Jeder kennt den Namen Kain – den Bruder, der das Blut Abels vergoss. Doch nur wenige verstehen die Tiefe seines Fluchs. Denn Gott sprach nicht das Ende über ihn: „Verflucht seist du auf Erden, unstet und flüchtig sollst du sein.“ Und Kain weinte, denn er erkannte, dass ihm kein Tod vergönnt war.

Seit jenem Tag wandelt er unter wechselnden Himmeln, von den Stürmen der Sintflut bis zu den Feuern Roms. Die Völker nannten ihn Ka-en – den, der nie sterben darf. Er wandelte durch Tempel und Schreine, durch Ödnis und Wüste, suchend nach Vergebung, die ihm nicht gewährt werden konnte. Die Jahrtausende trugen sein Gesicht, doch nie seine Ruhe.

In alten Chroniken, verborgen in vatikanischen Archiven, steht geschrieben: Ein Mann kam im achten Jahrhundert nach Rom, barfuß, schweigend, mit Augen, die kein Licht mehr spiegelten. Er bat um Beichte, doch kein Priester wagte, ihn zu segnen. Stattdessen erkannten sie – vage, furchtsam – wer er war. Der Erste, der Gebannte.

Die Heilige Inquisition nahm sich seiner an. Nicht, um ihn zu erlösen, sondern um ihn zu binden. Denn Ka-en war Träger von Wissen, das vor den Offenbarungen Adams lag, Geheimnisse aus der Zeit vor der Zeit. Er sprach von Engeln, die vor dem Licht erschaffen wurden, von einem Feuer, das selbst den Himmel verbrenne könnte.

Darum errichtete die Kirche tief unter dem Petersdom ein Gefängnis, das kein Auge der Sterblichen je sehen sollte. Sie versiegelten die Kammer mit sieben Zeichen – eines für jede der himmlischen Tugenden – und schwiegen über das, was dort geschah.

Jahrhunderte vergingen. Ka-en verweilte, unalternd, betend, manchmal singend auf einer Sprache, die kein Mensch mehr kennt. Und manchen Glaubensmännern erschien er im Traum, warnend: Sollte seine Kette jemals brechen, sollte die Erde selbst sein Geheimnis austragen.

„Die Sünde begann in mir“, sollen seine letzten Worte an einen Wächter gewesen sein, „und sie wird in euch enden.“

Noch im letzten Jahrhundert berichteten einige Mönche, dass beim Gebet der Mitternacht ein Atem aus der Tiefe wehte – warm, schwer, menschlich. Und manch einer glaubte, er sei das Flüstern des ersten Sohnes, der nie sterben durfte.

Die Öffnung des Siegels

Lange blieb Ka-en gebannt, vergessen unter den Gewölben des Petersdoms. Doch kein Siegel der Menschen ist ewig. Der Wind des zwanzigsten Jahrhunderts pustete auch durch die Hallen des Heiligen Stuhls, und ein Mann aus dem Osten, ein Papst aus Polen, stieg auf den Thron Petri. Er trug den Glauben seines Volkes in sich – und das unerschütterliche Verlangen, die Dunkelheit zu befragen, wo andere sie nur verbannten.

In einer Nacht, so berichten einige ältere Kardinäle, ließ er die Katakomben öffnen. Er stieg selbst hinab, allein, nur eine brennende Kerze in der Hand. Und dort, in der tiefsten Kammer, fand er den Mann ohne Alter – Ka-en, den Sohn Adams, den ersten Gebannten.

Ka-en sprach ohne Zunge, und doch klang seine Stimme wie ein Strom aus Donner und Weinen. „Eure Zeit ist erfüllt“, sagte er, „die Menschheit steht am Tor ihres eigenen Edens, doch diesmal ist kein Engel mit Flammenschwert dort.“ Der Papst, bewegt von Mitleid, löste das Siegel. Nicht in Gottes Namen – sondern im Namen jener Barmherzigkeit, die kein Dogma kennt.

Als das geschah, erstarben in der Nacht drei Glocken Roms. Manche sagen, in jenem Augenblick begannen die Sieben Plagen des Geistes: Hochmut, Gier, Spaltung, Lüge, Raserei, Kälte – und Vergessen.

In den folgenden Jahrzehnten begann die Welt, sich selbst zu verlieren. Ein neuer Herrscher erhob sich, nicht aus Gnade, sondern aus Spiegeln und Bildschirmen. Man nannte ihn Trumpas, „den Posaunenträger“, denn seine Worte waren laut wie Metall und leer wie Sturmwind. Er sprach von Größe, doch säte Trennung; er versprach Freiheit, doch entfesselte Begierde. Und hinter ihm zerfiel die Ordnung der alten Welt.

Mitmenschlichkeit wurde zum Relikt, Nächstenliebe zur Schwäche, Wahrheit zum Handel. Nationen wandten sich gegeneinander wie Brüder im Zorn. Und inmitten dieses wachsenden Chaos erhob sich eine Stadt des Verderbens – Ischteban, Insel des Fleisches, der Spiegel von Sodom. Dort suchten die Mächtigen, was ihnen längst verloren war: Unschuld.

Die Propheten schwiegen; ihre Stimmen erstickten im Lärm der Märkte. Ka-en aber wanderte wieder, diesmal nicht verflucht, sondern erlösend. Denn er wusste, das Ende sei keine Strafe Gottes, sondern das Spiegelbild der Schöpfung selbst.

„So wird es geschehen“, flüsterte er über die Asche der sterbenden Welt, „dass die Kinder Abels lernen, was ihr Ahne nicht verstand: Barmherzigkeit ohne Wahrheit ist Sünde, Wahrheit ohne Barmherzigkeit – Vernichtung.“

Und der Himmel blieb schwarz eine ganze Generation lang.

Die Weissagung des Letzten Lichtes

Und ich sah eine neue Erde, die aus den Trümmern der alten stieg. Feuer und Zorn lagen hinter ihr, und Friede dehnte sich aus wie das Meer am ersten Tag. Menschen sprachen wieder in Güte, Kinder lachten ohne Furcht, und der Himmel stand offen wie ein Tor der Verheißung.

Doch der, durch dessen Tränen sie erlöst worden waren – Ka‑en, der Sohn des Ersten Blutes – wandelte schweigend durch die Felder des neuen Morgens. Sein Schatten war lang, und wo er ging, verstummten die Vögel. Denn er wusste: Die Welt konnte nur bestehen, wenn der Fluch vollendet blieb.

Da sprach eine Stimme aus dem Licht: „Ka‑en, du hast das Werk der Zeit erfüllt. Nun kehre zurück an den Ort deiner Prüfungen. Denn Erlösung ist nur vollständig, wenn auch der Ursprung bereut.“

Und Ka‑en senkte sein Haupt. Ohne Widerrede öffnete sich die Erde, und die alten Stufen des Vatikans empfingen ihn wieder. In der Tiefe, wo kein Licht verweilt, legte er sich nieder – nicht als Gefangener, sondern als Wächter.

Denn so steht es im Buch der letzten Tage:

Wenn Ka‑en ruht, bleibt das Gold der Welt rein.

Doch wenn er wieder wandelt, beginnt die Prüfung von Neuem.

Und über der neuen Menschheit blieb das Zeichen: ein stilles Kreuz aus Licht am Himmel.

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Frank und frei

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