Jede Woche passiert es wieder: im Radio können Millionen Menschen dem Dilemma einer Hörerin oder eines Hörers lauschen. Soll ich meine Beziehung beenden, weil ich das Schnarrchen neben mir im Bett als störend empfinde? Soll ich meinen Job kündigen, weil ich nicht jeden Tag so früh aufstehen will? Zu Fragen wie diesen gibt es dann unter anderem in den social media und auch durch Anrufe in der Sendung die Möglichkeit, seinen Senf dazuzugeben. Mit der Chance, zu entscheiden: welche von zwei zur Verfügung gestellten Möglichkeiten ist jetzt richtig für die hilfesuchende Person. Am Ende wird dann das Abstimmungsergebnis verkündet.

Fragen, die in diesem Zusammenhang ebenfalls nach einer Antwort verlangen, kommen dabei nicht vor. Zeit, sie einmal zu stellen:

1. Was erwartet jemand, der ein solches persönliches Dilemma zur Abstimmung bringt?

Die Konflikte, in welchen die Personen stecken, kommen uns ja meist sehr vertraut vor: es sind durch die Bank Situationen, welche hier angesprochen werden, in welchen wir uns entweder selbst schon einmal befunden haben oder zu welchen wir zumindest im Bekanntenkreis mitbekommen haben, dass sich jemand mit der Suche nach einer Lösung dazu plagt. Da kommt schon schnell einmal der Wunsch auf, dass man einen Rat bekommt. Dass die, die das Problem doch auch kennen müssen, einem helfen sollen - denn wozu das Rad nochmals erfinden, wenn es das doch schon gibt. Dass man im Optimalfall Unterstützung bekommt für die Lösung, zu welcher man ja eigentlich tendiert, einen aber doch irgendetwas abhält, den entscheidenden Schritt auch tatsächlich zu setzen. Oder noch besser: dass jemand anders die Entscheidung trifft. Dann hat man nichts damit zu tun und ist dann wenigstens nicht selbst schuld, wenn man dann draufkommt, dass die gewählte Alternative doch nicht die gewünschten Resultate gebracht hat. Und man spart es sich, sich mit der Frage selbst herumzuschlagen und in sich vielleicht langen Gesprächen mit den anderen vom persönlichen Dilemma und dem Umgang damit betroffenen Menschen herumzuschlagen mit all den dabei lauernden "Gefahren".

2. Kann ein Abstimmungsergebnis bei der persönlichen Entscheidung helfen?

Demokratie ist ja eine coole Sache: eine Mehrheit entscheidet, was alle umzusetzen und zu beachten haben. So jedenfalls erleben wir Demokratie. Und wenn das bei Gesetzen so funktioniert, warum sollte es nicht auch bei Fragen des eigenen persönlichen Lebens funktionieren? Ein kleiner aber vielleicht entscheidender Unterschied wird dabei übersehen: es geht hier durch die Bank nicht um Fragen, welche einen gemeinsamen Umgang mit unseren Ressourcen betreffen, bei welchen wir also alle betroffen sind von der gewählten Lösung. Es geht um ganz persönliche Lebensentscheidungen, zu welchen hier Unbeteiligte zur Meinungs- und Entscheidungsfindung eingeladen werden. Es geht daher nicht um gemeinsame Selbstbestimmung, sondern schlicht und ergreifend um Einladung zur mit dem Deckmantel von Demokratie verkleideten Fremdbestimmung. Menschen, welche nicht mit den Konsequenzen leben müssen, werden eingeladen zur Bestimmung des zu wählenden Weges.

3. Worum geht es den Menschen, welche an der Abstimmung teilnehmen?

Dass es durch die Bank Lebenslagen sind, die wir ganz gut zu kennen glauben, wurde ja schon erwähnt. Genau das ist auch der Grund, weshalb wir sehr rasch dafür zu begeistern sind, mitzureden. Unsere "Expertise" einzubringen. Denn immerhin haben wir das ja auch schon mal zu entscheiden gehabt oder zumindest im eigenen Umfeld gesehen, welche Entscheidung da getroffen wurde samt den Auswirkungen im jeweiligen Einzelfall. Was dabei schnell übersehen wird: so wie wir alle Individuen sind, die in ihrer Einzigartigkeit kaum vergleichbar sind mit anderen, so sind es auch die zur Abstimmung gebrachten Situationen nicht. Was uns aber nicht davon abhält, ganz genau zu wissen, was zu tun ist: weil es sich gemäß den eigenen Wünschen so gehört; weil man das doch von den eigenen Eltern so auf den Weg mitbekommen hat; weil man selbst leider die andere Alternative gewählt hat und jetzt hofft, einen anderen Menschen davon abhalten zu können, in einem vielleicht vollkommen anderen Umfeld die gar nicht drohenden eigenen Fehler zu wiederholen; weil man sich dieses Ergebnis für das eigene Leben wünschen würde, übersehend, dass es ja gar nicht um das eigene Wohlergehen geht; weil man damit für einen kurzen Moment eigene Erlebnisse, welche man in die Frage projiziert, aufarbeiten zu können glaubt; weil man anderen Beteiligten an der Diskussion mit der Kenntnis moralisch akzeptierter Regeln imponieren möchte - ganz losgelöst davon, wonach einem selbst in der Frage wäre. Viele mehr oder weniger gut gemeinte Gründe. Was wir übersehen: gut gemeint ist oft ein ganz verherendes Motiv, das oftmals zu alles andere als guten Resultaten führt.

4. Wie lebt es sich mit dieser Entscheidung des ganzen Landes?

Wenn dann die Inhaberin beziehungsweise der Inhaber des der Allgemeinheit zur Verfügung gestellten persönlichen Dilemmas mit dem Ergebnis der Abstimmung und der einen oder anderen Wortmeldung dazu konfrontiert wird, dann kann es auch schon mal zu Tränen kommen. Weil man spürt, dass das Ergebnis einen so gar nicht weitergebracht hat. Im Gegenteil: es kommt zu dem eigenen Gefühlschaos nun noch der Druck hinzu, das tun zu müssen, was doch die Allgemeinheit als "richtig" entschieden hat. Ganz allein, denn nach Verkündung des Ergebnisses ist ja das ganze Land schon wieder beim nächsten Dilemma und steht nicht mehr zur Verfügung. Auch wenn man sich nun für die persönliche Umsetzung in einer Koalition mit der Mehrheit des "ganzen Landes" sehen könnte, so merkt man doch: das Dilemma ist ein ganz persönliches geblieben und muss daher ganz persönlich auch gelöst werden, möchte man seine individuellen Vorstellungen von Glück realisieren. Und dieser Weg wurde nun wahrscheinlich noch viel schwieriger.

5. Gibt es Alternativen?

Oh ja, die gäbe es. Auch unter Mithilfe des angesprochenen Sendeformats. Auch unter Mitwirkung der Öffentlichkeit, wenn diese wirklich gesucht wird. Zuhören, Fragen stellen, ergründen, was denn die empfundenen Umstände sind, ergründen, wie denn das Glück durch die betroffene Person definiert ist; um welche selbst erkannten Bedürfnisse es da geht in dem geschilderten Dilemma. Und dann anregen dazu, gemeinsam mit den mitbetroffenen Personen Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Es gibt da immer mehr als bloß zwei. Wird man solchermaßen begleitet bei einem Dilemma, dann kann das enorm stärken: die betroffenen Personen auf dem Weg zum ganz persönlichen Glück und die eingebundene Öffentlichkeit bei der Entwicklung von empathischem Miteinander: für jemanden da zu sein heißt nämlich nicht, ihm Entscheidungen abzunehmen - vielmehr heißt es, ihn respektvoll und wertschätzend zu begleiten auf seinem ganz individuellen Weg - mit der Chance, dabei auch selbst zu lernen, dass ganz andere Lösungen zum Ziel führen können, als man sie selbst gewählt hätte.

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Silvia Jelincic

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Hansjuergen Gaugl

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