Ihr habt es doch gewusst!

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Mir ist kalt. Zuerst ist es ja warm geworden. Warm und dunkel. Es war wie ein Strudel der mich packt und mit sich reißt. Nicht hinunter, so wie ich mir das manchmal vorgestellt habe. Eher überall hin. Und es war gut Ich hatte schon solche Schmerzen.

Sie haben mir wehgetan und ich glaubte zuerst, dass du plötzlich da sein würdest um mir zu helfen. Ich hatte zwar nicht mehr sehr viel Vertrauen in das Leben - ja, auch in dich nicht. Zu oft bin ich schon enttäuscht worden in meinen wenigen Jahren. Aber irgendwo muss es doch eine Grenze des Schmerzes und der Tränen geben. In den Geschichten die mir Opa erzählt hat war das so – früher. Darauf habe ich gehofft. Auf das gute Ende für alle Kinder. Aber irgendwann, als sich der Zweite schwitzend auf mich gerollt hat, habe ich aufgehört zu glauben und zu hoffen. Als er gekeucht hat, so laut dass mein Wimmern nur mehr ich hören und spüren konnte, da war die Hoffnung gestorben.

Mein „erstes Mal“ hätte so sein müssen, wie ich es in den Romanen so gerne gelesen habe. Er hätte blitzende Augen haben sollen und Grübchen in den Wangen. Wenn er mich an der Schulter berührt – ganz leicht – dann würde er zittern. „Beben“ heißt es in den Geschichten oft. Und ich würde ihn vorsichtig ermuntern. Aber nur wenn es diese Minute wäre, in der alles richtig ist.

Als der eine mit dem hasserfüllten Blick mit dem Schraubenzieher auf mich zugekommen ist, habe ich die Augen zugepresst. So wie ich es getan habe als ich klein war und der Arzt mit der Nadel in der Hand die Stelle am Oberarm mit einem kalten Tuch abgewischt hat. Meine Mama hat mir dabei die Hand gehalten. Diesmal war sie nicht da um das zu tun. Meine Hand krallte sich stattdessen in die schmutzige Matratze.

Wie habt ihr das zulassen können? Ich war doch noch zu klein um mir selbst helfen zu können. Das war eure Aufgabe. Nicht nur in meinen letzten schrecklichen Augenblicken. Schon lange vorher. Warum habt ihr nicht lauter „Nein“ gesagt, als meine Lebenswelt zerstört wurde? Wenn ihr schon nicht mehr die Kraft und den Willen hattet um für eure einzutreten, die man euch weggenommen hat, unter überheblichem Geplapper – warum habt ihr dann nicht wenigstens an mich gedacht und euch aufgerafft. Noch einmal. Ein letztes Mal. Als die „Bessergestellten“, so hat sie Papa immer genannt, wenn er sich geärgert hat, unsere kleine Welt zerstört haben. Wir hatten ja ohnehin nicht viel. Ihr hattet wenig Zeit für mich weil ihr doch arbeiten musstet. Eine schöne, erfüllende Tätigkeit hattet ihr ja beide nicht. Nicht so eine wie die, die es besser wussten. Aber wenigstens konnten wir einheizen, hatten zu essen und manchmal, an den besonderen Tagen, schauten wir uns einen Film in dem großen Kino an. Da roch es nach Süßem und Popcorn. Und ihr habt öfter gelacht an diesen Tagen. Wie ich das geliebt habe.

Das konnten wir dann nicht mehr machen. Papa hat seine Arbeit verloren weil seine Firma zugesperrt hat. Er hat Häuser bauen geholfen. Aber es kamen dann fremde Firmen die Papas Arbeit billiger angeboten haben. Die tauchten auf, erledigten einige der Dinge die früher Papa gemacht hat, und waren verschwunden, ohne Steuern und Abgaben zu zahlen. Weil sie nicht seriös gearbeitet haben, sagte Papa immer. Und dann sperrten sie die nächste auf. Unter einem neuen Namen. Als Papa zuhause war und ihm Mama in der Früh nicht mehr die zwei Wurstbrote und den Apfel in die rote Plastikdose legte, schimpfte er über die Zustände. Und er ärgerte sich auch über viele Dinge. Besonders darüber, dass die gescheiten Menschen, die viel besser reden konnten als er – da war er nicht so gut – ihn immer als „Nazi“ bezeichneten. Er fand das so ungerecht. Ich habe in der Schule gelernt, dass Nazis böse Menschen waren. Und dass wir wohl besonders aufpassen müssen um selbst keine zu werden. Mehr als andere Menschen in anderen Ländern. Wir haben das wohl im Blut. Diese schlimme Nazi-Sache. Auch mein Papa und die Mama. Ich habe zwar nicht verstanden wieso, aber Widerrede hatte keinen Sinn. Ich wusste, dass die Beiden nicht wollten, dass wir Nachbarländer überfallen um mehr Lebensraum zu bekommen. Sie glaubten auch nicht, dass sie genetisch jemandem überlegen wären. Sie wollten einfach unsere kleine Welt behalten – obwohl sie ja eigentlich nie so besonders toll war – und haben gesehen, dass die vielen Entwicklungen das zunehmend schwieriger machten. Sie wussten, dass mir und meinen Freundinnen die fremden Buben mit den ungewöhnlichen Namen mit Verachtung begegneten. Wir waren nicht so, wie die sich das vorstellen. Und auch ihre Eltern erklärten denen, dass wir ehrlos wären und keinen Respekt verdienten. Meinem Freund, dem Stefan, haben sie sein Handy weggenommen – auf das hatte er so lange gespart. Immer zum Geburtstag hatte er das Geld das er von Oma, Opa, Papa und Mama bekam auf die Seite gelegt, bis er sich das neue iphone endlich kaufen konnte. Die fremden Kinder haben ihn im Umkleideraum in die Ecke gedrängt, ihn geschlagen und ihm seinen Schatz weggenommen. Und gedroht haben sie, dass sie den Stefan umbringen würden, wenn er sie verrät. Der hätte auch wirklich nichts gesagt, so eine Angst hatte er. Als er aber am Abend im Bett geweint hat, hat seine Mama nachgefragt. Die war zwar müde von der Arbeit und hatte nicht immer Zeit für den Stefan, da machte sie sich aber doch Sorgen. Ja, dann hat er halt alles erzählt. Stefans Eltern haben später lange darüber gesprochen. Eigentlich müsste man…. Sie haben es aber dann gelassen. Sie hatten Angst um ihr Kind. Und wen sollten sie schon informieren? Auch sie waren keine großen Redner und hatten zu oft erfahren wie das abläuft. Letztlich werden sie in die Enge getrieben und als schlechte, intolerante Menschen denunziert. Als Nazi halt. Von Menschen, die erfüllende Jobs haben. Solchen die sich zu gut für die lähmenden Banalitäten eines „Brotjobs“ sind. Papa sagt, er ärgert sich so, weil diese Überheblichkeit oft in privilegierten Lebenswelten agiert und von ihm und anderen Hacklern alimentiert wird. Er meint damit, dass das Geld das er verdient hat, als er das noch durfte, zu denen umgeleitet wird. Weil die so oft im geschützten Bereich arbeiten.

Er hat auch zu meiner Mama gesagt – das habe ich gehört als ich wieder einmal nicht einschlafen konnte – dass wir zwischen den dominanten Gruppen im Land zerrieben würden. Da wäre der eitle junge Mann, der billige Arbeitskräfte für seine Großspender bereitstellen möchte. Das sind die Eltern dieser Burschen die mir mein Leben vergiften. Und auf der anderen Seite – aber mindestens genauso übel für uns, sagt mein Papa – wären diese durch und durch ideologisierten Linken. Ihnen ginge es im Wesentlichen um Selbsterhöhung. Sie sind eitel und selbstgerecht. Die Welt wollen sie retten, aber die Armen ihres Landes interessieren sie nicht. Von denen sind sie enttäuscht und aus dieser Enttäuschung wächst Verachtung. Das Mindeste das sie von den Hilfsarbeitern der eigenen Lebenswelt erwartet hatten, war das Opfer der persönlichen Lebensumstände im Dienste der großen Idee. Weil die aber so verstockt waren, und die großen Zusammenhänge nicht sehen wollten, wandte man sich angewidert ab. Man setzte alle Hoffnung auf den „edlen Wilden“ – das sind die Fremden, die sich zu mir nie edel verhalten haben – und projizierte diverse Ideale auf diese unbeschriebene Leinwand. Für sie war die unbeschrieben. Wir, Mama, Papa und ich – die einfachen Menschen – wussten es besser.

Ich habe oft gehört, dass wir „einfache Menschen“ seien. Ich habe mich immer über diese Bezeichnung gewundert. Ich habe mich und meine Lieben nie als „einfach“ empfunden. Ich glaubte wir wären einzigartig mit unseren Gefühlen, unseren Schmerzen und Hoffnungen. Aber ich habe gesehen wie Mama und Papa diese dauernde Abwertung das Leben ausgesaugt hat. Irgendwann resignierten sie. Sie waren dann einfach „einfach“. Und wahrscheinlich wäre das das Leben gewesen, das auch auf mich gewartet hätte. So nach den Vorstellungen der guten Menschen, die gescheiter sind als ich und meine Eltern: das einfache Leben ohne Hoffnung wäre meines gewesen.

Aber dann hat der mit den bösen, dunklen Augen mir die Hände um den Hals gelegt. Zu große Hände für meinen kleinen Hals. Er hat zugedrückt. Geschnauft und geächzt hat er. Und ich habe gestrampelt. Unter mir die fleckige Matratze, wollte ich zuerst diesen Menschen wegtreten, der mich so quält. Aber er war stärker und letztlich trat ich mein Leben weg. Und dann wurde es warm und dunkel.

Ich wurde weggeworfen wie ein Ding. Wie Mist vor das Haus wurde ich auf die Straße geworfen. Mein kurzes, trauriges Leben hat mit einer letzten Entwürdigung geendet.

Jetzt frage ich euch: „Wie konntet ihr das zulassen?“ Ihr habt doch gewusst, wie unerträglich unser Leben geworden ist. Eine von den „Guten“ verordnete Unerträglichkeit. Sie, die sich in allen Positionen festgesetzt haben, die es erlauben das Regelwerk unseres Zusammenlebens zu bestimmen, haben uns geopfert. Lange haben sie geleugnet um dann zu erklären, dass unsere – es waren immer ihre – Gesetze eben nichts anderes erlauben. Billigend haben sie mein Leben geopfert. Zu klein um wichtig zu sein, gemessen an ihrer großen Sache. Vorher schon eures. Was habt ihr so gefürchtet? Warum habt ihr euch nicht mit allen Mitteln gewehrt? Was hätte denn noch Schlimmeres passieren können? Für mich ist es zu spät. Die Anna, meine Freundin, lebt aber noch. Und sie leidet jeden einzelnen Tag. Lange bevor etwas passiert, und man unsere Folterknechte vielleicht loswerden könnte, leidet sie. Und auch ihre Eltern sind ausgelaugt, leer und jeder Würde beraubt. Ihr bekommt jetzt noch eine Chance. Macht es besser. Nehmt den überheblichen, selbstgefälligen Besserwissern unser Leben wieder weg. Es gehört uns, nicht denen. Macht es jetzt, oder lebt mit der Schuld!

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