Viele Menschen glauben, dass die Welt immer schlechter, böser, ungerechter, ärmer und kriegerischer wird. Zu Anwälten dieser Ansicht haben sich die Billigmedien, aber auch diejenigen Religionsvertreter gemacht, die Angst haben, vor leeren Bankreihen zu predigen. Apokalyptische Ängste sitzen tief in uns, wahrscheinlich seit dem Neolithikum. Unsere Vorfahren haben aus ihrer Angst Kunst und Religion, vielleicht auch Wissenschaft gemacht. Und dieses Dreigespann zieht heute noch den Karren der Menschheit durch den Schlamm der Ängste und Befürchtungen. Kein Mensch greift zum Lexikon oder zur Bibel, wenn er Angst vor für ihn konkreten Erscheinungen des Lebens hat.

Das zwanzigste Jahrhundert hat in Europa eine ganze Reihe von Umbrüchen erleben lassen, die die Menschen nicht nur tief verunsichert haben, sondern auch atavistische Ängste verstärkten. Bei jedem steinalten Menschen, der in Deutschland stirbt, zählen wir die politischen oder ideologischen Systeme, die er durchlebt und oft auch durchlitten hat. 2008 starb ein Mensch namens Franz Künstler, der mit 108 Jahren der älteste noch lebende Teilnehmer am ersten Weltkrieg war, er stammte aus Siebenbürgen. Nach einem anderen Franz Künstler ist Berlin-Kreuzberg eine Straße und war in Ostberlin ein Reichsbahnausbesserungswerk benannt. Überlegen wir, welche politischen Komplikationen in diesen beiden Sätzen versteckt sind.

Die Reanimation uralter Ängste hat immer Hochkonjunktur, wenn eine sicher geglaubte Periode zuende geht. Man kann es im Moment gut beobachten. Seit dem Sturz des Kommunismus hat Europa ein Phase der Stabilität durchlebt. Regierungen hielten, was sie versprachen, so schien es uns, den Bürgern. Wenn wir aber untersuchen würden, wie hoch der Anteil Helmut Kohls an der Wiedervereinigung vor dem Fall der Mauer war, so würden wir auf einen Wert nahe Null kommen. Helmut Kohl gehörte vielmehr zu den Realpolitikern, die mit Gegebenheiten gut umgehen konnten, vor Visionen und Erscheinungen aber zurückschreckten. So hatte er die neue Ostpolitik Willy Brandts bekämpft, aber 1987 die DDR mit Krediten gestützt und Honecker in Bonn, wenn auch mit Widerwillen, empfangen, obwohl der seinem Amtsvorgänger in Güstrow eine Geisterstadt, heute würden wir sagen ein Fake, vorgesetzt hatte.

Ängste und Fakten sind also nicht immer kausal verbunden. Ängste können zu Fakten werden, wenn sie gemacht sind. Der Fall der vielgescholtenen Medien klärt sich aber ganz leicht durch einen immer wieder kolportierten Irrtum. Viele Menschen glauben, dass die Medien einen Auftrag zur Versorgung mit Informationen haben. Das ist aber nicht so, wie man an zwei einfachen Beispielen zeigen kann. Stellen wir uns vor, wir würden morgen eine Zeitung gründen, was keine gute Idee wäre, wenn wir nicht eine große Summe Geldes im Lotto gewonnen hätten. Stellen wir uns weiter vor, die Zeitung wäre wider Erwarten erfolgreich. Es gibt in einem freien Land keine Kontrolle, höchstens eine Selbstverpflichtung zur Wahrhaftigkeit und zum Dementi. Das einzige Beispiel einer verbotenen Zeitung war die Spiegelaffäre, und sie endete bekanntlich mit einer unfassbaren Solidarität der Medien untereinander und dem völligen Fiasko einer Regierung, die Demokratie noch nicht recht verinnerlicht hatte. Die Medien sind kein Subjekt, oder wenn sie eins sind, dann ein heterogenes, zu dem ab morgen der BRÜSSOWER GENERALANZEIGER gehören könnte, der sich nicht nach der SÜDDEUTSCHEN ALLGEMEINEN ZEITUNG richten und auch nicht zur Bundespressekonferenz erscheinen wird. Seit Adam Smith wissen wir, dass der Bäcker an der Ecke keinen Versorgungsauftrag hat, sondern selber überleben will. Deshalb bäckt er. Deshalb druckt er, könnte man ebenso von dem Zeitungsunternehmer sagen. Und deshalb sind sie beide mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von Lord Rotschild oder Lord Zuckerberg gesteuert. Trotz dieser hohen, an Sicherheiten grenzenden Wahrscheinlichkeit, gibt es immer um die zehn Prozent Leichtgläubige, die hinter jedem Zusammenhang einen Kausalzusammenhang wittern, hinter jeder Ähnlichkeit eine Verschwörung. Das Subjekt dieser Verschwörung suchen sie hingegen nicht. Statt sinnloser Suche hilft manchmal Vertrauen.

Beinahe noch schwieriger gestaltet sich die Bilanz unseres privaten Glücks und Unglücks. Genauso wie die finsteren Verschwörer in der Gesellschaft, sind wir in unserer Seele geneigt, das Unglück zu zählen und nachhaltig zu verankern. Das Glück hingegen, das manchmal nur in Gestalt eines kleinen Lächelns in einem Tsunami erscheint, wird von uns gerne ignoriert.

Die Gemeinsamkeit liegt im fehlenden Subjekt. Würden wir verfolgt, vom Pech, vom Finanzamt, vom Fahrkartenkontrolleur, vom Dachziegel, so müssten alle diese und die unzähligen weiter möglichen Elemente ein gemeinsames Subjekt haben. Die Religionen bieten hierfür Gott an. Aber es scheint so, dass die falsche anthropomorphe Gottesvorstellung hier ihren unsinnigen Tiefpunkt findet. Ein Gott, der einerseits jeder Ameise den Weg ebnet, soll jedem Menschen Steine vor die Füße werfen? Hiob ist vielmehr eine Metapher für einen Menschen, der sich erstens selber treu bleibt und zweitens an etwas Höheres glaubt als an sich selber und Reichtum oder Unglück. Hiob ist gerade das Gegenbeispiel. Er glaubt nicht an Verfolgung. Die Vorstellung des strafenden Gottes findet ihre Materialisation auch in den Worten Vater oder Herr. Der Mensch, der sich nach Autoritäten sehnt, findet auch welche. Besser ist es wohl, auf die kollektive Vernunft der Menschheit zu setzen. Dafür stehen die Zeichen gerade günstig. Wir haben uns sowohl informativ als auch real eine Welt geschaffen, deren Distanzen leicht überbrückbar sind. Das Zeitalter der Kriege und Lügen ist vorbei. Was wir erleben, ist ein gigantischer Umbruch. Unsere Marmelade kommt aus Neuguinea, eine Idee aus Gambia, von dem wir früher noch nicht einmal wussten, dass es existiert, unser Nachbar ist aus Eritrea. Wenn das Telefon klingelt, sind wir in Südamerika.

Wir könnten zu dieser Sicht der Globalisierung und Gerechtigkeit beitragen, wenn wir, statt unser Unglück zu zählen, eine Liste des Glücks schrieben, auf der wir jeden Punkt doppelt zählten, so dass eventuelle, von uns meist auch übertriebene Pechbausteine sich von selbst halbierten. Wir sind satt. Wir sind zufrieden. Wir lieben jemanden ('ja, wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund...';). Wir reisen. Wir lesen. Wir genießen Kunst. Wir können frei unsere Religion und unsere Sexualität wählen. Wir können sogar unsere Regierung wählen und abwählen, nur wir tun es nicht, aus Angst, aus Trägheit, aus apokalyptischem Wahn.

Ich kenne einen jungen Menschen aus einem schrecklichen Land mit unerträglicher Armut und einer verbrecherischen Regierung. Er kommt aus einer großen Familie. Er kommt in das kalte und verjammerte Deutschland und findet hier, abgesehen von seinen Landsleuten, auf Anhieb drei Menschen, die ihm helfen. Jetzt steht er glücklich auf Fotos herum. Glück und Freundlichkeit strahlen aus und machen andere Menschen auch glücklich und freundlich.

intrographics/pixabay

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