22.03.2017, 16:39, Bahnhof Meidling, Bahnsteig 3. Ich besteige den letzten Waggon der Schnellbahn Richtung Wolkersdorf, finde einen freien Sitzplatz, okkupiere diesen sogleich, nehme ein Buch zur Hand und beginne zu lesen. Das heißt, ich versuche zu lesen. Es fällt mir schwer, den Sinn des Gelesenen zu erfassen. Die Sätze lösen sich auf in Buchstaben, machen was sie wollen und weigern sich einen Sinn zu ergeben. Nach fünf Minuten gebe ich auf, resigniere und stecke das Buch in meine Tasche.

Ich blicke mich kurz um. Da sehe ich, was ich akustisch die längste Zeit wahrnehme und, obwohl ich mich redlich bemühe, nicht ignorieren kann. Schräg vis-à-vis sitzt – eigentlich liegt sie mehr, als sie sitzt – ein Mädchen, geschätzte sechzehn Jahre jung und telefoniert in einer Lautstärke, dass es jeder Fahrgast dieses Waggons hören muss. Ober er will oder nicht.

Sie ist offensichtlich nicht der gleichen Meinung, wie ihr Gesprächspartner, da, da sie mehrmals „fick dich“ ins Telefon schreit. Dann beruhigt sie sich wieder.

„Nein Mama, ich weiß nicht, ob ich den Job verliere. Heute bin ich wieder in der Mittagspause eingeschlafen und niemand hat mich aufgeweckt. Irgendwann hat mich der Chef aufgeweckt. „

….

„Das war jetzt das zweite Mal, dass er mich schlafend angetroffen hat.“

….

„Ich habe nicht gesagt, dass ich den Job verliere. Aber ich kann nicht garantieren, dass ich die restliche Zeit immer pünktlich in der Firma bin. Du weißt ja, wie gerne ich verschlafe.“

….

„Nein Mama, ich bin jetzt im zweiten Lehrjahr. Eineinhalb Jahre immer pünktlich sein, das werde ich nicht schaffen.“

….

„Wenn ich arbeitslos bin, brauche ich eine eigene Wohnung. Dann habe ich Anspruch auf Mindestsicherung und kriege die achthundert Euro. Oder ich melde mich obdachlos, dann bekomme ich auch das Geld.

Die Diskussion um Arbeits- und Obdachlosigkeit und den damit verbundenen Möglichkeiten Sozialhilfe zu lukrieren nimmt kein Ende. Als der Zug in die Station Praterstern einfährt, steht das Mädchen auf, schultert ihren Rucksack und geht zur Tür.

„Nein Mama, ich komme heute nicht nach Hause. Ich muss jetzt aussteigen.“ Sie beendet das Gespräch und steigt aus.

Der Zug fährt ab. Ich schaue geistesabwesend aus dem Fenster. Das Gespräch geht mir nicht aus dem Kopf. Übernächste Station muss ich aussteigen, denke ich mir.

Die Türen schließen sich, die Schnellbahn nimmt wieder Fahrt auf. Ich muss dann aussteigen, merke ich mir vor. Seit wann fährt der Zug über die Donau auf dem Weg von Meidling zum Handelskai? Ich bin verwirrt. Es dauert etwa zehn Sekunden, bis ich realisiere, dass ich meine Station verpasst habe. In Floridsdorf wechsle ich den Bahnsteig und fahre wieder zurück.

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