Erst vor wenigen Monaten gab es eine ausgiebige Diskussion über den "Ohrenzieher" als Erziehungsmittel, ausgehend von einem Presse-Artikel. Auf dem Heimweg von einem Frühlingsspaziergang im Belvedere hatte ich heute ein Ohrenzieher-Deja-vu:

Ein sichtlich gut situierter Herr hat beim Überqueren eines Zebrastreifens eine Auseinandersetzung mit seinem etwa fünfjährigen rollerfahrenden Sohn und reißt ihn kräftig am Ohr. Mein Freund und ich sind entsetzt, bleiben stehen betrachten aufgebracht und fassungslos, wie der Streit zwischen Vater und Sohn weitergeht, und sprechen in Hörweite darüber. Kaum haben wir die Straße überquert, hören wir den Vater trotz Verkehrslärm extralaut rufen: „Na, dann geh doch mit dem Herrn!“ Mein Freund läuft sofort zurück, der ohrenziehende Vater schreit den Buben an: „Na, willst du lieber mit dem Herrn mitgehen?“ Der Bub weint „Nein!“

Hat der Bub etwa auf unsere Intervention hin den Vater angesprochen? Wir tun aus etwa 1,5 Meter Distanz kund: „Um ein bockendes Kind von der Straße auf den Gehsteig zu befördern, braucht es kein Ohrenziehen, keine vorsätzliche Gewalt.“

„Haben Sie Kinder?“, ist die Eröffnung des Vaters.“ Ja, hab ich, drei sogar. Aber: Was tut das zur Sache? Muss ich Kinder haben, um darauf hinweisen zu dürfen, dass Gewalt am Kind in Österreich Gottseidank verboten ist?“

„Haben Sie noch nie die Geduld mit ihrem Kind verloren? Jeder Elternteil kommt doch einmal in die Situation!“ legt er nach.

„Nein, ich habe meine Kinder noch nie geschlagen. Und schon gar nicht am Ohr gerissen, dass es knallrot wird. Höchstens angeschrien! Und mich anschließend dafür entschuldigt!“

„Das ist aber dann auch nicht besser, das ist dann verbale Gewalt“, versucht der Vater jetzt den Spieß umzudrehen. „Außerdem glaube ich Ihnen das nicht.“ Und er legt nach:

„Sie kennen ja nicht die ganze Situation, Sie haben ja nicht gesehen, wie er sich die ganze Straße hinauf aufgeführt hat!“ - „Auch kein Grund für Gewalt am Kind“, finde ich und wiederhole mich damit.

Und so geht das noch ein paar Minuten an der belebten Kreuzungsecke weiter, bis wir uns zivilisiert verabschieden. Das Ganze ist ja während des ganzen Gesprächsverlaufs zivilisiert geblieben und nicht in Beschimpfungen ausgeartet. Ein Gespräch unter gebildeten Erwachsenen. Der Sohn fährt mit seinem Roller kleine Kreise zwischen uns. Wegen ihm habe ich mich auf dieses Gespräch eingelassen. Ob das Gespräch Nachdenken beim Vater bewirkt hat? Oder ob er sich noch mehr Argumente für seine gewalttätige Erziehungspraxis überlegt? Auf jeden Fall hat der Bub gut zugehört. Er weiß, dass es Menschen gibt, die seinen Vater zur Rede stellen, wenn dieser gewalttätig wird. Dass es nicht erlaubt ist, Kinder so fest am Ohr zu ziehen.

Johanna Vedral

Bildquelle: https://sentrooppasantra.wordpress.com/category/itavalta/

Zur Ohrenzieher-Debatte in den Medien findet ihr hier auf f+f einige Beiträge (Anfang Dezember 2014)

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