Zum Thema #Beziehung zu bloggen ist ungefähr so wie Sterne zählen: wo anfangen und wo aufhören? Mein erster Gedanke fiel auf den Geburtstag meiner Tochter vor einem Jahr. Ja, das lohnt, aufgeschrieben zu werden:

Als meine Tochter vor zwei Jahren zu ihrem Geburtstag ihr erstes Smartphone bekam, versank sie in den Weiten des Netzes. Ich war nicht wirklich begeistert von der Konkurrenz in unserer Wohnung, aber da wusste ich auch noch nicht, was sie tat.

Eines Tages, während ich kochte, fragte sie mich: „Mama, weißt du, was genderfluid ist?“

„Nein.“

„Genderfluid ist ein Mensch, wenn er sich mal als Mann und mal als Frau fühlt.“

„Hört sich anstrengend an. Woher weißt du das?“

„Aus meiner WhatsApp-Gruppe. Da hab ich Sue kennengelernt. Sie schreibt gute Texte. Singen tut sie auch. Mörderstimme.“ Sue, ihre WhatsApp-Freundin aus L.A. hatte gerade einen Selbstmordversuch hinter sich, weil sie das ewige hin und her genauso wenig verkraftete wie die Reaktion ihrer Familie auf die Tatsache, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlte. Die WhatsApp-Freundinnen aus der Schweiz, Japan, Hawai und Tunesien sahen das anders, chatteten stundenlang mit Sue und sprachen ihr Mut zu. Sue bedankte sich mit einem starken Lied und schickte fröhlichere Bilder.

Meine Tochter vertiefte sich in das Thema, schrieb eine beeindruckende, 30-Seiten lange Schularbeit über Homosexualität und Geschlechteridentität und ging auf ihre erste politische Veranstaltung.

Ein anderes Mal fiel sie mir erleichtert um den Hals. Alia, die junge Frau aus Syrien, hatte sich sechs Wochen nicht gemeldet. Sechs Wochen lang hielten 15 junge Frauen rund um den Globus den Atem an und gingen jeden Morgen sofort in die Gruppe, nachdem sie ihre Wecker ausgeschaltet hatten. Meine Tochter hörte bei den Nachrichten zu, die sie plötzlich persönlich betrafen und war fassungslos mit welcher Kaltschnäuzigkeit manche Menschen hierzulande über die Ärmsten der Armen herzogen.

Da meldete sich Alia. Postete Bilder vom Flüchtlingscamp in Jordanien und das war der Augenblick, in dem ich mir wünschte, dass meine Tochter sie eines Tages besuchen fährt.

Mit Mirjam und Ulima war es kompliziert. Glücklicherweise war Zoe von den Philippinen inzwischen zur WhatsApp-Gruppe gestoßen, die großes diplomatisches Geschick bewies. Mirjam kam aus Tel Aviv, Ulima lebte mit ihrer Familie im Gazastreifen. Die ganz große Scheiße. Wieder und wieder. Dabei sahen sie sich sogar ähnlich. Hörten die gleiche Musik. Bekämpften einander verbal bis aufs Blut, schwiegen und versöhnten sich. Beide verließen die Gruppe nicht. Bis auf den heutigen Tag.

Als meine Tochter mit ihrer Klasse nach Hamburg fuhr, traf sie sich mit Julia. Sie verbrachten eine gemeinsame Stunde im Park, konnten ihr Glück kaum fassen, sich auch in der analogen Welt zu mögen und setzten ihr Gespräch da fort, wo sie auf WhatsApp aufgehört hatten. Sie luden gemeinsame Fotos hoch, tranken aus der gleichen Thermoskanne und genossen es, denk ich, langsam erwachsen zu werden.

Brasilien. In der Schule meiner Tochter ist im letzten Jahr der Brasilien-Hype ausgebrochen. Ständig wechseln GastschülerInnen zwischen Sao Paolo und Wien über den Atlantik und meine Tochter begann, arbeiten zu gehen, für den Flug zu sparen und einen Portugiesisch-Kurs zu besuchen. Die Gastfamilie hat sie sich schon organisiert und – sie hat entdeckt, dass Helena aus der WhatsApp-Gruppe im gleichen Stadtteil lebt. Helena ist die, die immer geniale Musik in die Gruppe stellt. Als meine Tochter mir das mit glühenden Wangen erzählte, machte ich ihr einen Vorschlag: „Du maturierst, arbeitest ein halbes Jahr und dann besuchst du all deine Freundinnen.“ Deal.

Und dann der Geburtstag. Als meine Tochter Geburtstag hatte, bat sie mich in ihr Zimmer, befahl mir, mich auf ihr Bett zu setzen und reichte mir ihr Handy. Kalina aus Russland hatte einen Film zusammengeschnitten, in dem alle WhatsApp-Freundinnen ihre Geburtstagsgrüße schickten. Im Hintergrund lief Sues neues Lied, Alia erzählte ihr, wie sehr sie sie liebte, Mirjam und Ulima posierten in ihren Zimmern und schickten ihr tausend Herzen, Julia hatte ein Filmchen ihres Hamburgtreffens bis heute aufgespart und Helena sprudelte portugiesisch über, was meine Tochter auch noch verstand. Glückwünsche von den Philippinen, aus Hawai und der Schweiz, von Tunesien, Neuseeland und Japan...ich saß da und weinte. Freute mich so für meine Tochter. Und für die Menschheit.

3
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Superlutz

Superlutz bewertete diesen Eintrag 08.02.2017 17:13:58

MartinMartin

MartinMartin bewertete diesen Eintrag 05.02.2017 19:31:17

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 05.02.2017 18:20:53

2 Kommentare

Mehr von Maria Stern