Fünfter Hauptsatz: Man sieht nur mit dem Herzen gut.

Antoine Vicomte de Saint Exupery

Wir Menschen glauben alle und gerne, dass wir sehen, was wir sehen. Wir schwören auf unsere Beobachtungsgabe, Objektivität, Erkenntnisfähigkeit und unseren Wahrheitswillen. In dem Wort Scharfsinn verknüpft sich diese vermeintlich exakte Sicht mit der optimalen Verarbeitung unseres nie ausgelasteten und immer überforderten Gehirns. Bestärkt werden wir in dieser Selbstüberschätzung von falschen Propheten und Lehrern, die ihre kleinteiligen Weisheiten als empirisch nachvollziehbare religionsähnliche Wahrheiten verbreiten. Aber auch die Wirklichkeiten der alten Religionen predigen Abgeschmacktes, Heruntergezoomtes und als Geburtstagsgeschenke verpacktes, was wir in unser Wohnzimmer neben den Fernseher stellen können. Und der tickt auch Wahrheiten am laufenden Band, Nachrichten, nach denen man sich nicht richten kann, nach Sendern sortierte so genannte Fakten, mehr oder weniger manipulierte Bilder. Bilder sind insofern immer manipuliert, indem unsere Kameras einen Teil der von uns gewünschten Sichtweisen technisch herstellen, indem wir in bestimmten Situationen auch vorhersehbare Erwartungen haben, indem wir gewissenlos bereit sind, jede Veränderung als technisch bedingt und notwendig zu erklären. Darin bestärken uns die Politiker, die einerseits von Sachzwängen reden, denen man nicht ausweichen könne, und andererseits von alternativlosen Vorschlägen, diesen Sachzwängen auszuweichen. Die meisten Sachzwänge sind jedoch soziale Artefakte des Zeitgeistes. Wenn auch der Zeitgeist die Summe aller Interpretationen zu einem bestimmten Zeitpunkt ist, so lädt er doch eher zum Verharren ein als zum Weiterschreiten. Insofern ist Erkenntnis auch die berühmte Entscheidung zwischen Freiheit und Sicherheit. Sie führt so oft dazu, dass wir uns von den Mächten der Welt bestimmen lassen, die wir selbst sind. Und dann erschrecken wir vor uns und zeigen mit dem Finger auf die anderen. Zwar ermöglicht eine ‚mea culpa‘ Haltung auch Märtyrertum, aber erstens ist es ethisch vertretbarer Märtyrer statt Tyrann zu werden, obwohl wir alle vielleicht aus Bequemlichkeit das zweite wählen würden, wie wir aus Bequemlichkeit auch den Zweiten wählen, aber zweitens leuchten Märtyrer in die Zukunft hinein, weshalb die Demokratie oft so verzweifelt versucht, Märtyrertum zu verhindern. Märtyrer sind natürlich nicht nur Rechtsextreme und Linksextreme, Christextreme und Islamextreme, sondern auch Yesus, Gandhi, Korczak und King. Ziel einer eigentlichen Erkenntnis wäre eine mit Freiheit kombinierte Geborgenheit.

Wie elitär Verschlüsselung und Entschlüsselung sind, kann man gut aus der Geschichte der Decodierung der Wehrmachtsbefehle durch den polnischen, britischen, französischen und amerikanischen Geheimdienst erfahren. Die Wehrmacht benutzte eine elektromechanische Chiffriermaschine ‚Enigma‘, die Arthur Scherbius erfunden hatte, die wie eine Schreibmaschine bedient wurde, jedoch nicht den getippten Buchstaben als Ergebnis entließ, sondern einen nach dem Zufallsprinzip von drei unabhängigen Rollen ermittelten. Der chiffrierte Text war jedenfalls so kompliziert, dass die Wehrmacht bis an das Ende des Krieges an die Bewahrung seines Rätsels glaubte, obwohl die Alliierten jeden Tag viele tausend Befehle decodierten. Allerdings ging dem ein äußerst langwieriger mathematischer Prozess voraus, in dem versucht wurde, hinter den rotierenden walzen mit 26 Buchstaben Algorithmen zu entdecken. Die deutschen verbesserten ihre elektromechanische Maschine, die Polen, Franzosen, Engländer und Amerikaner decodierten die Codierung immer aufs neue. Alan Turing und anderen gelang es dann später, aus diesen arbeiten die Grundlagen der Simulation menschlichen Denkens im Computer zu gewinnen, ohne dass wir genau wüssten, wie denken oder besser gesagt Bewusstsein funktioniert.

Mathematik und Empirismus lassen uns glauben, dass alle unsere Erkenntnisse schon decodiert sind. Wir übersehen dabei die tiefe Verwurzelung auch elementarer Signale in unserem emotionalen Gedächtnis, was nicht nur viel größer und umfassender, sondern vor allem auch viel wichtiger für uns ist. Die Entscheidungsfreiheit des Menschen ist so gesehen noch viel eingeschränkter anzunehmen als wenn wir, wie bisher, von einer Freiheit des verstandesgesteuerten Willens ausgehen. Da aber gleichzeitig und parallel die Zahl und die Qualität der Erkenntnisse rasant gestiegen ist, kann sich eigentlich niemand mehr auf die gefühlsmäßige Bremsung einer verstandesgelenkten Entscheidung berufen. Eher ist es umgekehrt. Die Zahl der Verbrechen, vor allem auch der Kapitalverbrechen, nimmt ab, in großen Teilen der Welt hat kaum noch jemand Gelegenheit zu Taten, die früher gang und gäbe waren: Progrome, Lynchjustiz, Blutrache. Um so mehr stört uns, ganz zu recht, jeder einzelne Mord, und ganz zu Unrecht, jeder einzelne Tod.

Die eigentliche Erkenntnis ist Vertrauen. Die religiösen Grundlagen unserer Gesellschaft verbunden mit der Emanzipation von Freiheit und Individuum durch die Aufklärung, die Überschätzung des Verstandes einschließlich der Mathematik und das schließliche Verständnis für das Gefühl haben aus uns eine Gemeinschaft von im Vertrauen verbundenen Menschen gemacht, die es so vielleicht, im viel kleinerem Maße nur im Neolithikum gegeben hat. Die Jahrtausende dazwischen haben wir mit patriarchalischem Unfug, Krieg, nationalistischem Getümmel, Kampf gegen harmlose Minderheiten und dergleichen verbracht, eine grausame, vielleicht notwendige Übergangszeit.

Es ist keine Vision anzunehmen, dass sich das jetzt grundlegend ändert. Es muss sich gar nicht ändern. Wir hätten nicht überlebt, wenn nicht ein Großteil der Menschen, sagen wir etwa die Hälfte, schon immer vom Gefühl ausgegangen wäre. Durch die Zunahme an aufgeklärter Sicherheit kann sich aber immer mehr Freiheit ausbreiten, so dass wir heute beobachten können, wie sich immer kleiner werdende Minderheiten auf den Abwegen des vergangenen verlaufen. Zwar verharren andererseits große Bevölkerungsanteile in Bildung, die nur aus Bildern und Symbolen besteht, aber durch die repräsentative Demokratie ist der Einfluss solchen Nichtdenkens unter Kontrolle. Es hat sich also nicht so sehr die Teilung der Gesellschaft in Eliten und Massen geändert, sondern die Eliten können freier und transparenter entscheiden. Die Bindungen der Eliten bestanden einerseits in nichtabstrakten Traditionen, wie zum Beispiel Wörtlichkeiten oder Fundmentalismen des Christentums, die aber vor allem auch institutionalisiert waren. Wem das zu verschlüsselt klingt, der kann sich als vereinfachte Formel merken: Gewissen gleich Beichte gleich Inquisition; und umgekehrt: statt Inquisition Beichte, statt Beichte Gewissen.

Auf der anderen Seite waren den Eliten durch handfeste Lebensnotwendigkeiten die Hände gebunden: Hunger, Krankheiten, Naturgewalten, kurz: geringe Lebenserwartung. Das Vertrauen der Massen stieg natürlich mit der Lösung dieser Probleme durch die Eliten und damit die Entscheidungsfreiheit der Eliten gegenüber den Massen, gebremst nur noch durch eine, noch dazu repräsentative, Demokratie.

Wenn Erkenntnis also Vertrauen heißt, dann heißt Vertrauen auch Verantwortung. Die Entdeckung und mögliche Entfaltung des Individuums darf auf keinen Fall seine Vereinzelung bedeuten. Vielmehr hat die zugenommene Freizeit nicht nur mehr Freiheit gebracht, sondern auch mehr Kommunikationsmöglichkeiten, die nun zu einer Vernetzung der Gefühle führen können, die sich leider oft zuallererst in kollektiver Empörung zeigt. Die Angst vor Oberflächlichkeit wird vielleicht auch gerade von denen geschürt, die glaubten, dass Entfesselung des Menschen unverantwortlich sei, weil sie unverantwortlich mache.

Anmerkung:

Alle in diesem Text erwähnten bedeutenden Menschen starben eines gewaltsamen Todes, bis auf Scherbius gemäß Goethes Vision im Faust: Die wenigen, die was davon erkannt…hat man von je gekreuzigt und verbrannt. [Faust I, Vers 590ff.]

Antoine de Saint Exupery: auf einem Flug über dem Mittelmeer verschollen

Yesus: gekreuzigt

Mahatma Gandhi: erschossen

Janusz Korczak: mit seinen Waisenkindern in der Gaskammer ermordet

Martin Luther King: erschossen

Arthur Scherbius: fuhr mit einem Pferdewagen gegen eine Wand

Alan Turing: starb an einem [selbst] vergifteten Apfel infolge seiner Bestrafung als homosexueller

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