Ich mache mir viele Gedanken um meine Zukunft und Vergangenheit und das Jetzt. Vor allem vor dem Einschlafen, nachts. Wenn die Welt fern ist und ich in meinem Bett liege. Eingerollt in meine Decken, wie ein Kokon. Und es nichts mehr anderes gibt als Stille, Dunkelheit, meine Gedanken und mich.

Es ist Freitag Nacht, 22:00, in einem kleinen Ort, südlich von Wien. Hier bin ich aufgewachsen. In einer alten Villa, inmitten von Wald und viel Ruhe. Mein altes Kinderzimmer. Seit meinem Auszug vor rund drei Jahren hat sich hier kaum etwas verändert. Es steht alles noch genauso da, wie ich es damals verlassen habe. Ich liege in meinem alten Bett, das Fenster weit offen.

Es ist der 9. September, die Luft und das Abendlicht haben sich verändert. Der Herbst kommt.

In meiner Geburtsurkunde steht, dass mein Leben an einem fernen Ort in Indien begonnen hat. Es ist dieser Ort, dessen Namen ich nie aussprechen möchte. Zu fern ist er, zu fremd. Er öffnet eine Tür zu einer Geschichte, von der nur wenig bekannt ist. Es ist meine Geschichte. Meine Adoptionsgeschichte.

Sie beginnt mit meiner Zeugung, im Bauch einer anderen Frau. Man hat mir diesen einen Namen gegeben, der als mein zweiter Name eingetragen wurde. Früher mochte ich ihn nie. Ich habe mich für ihn geschämt und wollte nicht das er auf Schulzeugnissen, Anwesenheitslisten oder Urkunden aufscheint. Heute begegne ich ihm mit mehr Neugier und Dankbarkeit als Ablehnung. Ein Name ist Identität. Mit ihm haben mir meine leiblichen Eltern ein Gesicht gegeben. Und sie haben mich an ein Waisenhaus abgegeben und mir Leben ermöglicht.

Ich habe viele Bilder zu Waisenhäusern in meinem Kopf. Aus Dokumentationen zum Beispiel. Leere, karge Räume. Viele Gitterbetten und zu viele Kinder. Kinderweinen, Sehnsucht und Hoffnung liegen in der Luft. So viel Hoffnung. Ich möchte diese Bilder nicht mit dem Waisenhaus in Verbindung bringen, in dem ich meine ersten Lebensjahre verbracht habe. Zu trostlos wäre diese Vorstellung. Ich traue mich aber auch nicht meine Eltern zu fragen, wie es ausgesehen hat. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht habe ich Angst vor der Realität. Weil ihre Worte eine Wirklichkeit schaffen würden, mit der ich zurechtkommen müsste. Weil es ja so war.

Ich möchte an den Tag zurückgehen, als meine Eltern mich das erste Mal gesehen haben und ich sie gesehen habe. Ein Zufall hat uns zueinander geführt. Nicht mehr und nicht weniger. Ich möchte miterleben, wie sich unsere Augen das erste Mal treffen. Der Beginn unserer Geschichte. Warum ich und nicht eines der anderen Kinder in diesem Raum? Eine dieser Fragen in dieser Geschichte, auf die es keine Antwort gibt.

Ich habe Indien verlassen und begonnen, zu leben.

Meine Eltern haben mir alles gegeben, was ich für einen guten Start ins Leben gebraucht habe. Eine geschützte Kindheit, Bildung, ein Zuhause. Und Liebe. Unendlich viel Liebe.

Heute bin ich 24 Jahre alt. Ich studiere auf einer Fachhochschule. Ich möchte nach meinem Studium ein Volontariat machen, die Welt bereisen, einen Mann finden und lernen, was es bedeutet, zu lieben. Ich habe eine Liste an den Ländern, in denen ich eine Zeit lang leben möchte, und ich habe eine Liste mit meinen Lieblingshunderassen, die ich einmal haben möchte.

Was für Wünsche und Träume hätte ich, wäre ich in Indien aufgewachsen? Und hätten sie sich erfüllt?

Ich habe damals vieles zurückgelassen. Eine Frau, die mich geboren hat. Vielleicht einen Mann, der mein Vater hätte sein können. Eine andere Familie. Ein anderes Leben.

Ich möchte keine Details und Einzelheiten über meine Adoption wissen. Zu viele Fragen würden aufkommen, zu wenig Antworten gäbe es. Glaube ich. Aber ich möchte das Land bereisen. Ich möchte sehen, wie die Menschen dort leben. Einen Hauch von Ahnung bekommen, wie auch mein Leben hätte aussehen können. Vielleicht finde ich auch so Antworten.

Muss ich wissen, wer meine leiblichen Eltern sind? Muss ich den Grund erfahren, warum ich hergegeben wurde? Für manches findet man keine Worte, nicht alles muss ausgesprochen werden. Es ist dieses eine Geheimnis, welches nur mich und noch zwei andere Menschen auf dieser Erde betrifft.

Bald habe ich Geburtstag. Ich bin im November geboren. Dieser Monat ist übersät von Feiertagen, die zum Totengedenken animieren sollen. Deshalb bezeichnet man ihn auch oft als Trauermonat. Mir gefällt diese Vorstellung. Für mich hat der November etwas düsteres, geheimnisvolles und tiefgründiges an sich. Jeden Geburtstag und jedes Weihnachten denke ich an meine leiblichen Eltern. Es wird stillschweigend ausgetauscht, was nicht in Worte zu fassen ist. Nicht oft bin ich ihnen so nah wie in diesen Momenten. Ich muss bei dem Gedanken daran lächeln.

Mir wird kalt, ich schließe das Fenster.

Eingerollt in meine Decken fallen mir die Augen zu. Der Schlaf hüllt mich langsam ein und meine Gedanken rücken in die Ferne. Träume tauchen auf, Bilder, die ich nicht mehr kontrollieren kann. Ich schlafe ein.

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