Scherbenhaufen (oder Katerstimmung) in der Bananenrepublik

Nach der gestrigen 21-Stündigen Marathonsitzung des brasilianischen Senats ist die brasilianische politische Geschichte, aufgrund der Absegnung des Amtsenthebungsverfahren der Präsidentin, um eine weitere skurrile Facette reicher.

Der Präsidentin Dilma Rousseff wird vorgeworfen, die Bilanzen frisiert und für unautorisierte Kreditvergaben verantwortlich zu sein. Dies soll nun in den nächsten 180 Tagen untersucht werden, um dann eine endgültige Entscheidung zu treffen.

Viele sprechen von einem Putsch, sie selbst von “illoyalen Verrätern”. Schon lange zeigt sich, dass die Präsidentin - und noch viel mehr - die seit 13 Jahren regierende Arbeiterpartei (PT) der brasilianischen Elite - darunter auch der PMDB (Partei von Michel Temer) - ein Dorn im Auge ist.

Dies war aber bis vor kurzem noch ganz anders, denn während des Wahlkampfes lobte Dilma ihren vorigen Vize und jetzigen Interimspräsidenten Michel Temer: “Ich habe einen kompetenten Vizekandidaten, mit viel politischer Erfahrung, und ich bin mir sicher, dass er unsere Regierung ehren und mich (bei Abwesenheit) ersetzen kann”.

Aus diesem Grund muss hier Platz sein für die Frage: Wer hat Michel Temer gewählt? Waren es nicht dieselben Wähler, die auch Dilma wählten? Klar waren es die selben Stimmen, auch wenn nur die wenigsten damit rechnen wollten, dass diese Situation eintreten könnte. Dies macht es allerdings nicht mehr so einfach, um ausschliesslich von einem Putsch zu sprechen.

Trotzdem kann und muss man sogar von einem Putsch sprechen. Staatsanwaltschaft, sich über dem Gesetz wähnende Richter, die Schlammschlacht des Medienkonzerns Globo, die gezielte Veröffentlichung von Telefonmitschnitten, die auch die Präsidentin betrafen, die schmutzige Politik, die lauthals gegen Korruption schreiende Elite sowie der sich einmal mehr “aus der Sache haltende” Oberste Gerichtshof... haben das ihre dazu beigetragen.

Dieser vermeintliche Traum des harmonischen Zusammenlebens der reichen Elite und der Armen des Landes auf dem politischen Parteiparkett ist nun aber wie in der Luft platzende Seifenblasen zu Nichts zerstoben. Nicht, dass ich mir dies gewünscht hätte, allerdings konnte ich der politischen Linie Lulas, seines “paz e amor (Friede und Liebe)” und Versöhnung aller Klassen von Anfang an nur sehr wenig abgewinnen. Schliesslich standen die Regierungserfolge wie Armutsreduzierung zum Großteil auf Füßen einer Umverteilung in einer Phase ökonomischer Boomzeiten, ohne diese Umverteilung grundlegend in die Besitz- und Machtverhältnisse eingreifen zu lassen. Dies ist umso gefährlicher, umso mehr es um ein Land geht, in der eine Elite regiert, die bekannt ist durch ihr menschenverachtendes Vorgehen gegenüber der eigenen Bevölkerung, flankiert durch politische Wallstreet-Treue und angetrieben von dem Eigeninteresse, dass einzig auf die eigene Bereicherung abzielt.

Kurios dabei ist, das es sich bei Michel Temer um den dritten Präsidenten der Partei PMDB handelt, der nicht per Wahlen ins Amt gehievt wurde. Denn nach José Sarney (1985) und Itamar Franco (1992) war es den eigenen PMDB-Kandidaten wie Ulysses Guimarães oder Orestes Quercia nie gelungen, über 5% der Wahlstimmen zu erzielen.

Apropos Korruption, denn das war in den letzten Tagen ja das Leitmotiv der Umtriebigkeit der Opposition aus dem rechten Lager und Grund des eingeleiteten Amtsenthebungsverfahren der Präsidentin Dilma. Der Interimspräsident selbst ist verantwortlich für die zusätzliche Vergabe anhand von sieben Dekreten – die er in Abwesenheit der Präsidentin Dilma unterzeichnete und die nun unter anderem als Anklagepunkte gegen die Präsidentin dienen – über die zusätzlichen Kredite in Höhe von R$ 10,8 Milliarden, die als „Bilanzricks“ ausgeschüttet wurden. Dazu kommt, das in der neugebildeten Regierungriege des Interimspräsidenten Michel Temers sich unter 22 Ministern (ohne eine einzige Ministerin) 18 befinden, die direkt in verschiedenste Korruptionsskandale involviert sind. Und Temer selbst seit Anfang Mai von einem Gericht als „unwählbar“ erklärt wurde, dh. er darf für kein politisches Amt sich zur Wahl stellen, weil er wahlkampfspenden falsch deklariert hatte. In Bezug auf die 18 neuen Minister, denen die Justiz in laufenden Korruptionsskandalen auf den Fersen hockt, da stellt sich die Frage, wie kann es zu deren Ernennung in den Ministerrang kommen, die wenige Wochen zuvor aus demselben Grund verweigert wurde?

Noch sind viele Fragen offen, wie sich all dies entwickeln wird. Die Vorzeichen stehen allerdings auf Sturm. Der brasilianischen Linken allerdings würde es gut tun, vor der eigenen Türe zu kehren. Es wäre wichtig anzuerkennen, dass die Partei alleine als Instrument für soziale, wirtschaftliche und politische Veränderungen nicht die Lösung sein kann und dass der politische Scherbenhaufen - angepasst an die geschichtlichen Veränderungen - neu organisiert werden muss. Die brasilianische Linke muss sich neu erfinden – und dazu bedarf es einen klaren und deutlichen Ansatzes von unten, von den sozialen Bewegungen ausgehend, jene soziale Bewegungen, die von den Regierungen Lula und Dilma 13 Jahre sträflichst vernachlässigt, ignoriert und teilweise – aus politstrategischen Machterwägungen heraus – sogar gezielt bekämpft wurden. Nichts ist schwerer als ein neuer Anfang, aber er muss gemacht werden.

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fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 13.05.2016 19:10:18

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