Finger weg von Griechenland (u. anderen Mittelmeerländern)

Ein paar Gedanken zur industriellen Maßlosigkeit Europas.

Während meines Urlaubs auf Kreta im Juni 2014 habe ich über ein paar Aspekte zum Thema Europa nachgedacht, über die man in den Medien wenig liest. Dort geht es eigentlich immer nur um wirtschaftliche, finanzielle oder ordnungspolitische Fakten, Zahlen und Zusammenhänge. Diese dominieren jede Diskussionen um Europa. Und genau das ist schon ein Teil des Wahnsinns. Wir werden dumm gequatscht mit immer neuen Zahlen, Statistiken und Prognosen, die Billionen und Fanstatillionen rauschen an uns vorbei und machen uns in ihrer tumben Abstraktheit blind für das, was dahinter steckt.

Man kann die Krise Europas meiner Meinung nach nicht isoliert von der globalen Krise eines entfesselten Kapitalismus betrachten, der offensichtlich in der Endphase angekommen ist. Man muss kein Sozialist sein, um zu erkennen, dass Systeme, die permanentes Wachstum brauchen, eine geringe Stabilität und eine begrenzte Lebensdauer haben. Aber auch dabei geht es mir nicht um Zahlen und Prognosen, sondern um den Wahnsinn, der in der permanenten Effizienzsteigerung und dem allgegenwärtigen Optimize-to-the-Max zum Ausdruck kommt, und der bis in den privaten Bereich reicht. Dass Deutschland hier die Führungsrolle innehat, quasi den Einpeitscher gibt, sollte eigentlich offensichtlich sein.

Schließlich möchte ich bei meinen Gedanken, die sich im Kern um das Verhältnis von Süd- und Nordeuropa zueinander drehen, über eine für mich ungemein faszinierende Entdeckung schreiben. Während wir uns heute an das mediale Junkfood der Medien gewöhnt haben, an die Statements, Zahlen und Prognosen, die allenfalls eine Halbwertzeit von wenigen Tagen haben, gibt es kluge Einschätzungen aus den Fünfziger Jahren (!) des letzten Jahrhunderts, die gerade heute aktueller sind denn je.

Kreta im Juni 2014

Ich sitze in meinem Hotelzimmer auf Kreta auf meinem Bett und betrachte kopfschüttelnd mit einem breiten Grinsen im Gesicht die Wand. In der Mitte des Doppelbettes befindet sich ein Doppelschalter und rechts und links über den Betthälften ist jeweils eine Leuchte montiert. Betätigt man nun den linken Schalter, leuchtet die rechte Lampe auf und mit dem rechten Schalter betätigt man die linke Leuchte. Ja, so sind sie die Griechen. So kenne und so liebe ich sie.

Matala, ein kleiner Ort an der Südküste Kretas gelegen, ist ein touristischer Höhepunkt der Insel. Jeden Tag karren Dutzende von Bussen Touristen aus den Urlaubsghettos der Nordküste heran, die beim Anblick der sichelförmigen Bucht und des malerischen Ortes aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Ich war vor über 30 Jahren das erste Mal hier und habe auf dem mäßig besuchten Campingplatz, der direkt an den Strand angrenzt, genächtigt. Damals hätte ich darauf gewettet, dass in spätestens 5 Jahren auf dem Gelände - zweifelsohne einem touristischen Filetstück – ein Hotel oder ein Bungalowkomplex steht. Mittlerweile war ich bestimmt zehn Mal hier und der Campingplatz ist immer noch da. Es gibt sogar eine neue, kleine Sanitäranlage nachdem der Platz vorher zwei Jahre lang nicht bewirtschaftet wurde, aber offen war. Überhaupt hat sich in Matala in den letzten 30 Jahren kaum etwas verändert. Die Besucherströme sind größer geworden, es gibt ein paar Hotels mehr an der Hauptstraße zum Ort, aber insgesamt ist bemerkenswert wenig getan worden und es gibt zahlreiche Baulücken mit verwildertem Bewuchs und baufällige Katen, in denen Einheimische wohnen. Undenkbar an anderen touristischen Prime-Locations. Dort hätte man ein Eldorado geschaffen. Aber so sind sie die Griechen. So kenne und so liebe ich sie.

Ich könnte noch zahlreiche Beispiele dieser Art aufführen. Von meinen Kreta- und anderen Griechenlandreisen oder aus der Zeit, als ich für und mit Griechen gearbeitet habe und alte LKWs nach Volos überführt habe. Der Grieche (jetzt geht es los mit den Pauschalisierungen) scheint sich dem Terror unserer hektischen Wirtschaftslogik zu widersetzen, die da lautet: „Man kann es machen, es bringt was, also wird es getan!“ In Griechenland - und in ähnlicher Form in anderen Mittelmeerländern - sieht man solche Dinge mit etwas mehr stoischer Gelassenheit: „Man kann es machen. Wäre vielleicht ganz nett. Muss man aber deshalb noch lange nicht.“

In Griechenland unterwirft man sich nicht so ohne weiteres einem perfiden Wachstums- und Perfektionszwang. Man hat sein eigenes Maß. Und was die Arbeit angeht, so „arbeitet man, um zu leben“ und „lebt nicht, um zu arbeiten“.

Lasst den Völkern ihr eigenes Maß.

Genug ist genug - was für eine boshafte Vorstellung für uns ruhelosen Nordeuropäer. Wie? Genug? Wer sagt das? Was ist der Maßstab? Ist der verifiziert, allgemeinverbindlich anerkannt und auf 10 Stellen hinter dem Komma genau? Es gibt kein „Genug“, man muss immer weiter, höher, schneller voran. Mehr Wachstum, mehr Fortschritt, mehr Wohlstand, mehr Arbeitsplätze, mehr Bürokratie, mehr Ordnung. So lautet das wahnsinnige Credo der Maschinenmenschen, deren Welt zunehmend aus den Fugen gerät. Ähnlich dem aus der Werbung bekannten Duracell-Hasen rappeln und zappeln sie, bis die Batterie leer ist.

Und es gibt immer was zu tun in einem gnadenlos auf Wachstum getrimmten Wirtschaftssystem. Irgendwo gibt es immer noch winzige Differenzen, deren Ausschöpfung sich bei genügendem Volumen lohnt. Und wenn man Krabben zum Pulen nach Marokko kutschiert.

Als Tourist befindet sich der Nordeuropäer im Süden in einem fruchtbaren Reizklima der besonderen Art. Auf der einen Seite genießt er Lebensfreude und Gelassenheit seiner südlichen Nachbarn, auf der anderen Seite staunt er fassungslos über dieses und jenes und seine innere Stimme flüstert fortwährend: „Aber hier hätte man doch,…hier müsste man aber…da könnten sie aber auch mal…“.

Ja: hätte, könnte, müsste. Welt im Konjunktiv. Tun sie aber nicht. Weil sie dann genau wie wir wären; Lebensfreude und Gelassenheit sind futsch und die hektische Suche nach Opportunities, nach Perfektion und Wachstum und das Diktat des Optimize-to-the-Max würden jede Lebensqualität überschatten. Der Gott der Effizienz kennt keine Gnade.

Quantität statt Qualität

Das Leben im Norden: Lebensquantität, messbare Kriterien, Kennziffern in Arbeitssoll und Wohlstandhaben, Anhäufung von Gütern und Elend, die Logik der Daten und die Vereinzelung der Menschen, die als Singles mittlerweile in Deutschland jede 3. Wohnung alleine bewohnen und zwischen Zukunftsangst und Wohlstandsversprechen hin und her gerissen sind. Dabei haben sich die Wohlstandsversprechen längst als Lüge erwiesen, sozialer Aufstieg findet bei uns kaum noch statt, die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander, die Mittelschicht wird zunehmend atomisiert und wir werden trotzdem nicht müde, den Griechen und anderen Mittelmeervölkern zuzurufen: weiter, schneller, mehr, zackzack im Stechschritt uns nach. Mehr Tempo, mehr Wachstum, mehr Effizienz. Kommt uns nicht mit Qualität, wir kennen nur Quantitäten und die werden jeden Tag neu errechnet: Wachstumsraten, Schuldenstände, Bruttosozialprodukt, Investitionsvolumen, statistische Mittelwerte oder Return on Investment. Denn die Show muss weitergehen. Stillstand ist Tod.

Vor einiger Zeit habe ich auf NDR eine Reportage über Kreta gesehen. Dort wurden auch einige Familien, Händler und Tavernenbesitzer befragt, denen es in der Krise deutlich schlechter geht. Was sie denn machen, wenn die Krise sich weiter verschärft, wurde gefragt. Der lakonische Tenor: zusammenhalten, weitermachen und ein bisschen Landwirtschaft treiben – „so machen wir es hier seit Jahrhunderten“. Klar, da tut sich das Drittel deutscher Singlehaushalte dann doch deutlich schwerer, sollte es zum großen Crash kommen. Hier hat man sich auf Gedeih und Verderb dem Wachstumswahn verschrieben. Traditionelle Strukturen und Familienbande spielen hier eine weit geringere Rolle als im Süden. Man ist Einzelkämpfer.

Sind das nicht furchtbar pauschale Aussagen? Mich plagt ein Anflug von schlechtem Gewissen. So sehr sind wir darauf konditioniert, dass nur das existiert und Gültigkeit besitzt, was quantifizierbar und definierbar ist. Als wenn die Flut von Zahlen und Daten, die täglich durch die Medien rauschen und deren Gültigkeit nur wenige Stunden oder allenfalls Tage beträgt, die Wirklichkeit besser beschreiben würde, als qualifizierte Pauschalurteile. Es scheint Teil des Plans zu sein, dass nur die Herren der Zahlen, die sogenannten Experten, eine Deutungshoheit besitzen und das Volk zu schweigen hat. Immer abstraktere Zahlen und Zusammenhänge, immer fantastischere Summen, sollen uns zum Stillhalten verdammen. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, dass Politik – sei es auf nationaler oder europäischer Ebene – jemals etwas anderes war, als Finanz- und Wirtschaftspolitik. Jedenfalls findet sich in den Medien und Diskussionen fast nichts über Ziele, Werte, Ideale, Visionen - dafür umso mehr über die trostlosen Ouantitäten, die man glaubt, messen zu können.

Verdammte Populisten

Alptraum der bürokratischen Krämerseelen und Erbsenzähler, der willfährigen Politiker im Dienst nebulöser Interessengruppen ist dann auch der „Stammtisch“, wo angeblich der Populismus blüht und dunkle, national bestimmte Kräfte walten. Ein Ort des rückwärts gerichteten Schreckens. Dabei hat der „Stammtisch“ sicher mehr Recht als die Zahlenfetischisten, einfach weil hier über eine Wirklichkeit gesprochen wird, die mehr umfasst, als man in Zahlen ausdrücken kann. Das wird allerdings von der Politik in maßloser Arroganz gern übersehen und nur kurzfristig bedauert, wenn das Volk nicht so wählt, wie man sich das vorgestellt hat. Dann heißt es, man hätte mehr erklären und vermitteln müssen und dann macht man sich dran, wieder neue Zahlenkolonnen zu produzieren und auszuschütten. Nein, der „Stammtisch“ hat Recht. Und zwar der deutsche ebenso wie der griechische. Denn hier geht es um eine Wirklichkeit, in der Menschen im Mittelpunkt stehen und nicht die zynischen und frisierten Daten- und Faktensammlungen, die uns die sogenannten Eliten tagtäglich um die Ohren hauen, um die große Inhaltsleere zu verschleiern.

Blick von außerhalb

Ich stand in Mires, im Süden Kretas, an einer Busstation und unterhielt mich mit einem australischen Rentner, der einige Wochen in Griechenland herum tourte. Er deutete auf das Gewirr von Stromleitungen, die an den Holzpfählen hingen und monierte etwas die rückständige Infrastruktur in Griechenland im Vergleich zu Deutschland. Ich gab zu bedenken, dass diese in weiten Teilen der USA auch nicht gerade besser sei und erzählte ein wenig über Deutschland, etwa dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft, die Sozialsysteme zunehmend erodieren und die Chancengleichheit kaum noch gegeben ist. Da wurde er nachdenklich und sagte schließlich mit einem Anflug von Resignation, das wäre in Australien auch so. Schuld wäre unter anderem, dass sich alles nur um Geld dreht und dass ungeheure Summen vor allem chinesischen Geldes ins Land fließen, die letztlich alles zerstören. Auch in Australien hat die Finanzwirtschaft die Realwirtschaft und die Menschen scheinbar fest im Griff.

Dann sprachen wir kurz über Europa, die Krise und das Verhältnis zwischen Nord- und Südeuropa. Und da sagte er – der Bus war bereits zu sehen – zwei Dinge von großer Schlichtheit und einer Wahrheit, die noch nicht durch das elende Zahlen-Gequatsche aus Politik und Medien entstellt war. Er sagte erstens, dass das Zusammenwachsen nur gelingen könnte, wenn der Norden sich dem Süden angleicht und umgekehrt. Und zweitens, dass das wohl mehrere Generationen dauern würde. Dann stiegen wir in den Bus und er setzte sich zu seiner Frau. Ich ging nach hinten und dachte verblüfft über seiner schlichten Statements nach.

Sicherlich braucht so ein Zusammenwachsen von Völkern, Kulturen und Traditionen vermutlich mehrere Generationen. Anscheinend wollten gewisse Kreise darauf nicht so lange warten und haben den Völkern Europas den Euro verpasst, um ihnen etwas Dampf unter dem Hintern zu machen. Soviel ich weiß, gab es damals auch zahlreiche Befürworter einer „Krönungstheorie“, das heißt, der Euro wird erst als „Krönung“ eines europäischen Zusammenwachsens viel später eingeführt. Vermutlich wäre das der bessere Weg gewesen.

Wirtschaftsimperialismus, was sonst?

Viel mehr beschäftigte mich die Aussage, dass das Zusammenwachsen nur gelingen könne, wenn der Norden sich dem Süden angleiche und umgekehrt. Als Deutscher, der tagtäglich unserer Medienpropaganda ausgesetzt ist, fragte ich mich, was wohl schwieriger sei, dass die Südeuropäer sich uns annähern oder wir den Südeuropäern. Ich überlegte, ob ich zu diesem Thema schon mal was in den Medien gelesen hatte. Ich konnte mich an nichts erinnern, denn das stand und steht ja wohl nirgends zur Diskussion! Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass wir hier von Wachstumsfetischismus, Perfektionszwang, Effizienzterror und Regelungswahn Abstand nehmen und uns dem Süden annähern. Wir sind das Maß aller Dinge, wir haben die größte Wirtschaftskraft und am deutschen Wesen allein sollen der Süden und ganz Europa genesen. Wo kämen wir hin, wenn bei uns Lichtschalter nicht mehr perfekt und normgerecht montiert werden, Opportunities nicht genutzt und Installation über Putz verlegt werden? Nein, nein, - der Süden muss sich uns angleichen, basta!

Und plötzlich, auf dieser Fahrt von Mires nach Heraklion, verstand ich die Wut und den Hass auf Deutschland, den die Berichte aus Südeuropa zeigten. Ich gebe zu, mir war das nicht ganz klar, denn uns wird ja immer erzählt, es ginge nur ums Geld. Gut, die Griechen hatten eine Riesenparty auf Pump gefeiert und nun ist es doch mehr als angemessen, dass man den Gürtel enger schnallt und nicht über den Kater lamentiert und anderen die Schuld gibt. Auch der deutsche „Stammtisch“ hat Recht.

Und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass diese Party nicht nur in den Banken und bei den Eliten gefeiert wurde. Ich war damals ein paar Jahre nach Euro-Einführung wieder auf Kreta und – ehrlich – man hatte den Eindruck, es hätte Geld geregnet. Überall wurde an den Häusern renoviert, neue Autos auf den Straßen, und in den letzten Winkeln im Süden begegneten einem immer wieder diese großformatigen Schilder „Hier wird mit Geldern der EU gebaut“. Die Saison war bei meinem Besuch damals schon vorbei, aber in den Hinterhöfen entdeckte ich zu meiner Verblüffung jede Menge Bananenboote, Jetskies und dergleichen, die man sich auf Pump hatte aufschwatzen lassen. Der Gipfel war, als ich sah, dass in meinem verschlafenen Lieblingsort an der Südküste eine Bimmelbahn für Touristen durch die engen Gassen fuhr. Heute gibt es vieles davon – gottseidank - nicht mehr.

Natürlich kann man über die Zahlungen und Kredite an die „schludrigen“ Südländer klagen (wobei ja offensichtlich ein großer Teil der Gelder umgehend wieder zurückfließt…), vor allem weil in Deutschland dringend Geld benötigt wird, etwa für die Sozialsysteme oder die zunehmend marode Infrastruktur (z.B. Brücken). Nur sollte man nicht vergessen, dass das Spiel nicht heißt „Unterstützung notleidender, ziemlich undisziplinierter Verwandter“, sondern eher „Imperialismus“. Der Süden soll gefälligst so werden wie der Norden, der sich keinen Schritt auf den Süden zubewegt.

Diese ganze Diskussion hierzulande über Europa und insbesondere das Verhältnis von Nord- zu Südeuropa ist dermaßen verlogen und ignorant, dass es weh tut. Sie wird bestimmt von Erbsenzählern und Bürokraten, die alles primär aus der Perspektive fiktiver Bilanzen sehen. Und die Medien plappern unreflektiert die Statements der „Experten“ nach. Schlimmer noch: sowohl Befürworter als auch Gegner dieses europäischen Wahns bedienen sich derselben Argumentationsplattform, einer wirtschaftlichen und finanzpolitischen. Es wird über Quantität geredet, nicht über Qualität. Am schlimmsten aber: Wir sehen das Problem nur aus einer Perspektive, den Blick von Nord nach Süd gerichtet. Wo sind die Medien, die uns auch einmal aus einer anderen Perspektive versuchen, Europa verständlich und sympathisch zu machen und die uns mehr bieten, als neue Prognosen und Finanzdaten? Aber es ist natürlich Teil des Kulturimperialismus, den der Norden betreibt, dass nur eine Perspektive Gültigkeit hat. Außerdem findet der Blick von Süd nach Nord wenig Schmeichelhaftes, denn aus dieser Perspektive zeigt der Norden seine hässliche Seite.

Vor allem aber ist es dringend notwendig, sich einmal von dem tagespolitischen Geschacher loszusagen und Themen wie Wirtschaft, Politik und Finanzen den bezahlten Propagandatröten zu überlassen, die für ihre kruden Verlautbarungen jederzeit das passende Zahlenwerk aus der Tasche ziehen.

Hören wir auf beleidigt zu tun und uns zu fragen, was die Griechen oder allgemein die mediterranen Völker uns „antun“ in Zeiten von Euro- und Schuldenkrise, wenn wir diese Länder als Bremsklotz auf dem Weg zu einem - ziemlich deutschen – Europa sehen, als Hallodris, denen es nur um ihre Lebensqualität geht und die partout nicht zu uns ins graue Hamsterrad steigen wollen.

Streifen wir also das Joch der tagespolitischen Sach- und Argumentationszwänge ab und blicken von Süd nach Nord. Lassen wir die „Experten“ verstummen und lauschen wir den weitsichtigen Propheten.

Aktueller denn je: Kritik aus den Fünfziger Jahren

Propheten? Wie anrüchig! Doch keine Sorge, es gibt oder gab sie wirklich. Und wenn ihre Prophezeihungen sich bereits bewahrheitet haben, sind sie eine durchaus vertrauenswürdige Quelle.

Albert Camus war so einer. Er schrieb Anfang der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts: „Der eigentliche Konflikt dieses Jahrhunderts besteht […] zwischen den deutschen Träumen und der mittelmeerischen Tradition“.

Ebenso verblüffend wie die Weitsicht Camus` warten für mich Begriffe wie „mittelmeerische Tradition“ „Mittelmeerutopie“ oder „Mittelmeerunion“. Das ganze scheint irgendwie von der Geschichte hinfort gespült worden zu sein. Iris Radisch schreibt in ihrer absolut lesenswerten Camus Biografie, aus der ich im Folgenden noch öfters zitiere: „Neben den Großideologien des 20. Jahrhunderts wirkte das Mittelmeerdenken zu regional, zu defensiv und auch zu vage, um im Wettkampf der Gesellschaftstheorien und Lebensmodelle eine führende Rolle zu spielen. Die Sprengkraft, die in ihm liegt, wird seither unterschätzt.“

Diese Sprengkraft – da bin ich sicher – werden wir früher oder später noch zu spüren bekommen. Tatsache ist, es gab dieses Denken – von der Schwärmerei bis zur Vision einer konkreten Mittelmeerunion, die vor einiger Zeit Sarkozy noch einmal aufs Tableau brachte. Und was ich über dieses Thema finde, ist aktueller denn je. Denn das „mediterrane Denken“ verbindet einen großen, traditionsreichen und tausende Jahre alten Kulturraum auf beiden Seiten des Mittelmeers. Camus verstand es als Gegenentwurf gegen die „industrielle Maßlosigkeit“ der Deutschen. Wohlgemerkt: Anfang der fünfziger Jahre!

Wer weiß, wenn uns diese Maßlosigkeit, die auch die Maßlosigkeit eines entfesselten Kapitalismus ist, einer fortwährenden, ruhelosen Quantifizierung der Welt, an den Abgrund geführt hat, vielleicht kann uns diese Mittelmeerutopie dann helfen. Denn tatsächlich steckt dort ein anderer Entwurf dahinter, der die Lösung vieler aktueller Probleme beinhaltet, die die allgegenwärtige Maßlosigkeit aufwirft. Europa könnte eines Tages noch sehr froh darüber sein, von den Griechen und anderen Mittelmeervölkern lernen zu dürfen!

Der Alptraum von der Weltfabrik

Camus` Albtraum scheint inzwischen Wirklichkeit geworden zu sein. Eine Gesellschaft in der «zweitausend Bankiers und Techniker über ein Europa von hundertzwanzig Millionen Einwohnern herrschen, wo das Privatleben vollständig mit dem öffentlichen Leben zusammenfällt, wo ein absoluter Gehorsam der Tat, des Gedankens und des Herzens“ nur ein Ziel kennt: Produktivität, Wachstum und Effizienzsteigerung. Iris Radisch schreibt: „Schon zu Beginn der fünfziger Jahre ahnt er die drohende Verwandlung Europas in eine «Weltfabrik», in der das Leben uniformiert und «immer mehr vom Rhythmus der Produktion bestimmt wird». Er prognostiziert, dass die «wahren Leidenschaften» ökonomisiert und «die Verstümmelung des Menschen vervielfacht werde.“

Welche Weitsicht! Wo hatte der Mann das nur her? Auch seine Kritik am Wahnsinn des Wachstums – „die industrielle Zivilisation schafft und provoziert die künstlichen Bedürfnisse, indem sie die natürliche Schönheit abschafft und sie auf weiten Strecken mit dem Industrieabfall bedeckt“ – könnte aktueller nicht sein. „Camus träumt von einem Europa, das nicht von Tag zu Tag reicher, trauriger und hässlicher wird, in dem niemand mehr «die Freude aus der Welt wegwischt und auf später verschiebt“ (Radisch).

Ich jedenfalls träume da gerne mit und lache denen ins Gesicht, die uns immer wieder auf später vertrösten und uns raten, uns im gegenwärtigen Jammertal mit seinen immer zahlreicheren Ein- und Beschränkungen besser erst mal einzurichten. Kann schon sein, dass es in Europa irgendwann mal die berühmten „blühenden Landschaften“ gibt. Nur werden es vermutlich blühende Disteln sein. Und bei aller Kritik an diesem Europapfusch träume ich von einem Europa, wo der Norden vom Süden genau so viel lernt, wie umgekehrt.

Nein, da pobiere ich doch lieber den Lichtschalter erst mal aus, freue mich darüber, dass es offenbar noch Menschen im Süden gibt, denen Lebensqualität vor Quantität geht und die das Rattenrennen nach mehr Effizienz und mehr Ordnung nicht ohne weiteres mitmachen.

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Antonik Seidler

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