also Tod durch Überarbeitung, häufen sich in Japan und beschäftigen die japanische Öffentlichkeit. Ein Umdenken der Unternehmen wird gefordert, nur es ändert sich nichts.

2014 endete wieder einmal das Leben eines 27-Jährigen aus den Philippinen. Er erlitt wegen Überarbeitung einen Herzinfarkt. In einer Giesserei als Lehrling zum Mindestlohn hat er gearbeitet, und er 123 Überstunden im Monat geleistet. Er stand kurz davor, zu Frau und Tochter auf die Philippinen zurückzukehren, aber sein Herz tat nicht mehr mit.

2015 starb mitten in Tokio eine 24-Jährige, im Frühjahr hatte sie erst ihr Studium an der angesehenen Tokio-Universität abgeschlossen. Bei der grössten Werbeagentur des Landes, Dentsu, heuerte sie an und wurde bald Vollzeit-Angestellte. Die Arbeitslast wuchs. Takahashi, die 24-Jährige setzte in sozialen Netzwerken Hilferufe ab:

"Es wurde beschlossen, dass ich wieder am Wochenende arbeiten muss. Ich möchte wirklich sterben" » schrieb sie. Zwanzig ihrer Überstunden seien für das Unternehmen wertlos, soll ihr der Chef gesagt haben. Am Weihnachtstag 2015 sprang Takahashi vom Dach des firmeneigenen Wohnheims in den Tod. Im Monat zuvor hatte sie 105 Überstunden gemacht.

Die tragischen Todesfälle werfen ein erschütterndes Bild auf die Arbeitskultur in Japan, wo gute Arbeit vielfach immer noch an der Zahl der gearbeiteten Stunden und nicht an der Leistung gemessen wird. Beide Fälle wurden gerade von den staatlichen Behörden als "Karoshi", als Tod durch Überarbeitung, anerkannt. Als Grenze gelten dabei 80 oder mehr Überstunden im Monat.

Die Anerkennung als Karoshi-Fall gibt den Angehörigen die Gelegenheit, Zahlungen aus einer Unfallversicherung zu erlangen und auch Entschädigungszahlungen der Unternehmen zu erstreiten. Karoshi ist in Japan weit verbreitet.

Aus einer Studie der Regierung geht hervor, dass sich im vergangenen Jahr schon eine dreistellige Zahl wegen Überarbeitung (Karoshi) umbrachten oder den Selbstmord versucht hatten. Diese Suizidzahl bildet wohl eine Untergrenze. Das Gesundheitsministerium stellt fest, dass sich im vergangenen Jahr deutlich über 2000 Menschen wegen Problemen am Arbeitsplatz das Leben nahmen. Die Dubkelziffer wird noch wesentlich höher sein. Entsetzliche Zustände in Japan.

Zugleich wurde im vergangenen Jahr die Rekordzahl von über 1500 Ansprüchen auf Entschädigung wegen Gemütskrankheiten gestellt, die durch übermässige Arbeitsbelastung hervorgerufen worden sein sollen. Die meisten Tode durch Überarbeitung gibt es nach Angaben des Arbeitsministeriums in sozialen Diensten und im Baugewerbe. Das sind die Branchen, in denen der Arbeitskräftemangel besonders akut ist.

Es gilt immer noch die Devise, dass die Angestellten erst das Büro verlassen, wenn der Chef geht.

Die Werbeagentur Dentsu, deren Angestellte Takahashi im Dezember starb, spielt dabei eine unrühmliche Rolle und war immer wieder mit Suizidfällen konfrontiert. Im Jahr 2000 urteilte dann Japans höchstes Gericht, dass der Selbstmord durch «entsetzliche Arbeitsbedingungen» hervorgerufen worden sei. Dem Unternehmen wurde durch das Gericht die Schuld an dem Todesfall zugeschrieben. Dentsu zahlte der Familie des Gestorbenen eine Entschädigung. Das war der Auslöser für ähnliche Verfahren bei anderen Unternehmen. Dass nun ausgerechnet Dentsu schon wieder am Pranger steht, verdeutlicht, wie wenig sich in Japan in Sachen Tod durch Überarbeitung getan hat.

Nach einem vermutlich noch untertriebenen Regierungsbericht leisten in einem Viertel der Unternehmen reguläre Beschäftigte mehr als 80 Überstunden im Monat – die Karoshi-Grenze. Darin enthalten sind 12% der Unternehmen, die von mehr als 100 Überstunden berichteten. Die Umfrage beruht auf der Befragung von mehr als 1700 Unternehmen und fast 20 000 Beschäftigten. Offiziell gilt in Japan die 40-Stunden-Woche. Die Unternehmen sind aber frei, mit ihren Gewerkschaften Vereinbarungen zu den Überstunden zu treffen.

Während in Japan rund ein Viertel der Beschäftigten in der Woche über 50 Stunden arbeiten, sind es nach Angaben der OECD in den USA etwa 12% und in Deutschland nur 5%.

Noch mehr Arbeiter mit diesen Überstunden finden sich im Vergleich der OECD-Staaten nur in Südkorea, Mexiko und der Türkei – in Ländern mit niedrigerer Arbeitsproduktivität.

In der Gesellschaft dauert die Debatte über den Tod durch Überarbeitung an. Familienangehörige der Opfer und ein Karoshi-Opferverband fordern ein Umdenken und Eingriffe der Regierung.

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FerdinandK

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