Es gibt Nächte, in denen man statt Schlaf die Essenz der Tage findet, die uns ungefragt heimsuchten. Zum Beispiel gestern.

Plötzlich steht der junge Mann vor mir, muskulös, kurzes Haar. Eben noch hatte er mit seinesgleichen gegrölt und die Veranstalter in leichte Unruhe versetzt. „FPÖ-Wähler“ war mein erster Gedanke und dann wollte ich es wissen. Schließlich gehört es in den letzten Wochen zum Programm, mit jungen, wütenden Männern zu sprechen und ihnen klar zu machen, dass der sogenannte starke Mann definitiv nicht die Lösung ist.

Wir kommen ins Gespräch. Er hatte einen gut bezahlten Job als Tischler in der Sargerzeugung. Die Firma schrieb immer Gewinne. Dann kam jemand auf die Idee, die billigeren Arbeitskräfte in Osteuropa zu beschäftigen. Standortwechsel des Logistigzentrums nach Simmering. Da stand der junge Mann vor der Wahl: Jobverlust oder 500€ weniger pro Monat und eine andere Abteilung im Geschäft mit dem Tod. Statt Särge zu fertigen, trägt er sie jetzt, die Toten. Das wünscht man sich ja, wenn man mit dem Tischlerhandwerk beginnt. Er wählte den fixen Job zu den neuen Bedingungen, da er irgendwann eine Familie gründen will und sich irgendwie damit abgefunden hat, dass die Schwachen zuerst getreten werden.

„Ich war in Parndorf.“

„Parndorf?“

„Parndorf. Von sieben Uhr früh bis drei Uhr morgens.“

„Du hast...“

„Ja, die schwammen in dieser Flüssigkeit...“

Ich schau in seine Augen, die so jung sind und die gesehen haben, was mein Vorstellungsvermögen übersteigt.

„Kannst du noch schlafen?“

„Ja. Da darfst du nicht anfangen zu denken, sonst kannst du den Job nicht machen.“

„Sie haben dich einfach gerufen und dann...hast du einen Mundschutz getragen?“

„Natürlich. Übergeben hab ich mich trotzdem.“

Er setzt sich wieder an den Heurigentisch. Zwei Tische links von seinen Arbeitskollegen sitzen ein paar von den Grünen und unterhalten sich. Ihre Kinder radeln herum, manche tanzen mit ihren Eltern. Ich sollte aufstehen und die, die links sitzen, bitten, denen die rechts sitzen zuzuhören. Weil sie diejenigen waren, die unsere syrischen Toten in die Sensengasse getragen haben, am Tag, an dem der syrische Krieg Mitteleuropa erreicht hatte und unsere Sprachlosigkeit das Einatmen vor der großen Solidaritätsbewegung war, die Strache jetzt instrumentalisiert.

Mein Bruder kommt. Wir trinken Bier und reden über Röszke. Am Anfang waren sie zu dritt, zu fünft, dann zu zehnt gewesen, hoffnungslos überfordert. Die vierzig JournalistInnen mit den großen Autos schickten die wichtigen Bilder um die Welt, aber die Helfenden brauchten jede Hand. Er war in der Nähe der Journalistin gewesen: „Ich bin so froh, dass ich das erst im Nachhinein mitbekommen hab. Ich weiß nicht, ob ich mich unter Kontrolle gehabt hätte, wenn sie neben mir das Kind...“ Von meiner Schwester weiß ich, das er nach ein paar Tagen an der serbisch-ungarischen Grenze zusammengeklappt ist. Er, der mit dem Rad in der Sommerhitze mal eben nach Kroatien fährt um dort durch die Stürme zu segeln.

Wir reden über „Kein schöner Land“. Über 8.000 Klicks aus 71 Ländern in 6 Tagen:„Ich muss das Video vom Netz nehmen.“ sag ich und hoffe immer noch, dass ich das nicht tun muss: „Die UNHCR, deren Videomaterial ich verwenden durfte, droht mir mit Klage, weil ich österreichische Spendenkonten einblenden ließ. Das ist dann schon Kommerzialisierung, das wusste ich nicht.“ Das Hickhack unter den Hilfsorganisationen finde ich ähnlich widerlich wie das Hickhack der Jugend aus den unterpriviligierten Schichten untereinander: Strachewähler versus Muslime.

Die kroatische Freundin meines Bruders kommt zu uns an den Tisch während seine DJ-Freunde auflegen. Sie erzählt von dem Gasthaus an der Grenze zwischen Slovenien und Kroatien: „Der Haupteingang liegt in Slovenien, der Küchenausgang in Kroatien. Ein Reporter filmte die Flüchtlinge, die durch das Gasthaus nach Kroatien gelangten und stellte die skurrile Story ins Netz. Kurze Zeit nachher war alles voller Helikopter und jetzt sitzt die Grenzschutzpolizei im Gasthaus.“

Ich stehe auf und geh tanzen. Wundere mich, dass mein Körper unversehrt mit der Musik verschmilzt. Als ob es die 71 Toten nie gegeben hätte, als ob mir die UNHCR nicht im Nacken sitzen würde, als ob mein Bruder sich an der Grenze nicht verausgabt hätte.

Dann lerne ich eine Lehrerin kenne, die Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. Sie erzählt mir von den Traumata der Musliminnen, die ihre Wohnungen erst verlassen durften um Deutsch zu lernen, als sie Geld dafür bekamen, das sie natürlich ablieferten: „Es ist nicht immer leicht, die Männer am Betreten des Kursraumes zu hindern. Denn Ehemann Ali sorgt sich um seine Frau, wenn Ehemann Mohammed in der Nähe ist, der wiederum seine Angetraute vor Ali schützt.“ Die Lehrerin weiß, dass sie in ihrem ausgewiesenen Frauenkurs oft die erste Kontaktperson ist, zu der die eingesperrten und oft misshandelten Frauen Zugang haben. Mittlerweile riecht sie die Betroffenen gegen den Wind und weiß, dass viele in Wien unsichtbar in einer Parallelwelt hausen. Und sie weiß auch, wie gefährlich es sein kann, Stellung zu beziehen. Sie hatte der jungen, intelligenten Muslima von den Frauenhäusern erzählt und beobachtete dann mit Sorge die Entwicklung der Schülerin in den Wochen der Fluchtvorbereitung. Hatte Angst, der Mann könnte ihre Veränderungen auch bemerken und dem Ganzen ein gewaltiges Ende setzen. Die Flucht mit den Kindern gelang. Getötet wurde die Schwägerin, die eine Mitwissende gewesen war. Der vereinsamte Ehemann bedrohte auch die Lehrerin, die ihre eigenen Kinder lange Zeit nicht mehr aus den Augen ließ. Wir reden noch lange über die Zunahme der Brutalität der Häuslichen Gewalt seit Ausbruch der sogenannten Wirtschaftskrise, die eine Systemkrise ist und darüber, dass das in der Öffentlichkeit kein Thema ist.

Die Tatsache, dass jetzt viele Kriegsflüchtlinge mit posttraumatischen Belastungsstörungen bei uns um Hilfe flehen, besprechen wir beim nächsten Bier. Werden wir fähig sein, die Wunden zu heilen, wenn sie Dächer über ihren Köpfen haben, die nicht von der wachsenden Rechten angezündet werden?

Mein pensionierter Vater, der uns wunderschöne Bilder aus Palmyra mitgebracht hatte, ein paar Wochen, bevor es losging, hat in der Jobvermittlung syrischer Flüchtlinge eine neue Lebensaufgabe gefunden. Er bringt sie auch mit nach Hause. Auch die bärtigen jungen Männer, vor denen die WienerInnen auf der Straße verstummen, wenn sie nach dem Weg fragen. Wer gibt einem dschihadistischen Schläfer schon gerne Auskunft über die Wiener Linien? Was die WienerInnen nicht kennen, ist der Humor der Fremden und ihr Staunen darüber, dass sie bei uns als Terroristen betrachtet werden, besonders wenn sie eine Tasche oder einen Rucksack tragen.

Ich geh wieder tanzen, ziehe alle Gedanke aus und merke, wie müde ich bin. Zu Hause leg ich mich ins Bett. Der Schutzwall, den ich errichtet hatte, um die 71 Toten nicht an mich heran zu lassen, beginnt zu bröckeln. Ich denke an den Tischler, der das Grauen entwirrt und transportiert hatte. Mir wird übel. An Schlaf ist nicht zu denken und es sind nur noch wenige Wochen bis zu den Wienwahlen.

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fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:14

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