„Lügenpresse“ war das Unwort des Jahres 2014. Roger Köppel sagte dazu sinngemäss und treffend, es ziele am Kern der Sache vorbei, da Aufgabe der Berichterstattung durch die Medien nicht Wahrheit oder Lüge, sondern ausschliesslich Abbildung der Wirklichkeit sein könne. Und dass die Problematik genau hier begründet liege, weil der Bezug der schreibenden Zunft zu ebendieser Wirklichkeit bestenfalls marginal sei oder weil schlicht aus einer anderen, selbstkonstruierten Wirklichkeit heraus berichtet würde.

Als vor ein paar Tagen die gesamte deutschsprachige Presse den „Armutsbericht 2017“ thematisierte, wurden solche Petitessen schlagartig vom Tisch gefegt. Medien und Leserschaft fanden sich in seltener Symbiose vereinigt. Artikel, Kolumnen und Kommentare zum Thema wurden für einmal gefeiert wie geglückte Sturzgeburten von Wahrheit, Echtheit und Richtigkeit. Was war geschehen? Eine mögliche Antwort ist ebenso einfach wie furchterregend: Für einmal wurden die richtigen als Opfer anerkannt. 15,7 Prozent der Deutschen, also rund 13 Millionen Menschen. Die in zwei Sekunden erfahrbare Tatsache, dass Teile der Verfasserschaft des Machwerks deckungsgleich mit jener von „Studien“ sind, die kundtun, dass Asylsuchende ungleich mehr Reichtum bringen, als sie je kosten, fiel da einfach lautlos vom Regal. Hätte eh nur gestört.

Bericht, Berichterstattung und Reaktionen auf den Bericht sind nur mit Mühe und in kleinen Portionen verdaubaur. Denn: es ist blankster Hohn und kalte Verachtung wehr- und rechtloser Menschen angesichts von Gewalt, Missbrauch, Krieg, Seuchen, Verfolgung und Katastrophen – von Menschen also, deren Geschädigtsein seine Wurzeln in Unfreiheit und Zwang hat, von echten Opfern. Was hier angerichtet, serviert und bis zur Emesis gefressen und wiedergekäut wird, ist das Gift einer dreifachen Lüge. Aber der Reihe nach.

Damit hier keine Missverständnisse entstehen: Es ist nicht einfach oder spassig, den Gürtel in finanzieller Hinsicht im letzten Loch zu tragen, dauernd knapp dran zu sein und jeden Cent xfach wenden zu müssen, bevor man ihn ausgibt. Die Schwelle von Knappheit zu Armutsgefährdung liegt gemäss Bericht bei 60 Prozent des Medians des Äquivalenzeinkommens der Bevölkerung. Für einen Single ohne Kind liegt sie in Deutschland demnach bei 942 Euro, für eine alleinerziehende Person mit Kind unter 14 Jahren bei 1’225 Euro, für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 1’978 Euro.

Armut im herkömmlichen Sinn bedeutet Mangel in punkto Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Nahrung, Kleidung, Wohnung und dem Erhalt des Lebens. Nicht so im Armutsbericht, der deutlich macht, dass der verwendete Armutsbegriff ein relativer sei. Oder im verbeamteten Hilfswerke-Jargon: Armut ist ein dynamisches Konzept. Es gilt: Arm ist, wer über so geringe Mittel verfügt, dass er von der Lebensweise ausgeschlossen ist, die im Staat, in dem er lebt, als Minimum annehmbar ist. In diesem Sinn ist mangelnde Teilhabe Armut. Ebenso der echte oder gefühlte Mangel an Verwirklichungschancen.

Von solchem Mangel betroffen sind gemäss Bericht hauptsächlich fünf Gruppen: alleinerziehende Personen, Familien mit drei und mehr Kindern, Erwerbslose, Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund. Sie durchs Band als Gefährdete oder Opfer darzustellen impliziert Zwang und Unfreiwilligkeit. Die erste Lüge. Der grösste Teil dieser Menschen steht, wo er steht, aufgrund freiwillig gefällter Entscheidungen. Niemand hat sie mit Gewalt daran gehindert, beim lustbetont hirnfrittierten Herumschlafen zu verhüten, niemand zwingt Menschen zur Gründung einer Grossfamilie à la Dritte Welt, keiner wird zur Scheidung und Neu-Paarung – siehe: Pluralisierung der Familienform – gezwungen, dazu den Job hinzuschmeissen oder gewaltsam an der Übernahme einer atypischen Beschäftigung gehindert. Menschen werden ebensowenig mit vorgehaltender Waffe davon abgehalten sich zu bilden und zu integrieren, wie daran, in ihren Herkunftsländern zu leben. Oder anders gesagt: Der Grossteil dieser Menschen ist Opfer individueller Freiheit. Ein Widerspruch der grotesken Sorte. Natürlich gibt es die Ausnahmen, die der Hilfe bedürfen. Die Erhebung aller in einen staatlich definierten Gnadenstand der Opfer indes, verhöhnt unverschuldete echte Not, die in der Heckwelle subjektiv emfpundenen Wohlstandsmangels untergeht.

Aber weiter im Text: „Menschenwürde ist Menschenrecht“ so der Titel des Berichts. Die zweite Lüge. Ein Fest der Peinlichkeit. Aber es geht noch schlimmer: „Gleichwürdigkeit“ sei als alternativloses Ziel anzuerkennen und herbeizuverteilen. Dass man dem Menschen damit die Grundwürde seines Menschseins ungeachtet echter oder gefühlter Not von vornherein abspricht und die Würde an sich herabgewürdigt wird auf etwas staatlich Organisier- und Finanzierbares fällt den Verfassern nicht weiter auf oder wird dem Zweck des Berichts untergeordnet. Da kann man dann auch gleich unterschlagen, dass jeder bis auf jenen Bereich, der ihm von aussen zugefügt wird, für seine Würde selbst verantwortlich zeichnet und dass die Abgabe dieser Verantwortung die Aufgabe der Freiheit bedeutet. Denn: Was – bitteschön! – ist das denn für eine Würde, die die Konsequenzen des eigenen Entscheidens via Almosentropf der Obrigkeit auf die Schultern Dritter ablädt? Daraus dann noch ein Menschenrecht abzuleiten ist an Absurdität kaum zu überbieten. Die Perversion aller Freiheit schlechthin.

Aber darum scheint’s hier auch gar nicht zu gehen – Lüge Nummer drei. Wenn rund 16 Prozent der Gesamtbevölkerung in den zweifelhaften Adelsstand potentiell Geschädigter erhoben wird, suggeriert man damit etwas ganz anderes: Hier läuft etwas schief. Hier muss Abhilfe her. „Da müssen wir ran!“ wie Frau Nahles sagt. Ein bisschen persönliches Engagement im Sinn der Caritas reicht da nicht. Hier braucht’s Konzepte, Massnahmen, Prävention, Schutz – kurz: es braucht Staat. Nicht umsonst beklagen sich die Expertengruppen anlässlich des Symposiums des fünften Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung darüber, dass die Gender-Mainstreaming-Thematik untergewichtet sei bei den Untersuchungen, dass zu wenige Informationen über Menschen, die zwar dem Opfer-Raster entsprechen, sich aber entscheiden, diese Kosten nicht der Allgemeinheit auzubürden, vorhanden seien und dass die Situation all jener, die sich für atypische Erwerbstätigkeiten entscheiden, zu wenig untersucht würde. Hier entgeht den Gesellschafts-Gestaltern und Gleichwürdigkeits-Herbeibetern ein Stück Knetmasse, auf das man zur Erweiterung des eigenen Betätigungsfelds gerne Zugriff hätte.

Aber auch das ist nur die halbe Warhheit. Um zu verstehen, worum’s wirklich geht, reicht es, sich ein paar Sätze von Sozialministerin Nahles‘ Rede bei selbiger Gelegenheit ins Gehirn zu praktizieren:

„In Deutschland halten sich nach meiner Wahrnehmung aber vor allem die Reichen im Dunkeln auf, zumindest gibt es über sie wenige amtliche Daten. (…) Ich habe mich gefragt, ob der Sozialstaat nicht regelrecht dazu verpflichtet ist, diesen Schleier zu lüften? (…)

Ich sage es Ihnen: Weil wir das Leistungsprinzip mit Füßen treten, wenn wir zwar Einkommen, nicht aber auch Kapitaleinkünfte, Vermögen und Erbschaften nach der Leistungsfähigkeit besteuern. Weil wir das Leistungsprinzip mit Füßen treten, wenn immer noch überwiegend soziale Herkunft und nicht eigene Leistung darüber entscheidet, ob man sozial aufsteigt oder nicht. Und wenn Erbschaft der überwiegende Grund dafür ist, reich zu sein und nicht etwa eigene Arbeit, eigene Ideen und eigene Anstrengungen.(…)

Deshalb war es mir wichtig und es war auch richtig, dass wir uns das Thema Reichtum in diesem Bericht genauer angesehen haben. (…) Das Thema Reichtum mit all seinen Fassetten ist damit auf den Tisch. Mir war wichtig, dass wir über die Verteilung in unserem Land sprechen – über Arm und Reich – und dass wir auch auf der Regierungsbank das Wort „Umverteilung“ wieder in den Mund nehmen. (…) Beruhigend ist doch, dass dieses Geld hier im Land viel besser angelegt ist als auf instabilen Kapitalmärkten im Niedrig-Zins.“

So geht Hetze. Und nur darum geht es: Um die Instrumentalisierung ganzer Bevölkerungsschichten mittels Unzufriedenheit und Neid zum Zweck immer weitergefassterer und tieferer Intervention, um die Legitimierung neuer Raubzüge durch den Staat und um Beförderung immer grösserer Abhängigkeit und damit grösserer Unfreiheit immer zahlreicherer Menschen. Oder anders gesagt: Hier wird an der Herabwürdigung der Menschen zu Opfer-Affen zum eigenen Machtausbau im Interessen- und Parteienschacher gearbeitet. Soviel zum Thema Würde.

Aber schlimmer, als es jede Verlautbarung ministerial zur Führung in das kollektive Glück totaler Gleichheit Berufener je sein könnte, ist dies: Millionen von Menschen, die sich als Opfer erkannt und anerkannt fühlen und bereit sind, sich um kurzfristigen Komforts Willen der sozialistischen Wahnidee, die über Tugendterror in echte Armut, in Elend und Gewalt führt, in die offenen Arme zu stürzen.

0
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
0 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Noch keine Kommentare

Mehr von Frank Jordan