Alemee (die Welt) und Berhane (mein Licht) waren einander bereits als Säuglinge versprochen. In benachbarten Häusern wohnend, spielten sie von klein auf miteinander bis entschieden wurde, dass es nun Zeit für eine Trennung sei. Alemee vermisste ab da Berhane aus tiefster Seele und betete allabendlich:

Vaterunser Abona ab semay tinebr

Vater unser im Himmel, Abona ab semay etnebr,

geheiligt werde dein Name. Simka Yimesgen

Dein Reich komme, Mengstkha tmsae.

Dein Wille geschehe, Fqadka Absemay, kemzikhewn kemu wn Ab

wie im Himmel so auf Erden. Mdri yukhun,

Unser tägliches Brot gib uns heute. Megbi iletna lomi Habena.

Und vergib uns unsere Schuld, Nzbedeluna yiqre kem Enbl.

wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Nzbedelnaka yiqre Belelna.

Und führe uns nicht in Versuchung, Nab fetena Ayteituwena.

sondern erlöse uns von dem Bösen. Enkab kfue dea Sewrena.

Denn dein ist das Reich und die Kraft, Kemey Mengstn Hailn kbrn,

und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Nzelealem Natka yu emo.

Amen. Amien.

Leise, so dass es die Mutter nicht hören konnte, hängte sie stets an: "... und beschütze Berhane, meinen künftigen Mann."

Als das Fest ihrer Frauwerdung nahte, war Alemees Herz voller Freude. Das Warten würde ein Ende haben. Sie sähe ihn nun bald wieder und alles würde gut.

Alemee hatte nicht geahnt, dass es so weh tun würde, Frau zu werden, und dennoch schämte sie sich, dass sie so furchtbar schreien musste, als ES passierte. Es dauerte lange, ehe der Schmerz verging. Aber keinen Moment lang glaubte sie, dass es falsch sein könnte, denn ihre Mutter und deren Mutter und alle Frauen davor hatten genau das erlebt. Und alle um sie herum beteuerten, dass es gut und richtig und wichtig sei, DAS zu tun, damit eine Fraue eine gute und ehrbare Frau sein könne.

Alemee tröstete sich damit, dass sie es für Berhane tat.

Dennoch vergingen weitere Jahre bis Alemee Berhane das erste Mal, im Kreise aller Verwandten, die sie genau beäugten, wieder sah. Er war inzwischen ein Mann geworden und schien ihr fremd; sie schämte sich ein wenig und wusste nicht warum. Würde sie seinem Blick und Urteil standhalten können? Er war zur Schule gegangen inzwischen und so klug geworden.

Dass die Hochzeitsnacht sie wieder an den damaligen Schmerz erinnerte, änderte nichts. So war es und so musste es sein.

Sie hätten ein gutes Leben haben können, jetzt am Rande von Asmara, einer Riesenstadt, wohnend, in der Berhane ein gutes Auskommen fand, wären da nicht jene gewesen, die meinten, dass Alemee und Berhane und all ihre Verwandten den falschen Gott anbeteten. Immer öfter verschwanden Bekannte und Verwandte, immer öfter hörte man, sie seien in Haft oder tot.

Berhane, eines Abends, erzählte ihr, dass es einen ganzen Kontinent gäbe, auf dem man so sei wie sie: Christen. Eigentlich ja noch viel mehr Länder auf dieser Welt. Aber Europa sei nahe genug, dass man hinkommen könnte. Und so viele schon hätten es getan.

Ein bisschen klangen seine Berichte märchenhaft. Dort könne man unbehelligt in die Kirche gehen, es gäbe jede Menge kirchliche Feiertage, an denen man nicht arbeiten müsse, und es müsse keiner verhungern oder sich anderweitig sorgen. Kinder würden als Segen angesehen und beschützt. Alemee, die gerade zum ersten Mal schwanger war, stellte sich das großartig vor, obwohl sie keine Ahnung hatte, was denn nun ein Kontinent sei. Und auch nicht, wieviel die Anzahl der von Berhane berichteten Entfernungskilometer bedeuteten. Noch nie war sie auch nur in der Innenstadt von Asmara gewesen.

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Vier Jahre später war das Wunder geschehen: Berhane hatte Alemee in dieses erstaunliche Land gebracht, in dem die Winter noch kälter waren als daheim die Nächte auf der Hochebene. Die Menschen waren weiß(!) (warum hatte er das nie erwähnt, dass das so sein würde?) und viele von ihnen schauten argwöhnisch, wenn sie einkaufen gingen und ihre Einkäufe nach Hause in die kleine Wohnung brachten. Anders als zu Hause verkrochen sie sich alle in ihren Häusern und Wohnungen und nur wenige sprachen mit ihnen, die sie nur sich hatten und deswegen auch kaum Gelegenheit, die Sprache zu lernen.

Sie hätten sich einsam fühlen müssen (und das taten sie auch), aber sie hatten einander. Mehr als früher taten sie alles gemeinsam und freuten sich auf ihr zweites Kind.

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Das Drama begann, als man Alemee vorsichtig (und die anwesende Dolmetscherin dämpfte noch zusätzlich einiges ab) zu erklären versuchte, dass sie nach der Geburt nicht mehr sein würde wie zuvor. Berhane, der wie sonst auch, auch hier dabei war, verstand nicht. In Deutschland, erklärte man weiter, sei es nicht üblich, ja, nicht einmal erlaubt, Frauen nach der Geburt wieder zuzunähen. Jeder (am meisten die Dometscherin) versuchte, das Wort Genitalverstümmelung zu vermeiden. Wie denn auch soll man einer Frau, die immer so gelebt hatte, erklären, dass ihre Art zu leben in anderer Augen eine Verstümmelung bedeutet?

Alemee war doch nicht verstümmelt, sondern einfach nur eine anständige Frau.

Man würde, so erklärten die Ärzte, einen Kompromiss finden zwischen ihrer Einstellung und der Wundversorgung.

Und so weiter und so fort.

Alemee und Berhane verstanden bis zum Ende nicht, begriffen allerdings, dass es anders nicht zu haben wäre. Und ließen die Ärzte also machen. Was anderes hätten sie tun sollen?

Natürlich hatte Alemee Schmerzen, aber auch das geliebte zweite Kind.

Allzu schnell aber begriff sie, dass alles anders und alles zerstört war.

Als Berhane nach der Geburt das erste Mal bei ihr war, war er so voller Unglaube, Wut und Unverständnis, dass zwischen ihnen, obwohl sie ja gar nichts dafür konnte, das Laken auf ewig zerriss. Sie wusste nicht, ob er es gesagt hatte oder nur dachte, aber er wandte sich in solch grausamer Weise von ihr ab, dass sie zu zerbrechen drohte.

Seitdem schiebt Alemee den Kinderwagen allein durch die Straßen der kleinen Stadt, in der sie nurmehr Berhane hatte. Berhane schläft mit dem Sohn im Kinderzimmer und spricht nicht mehr mit ihr.

Sie hat nichts getan und fühlt sich doch, als trüge sie die ganze Last weiblicher Verderbheit auf ihren Schultern.

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Frank und frei

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Spinnchen

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