Die gestrigen Ereignisse in Graz sind unvorstellbar: da raste ein junger Mann mit atemberaubender Geschwindigkeit mit einem PKW durch die Innenstadt und mähte der Reihe nach Menschen um: Frauen, Männer und selbst Kinder, die nicht innerhalb von Sekundenbruchteilen den Ernst der Situation einschätzen und sich in Sicherheit bringen konnten, wurden durch die Luft geschleudert und zu Boden geworfen. Einige mussten ihr Leben lassen, einige kämpfen noch mit dem Tod, zahlreiche haben schmerzhafte Verletzungen davongetragen. Verletzungen nicht bloß am Körper – auch das zugefügte Trauma wird sie lange begleiten. Der Schock und die dadurch ausgelöste Wut und Verzweiflung begleiten auch die unzähligen Zeuginnen und Zeugen, welche ohnmächtig zuschauen mussten und denen nichts anderes übrig blieb, als verzweifelte Versuche einer Ersten Hilfeleistung zu unternehmen und die Rettung zu rufen, nachdem die Gefahr vorüber schien. Und es ist einfach unvorstellbar, welches Leid diese Momente in die Familie der Verstorbenen gebracht hat.

Auch wenn es den Betroffenen nicht mehr helfen kann, so ist doch sofort die mediale Suche nach Schuldigen und Ursachen losgetreten worden. Drei große Themen machten da rasch die Runde: bei dem jungen Mann am Steuer des mörderisch eingesetzten Boliden handle es sich um einen Menschen mit bosnischer Herkunft, dieser sei psychisch krank und Hintergrund könne ein familiärer Konflikt des verheirateten Mannes und Vaters zweier Kinder sein, bei welchem erst vor einem Monat die Wegweisung ausgesprochen werden musste.

Dass tatsächlich eine andere Kultur zu anderen Konfliktlösungsmechanismen führen kann ist bekannt. Ja, es gibt Kulturen, in welchen Selbstjustiz nicht nur als zulässig, sondern auch als geboten angesehen wird, um die Familienehre wiederherzustellen. Es ist allerdings zu keiner Kultur, und schon gar nicht zur bosnischen, bekannt, dass hier das wahllose Niedermetzeln von unbeteiligten Menschen anerkannt werde. Dieser Zusammenhang sollte daher eigentlich sofort wieder verworfen werden – und nicht zu absolut unsachlichen Rundrufen hochgestellter Persönlichkeiten in den social media führen, in welchen unausgesprochen dazu aufgerufen wird, wieder einmal die präventive Abschiebung aller Menschen mit ausländischer Herkunft zu fordern.

Der Hintergrund einer mutmaßlichen psychischen Erkrankung gibt da schon ein wenig mehr her, in einer sachlichen Auseinandersetzung Lösungen zu überlegen, wie hier potenziellen Täterinnen und Tätern besser geholfen werden kann bei gleichzeitiger Vorbeugung solch schlimmer Ereignisse: ist unser Umgang des Wegschauens bei psychischen Erkrankungen solange nichts passiert Zeichen einer verantwortungsvollen Gesellschaft? Es soll hier bitte nicht der Eindruck erweckt werden, Hobbydiagnosen und deren Verbreitung seien zu befürworten – ganz im Gegenteil sind sie meist Auswuchs verabscheuenswürdigen Mobbings –, doch könnte einmal hinterfragt werden, weshalb in Österreich neben Bordells meist auch psychotherapeutische Praxen mit diskreten Hintereingängen werben müssen.

In New York wirst Du bemitleidet, wenn Du nur einen Therapeuten regelmäßig aufsuchst, in Österreich wirst Du beinahe schon schief angeschaut, wenn Du das Wort in den Mund nimmst. Ist das unvorstellbare Ereignis in Graz eine Gelegenheit, darüber wieder einmal laut nachzudenken, Wertschätzung dafür zu entwickeln, dass sich Menschen nicht nur bei Ärzten, Installateuren und Mechanikern Hilfe holen, wenn sie Unterstützung brauchen, sondern auch zum Psychotherapeuten gehen, wenn etwa ein Schmerz, eine Trauer oder ein Verlust kaum mehr zu ertragen erscheint? Eigenverantwortung auch für psychische Symptome wie für die körperlichen einer Verkühlung – ganz ohne Gefahr einer sozialen Ächtung?

Der drittgenannte mögliche Auslöser der schlachtfeldähnlichen Situation in der Grazer Innenstadt und des wohl noch lange in vielen Wohnzimmern zu ertragenden daraus resultierenden grausigen Schmerzes spricht ein immer vehementer diskutiertes Thema an: die Wegweisung in Familienkonflikten. Im Sicherheitspolizeigesetz wird die Polizei als Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes ermächtigt, als eine Sofortmaßnahme die Wegweisung und ein Betretungsverbot bei Gewalt in Wohnungen auszusprechen. § 38a. Absatz 1 dieses Gesetzes sieht dafür als Voraussetzung, dass auf Grund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen eines vorangegangenen gefährlichen Angriffs, anzunehmen sein muss, es stehe ein gefährlicher Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit bevor. Dann kann jener Mensch, von dem die Gefahr ausgeht, aus einer Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, und deren unmittelbarer Umgebung weggewiesen werden.

Dabei handelt es sich also um einen tiefen Eingriff in die Privatsphäre von Menschen: es wird der weggewiesenen Person der Zutritt zur eigenen Familie und zu jenem Ort, an welchem Grundbedürfnisse wie das Schlafen und das Verstauen der persönlichen Gegenstände erfüllt werden, versagt. Zunächst ohne Verfahren, einfach so durch die Einschätzung eines Polizisten, ob den erhobenen Vorwürfen Glauben geschenkt wird oder nicht. Andererseits soll so durch eine Sofortmaßnahme verhindert werden, dass bösen Drohungen gegen die körperliche Unversehrtheit von Familienmitgliedern, denen auch schon erste Taten gefolgt sind, verwirklicht werden. Reicht hier allerdings wirklich der Augenschein der Sicherheitskräfte aus, um dies gerecht bewerten zu können? Ist es verantwortlich, die weggewiesenen dann sich selbst zu überlassen? Hier ist Nachbesserungsbedarf gegeben, möchte man tatsächlich weitere Eskalation verhindern, hier muss ein Angebot vorgesehen werden, wie es im außergerichtlichen Tatausgleich etwa bereits vielfach bewährte Praxis ist: Sofortbegleitung durch Profis, welche gütliche und nachhaltige Lösungen mit den betroffenen erarbeiten, ohne bloß die Opferrolle neu zu verteilen.

Das wichtigste zum Schluss: natürlich ist der gestrige unvorstellbare Vorfall zum Anlass zu nehmen, die Regeln unseres Miteinanders zu hinterfragen und zu verbessern, doch der erste Gedanke muss bei den Opfern und deren Familien sein: Herzliches Beileid!

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