In der Fülle der Feiertage, die unseren Alltagstrott erschüttern, Reformationstag, Halloween, Allerheiligen, Allerseelen, spielt merkwürdigerweise das Erdbeben von Lissabon keine Rolle. Ein Jahr lang werden wir über Luther hören, was wir noch nie gehört haben und was wir vielleicht gar nicht hören wollen. Nicht nur der aggressive Antisemitismus und Antiislamismus der Neuzeit gehen auf ihn zurück, auch seine Katastrophen- und Höllenprojektionen wirken bis in die Gegenwart. Unbestritten ist sein Einfluss auf Bildung, Wohlfahrt und Chancengleichheit. Man kann ihm nicht genugtun. Aber kann man denn dem kleinsten und unbedeutendsten Menschen gerecht werden? Kann man den Nachbarn beurteilen, den Freund, die Ehefrau, den Ehemann, den Kollegen, die Vorgesetzte, die Eltern, die Kinder? Ein frühes Produkt der Neuzeit, an deren Beginn eben auch Luther steht, ist das Individuum und die Erkenntnis, dass es mehr Gründe und Gegengründe als Menschen und Ameisen gibt.

Am Allerheiligentag 1755 wurde Lissabon, das damals die Hauptstadt eines großen Weltreiches, des lusophonen Dreiecks war, von einem Erdbeben der Stärke neun, einem Tsunami und einem flächendeckenden Großbrand heimgesucht. Und es ist vielleicht einer der ersten Punkte der Menschheitsgeschichte, wo wir merkten, dass wir eben nicht heimgesucht wurden, sondern dass wir Teil der Natur sind, die nicht nur schön ist. Jeder kennt den Satz des Außenministers und späteren Kanzlers des portugiesischen Reiches angesichts der Verheerung, immerhin waren fast neunzig Prozent der teils wunderschönen Bausubstanz zerstört und die Hälfte der Einwohner tot, ‚begraben wir die Toten und ernähren wir die Lebenden‘. Das ist nicht nur ein äußerst mutiger Pragmatismus, das ist die Erkenntnis, dass wir Teil eines schönen und schrecklichen Gesamtsystems sind, das wir nur sehr bruchstückhaft verstehen. Der Kanzler musste erst aus seiner Gruppe heraustreten, um dies zu erkennen und um hilfreich zu handeln. Leider ist es oft so, dass die Herausgetretenen eine neue Gruppe der Wahrheitsbesitzer bilden, die wartet, bis das nächste Erdbeben ihre Wahrheit zerstört und ihren Führungsanspruch annulliert.

Dafür gibt es keine Lösung. Immer wieder werden Teile der Menschheit auf einfache Wahrheiten hereinfallen. Aber es gibt immer weniger Kriege. Immer wieder werden Menschen glauben, dass andere an ihrer Armut schuld sind. Aber es gibt immer weniger Hunger. Das Mehr an Bildung, das es erfreulicherweise auch gibt, scheint manchmal in neuen Medien zu ertrinken. Aber so ist es nicht. Die neuen Medien, zu Luthers Zeiten das Flugblatt, heute zum Beispiel Facebook, verstärken nur etwas, das da sein muss. Sie sind Medium, nicht Botschaft. Schwer zu erkennen ist beispielsweise die Gleichzeitigkeit: die neuen Medien trafen gleichzeitig auf Menschen, die endlich in der Demokratie angekommen und ihrer überdrüssig waren. Die von Nietzsche behauptete Verwechslung von Aktiv und Passiv tritt um so deutlicher hervor, je mehr Möglichkeiten das Passiv hat. Es möchte wahrgenommen werden, zunächst als Individuum, als Mensch, dann als Frau, als Kind, als Wähler, als Schwarzer, als Homosexueller. Es geht nicht um die Befreiung zum Konsum, sondern um die Emanzipation zur Bildung, zur Chancengleichheit, zur Elite. Alle Elitetheorien sind gescheitert. Am lächerlichsten war es, eine bestimmte Hautfarbe oder Herkunft a priori zur Elite zu erklären, die Weißen, die Adligen, die Arbeiter. Das ist schwer zu erkennen, wenn man in einer dieser Gruppen feststeckt. Dazu braucht man einen Marques de Pombal oder Luther, darf aber nie vergessen, dass diese, außer dass sie Revolutionäre sind, auch vom Zeitgeist bestimmt sind und bleiben. Luther blieb Antisemit, Pombal ging über Leichen und erlaubte den soeben verbotenen Sklavenhandel nun für die aufstrebende Kolonie Brasilien.

Es machte wenig Sinn, wenn man in den Schulen das Fach Revolutionskunde einführte. Schon sinnvoller lehrbar erscheint aber der Gedanke der Innovation, den wir uns immer noch zu sehr technisch und ökonomisch vorstellen. Wir lernen in der Schule nicht nur die Kulturtechnik des Schreibens, sondern auch, Texte zu verfassen. Hunderte von Jahren wurde die Schrift selbst als Gegenstand des Lehrens und Lernens betrachtet. Texte, selbst die von Lehrern bestehen aber immer noch aus Textbausteinen und Analogien. Durch diese Einschränkung, so wird argumentiert, können auch beschränkte Schüler zu höherer Einsicht gelangen. Es ist eben viel mühseliger, für jeden Schüler, für jeden Menschen nicht nur einen Pfad zu finden, sondern seinen. Das Paradox ist, dass es, je mehr Menschen es gibt, auch desto mehr Wege geben müsste. Aber wir dürfen uns von Paradoxa und Rückschlägen nicht irritieren lassen.

Die Hassbotschaften in den Medien sind ärgerlich, aber auch vergänglich, aber auch ein Ausdruck des gewachsenen Selbstbewusstseins. Es wäre doch merkwürdig, wenn Selbstbewusstsein nur in Kombination mit Gutmenschentum auftreten würde. Statt dessen geling es immer wieder, beide durch das Schüren von Ängsten zu schwächen. Darin war Luther mit seinem leibhaftigen Teufel leider auch ein Meister.

Warten wir auf den Feiertag, an dem auf einem Lutherdenkmal oder in Pombal ein bedenkenswürdiges Graffito steht.

2
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 30.10.2016 22:09:11

robby

robby bewertete diesen Eintrag 30.10.2016 16:30:55

Noch keine Kommentare

Mehr von rochusthal