Stottern

Interview mit Ronja Zimm, seit frühester Kindheit von Stottern betroffen

Laura Ludwig

(Auf dem Foto: Ronja Zimm / Stottern - Momentaufnahmen / Fotografin: Laura Ludwig)

Für die meisten Menschen sind Sprache und das Sprechen an sich selbstverständliche Mittel zur Kommunikation. Wir nutzen sie, um uns mitzuteilen, unsere Emotionen und Bedürfnisse, unsere Meinung. Beim Einkaufen, in Beziehung und Familie, in Schule und Beruf ist das gesprochene Wort Basis für zwischenmenschlichen Austausch. Wie wichtig diese Fähigkeit zur Artikulation tatsächlich ist erfahren oft nur die, denen sie temporär oder langfristig abhandenkommt.

Allein in Deutschland stottern etwa 800.000 Menschen. Bei den meisten zeigt sich diese Sprechbehinderung bereits im Alter zwischen zwei und fünf Jahren. Per Definition ist Stottern eine „Unterbrechung des Redeflusses durch auffällige Blockaden, Wiederholungen oder Dehnungen.“ Tatsächlich entwickelt jedoch so gut wie jeder Stotterer ein individuelles Sprachbild mit ebenso individuellen Ausprägungen der Sprechstörung. Meist wird das Stottern von sekundären Symptomen begleitet. Dazu gehören z.b. das auffällige Verkrampfen der Gesichtsmuskulatur oder zusätzliche Körperbewegungen beim Sprechen. Zudem entstehen durch die gehemmte Kommunikation oft auch Rückzugstaktiken, zu denen das „Verschleiern“ gehört, bei dem Füllwörter oder Synonyme genutzt werden, um bekannte Sprachblockaden zu umgehen, aber auch gravierendere Selbstschutzhandlungen wie komplette Sprechvermeidung oder der Rückzug in soziale Isolation. Weiterführende Informationen finden sich hier.

Eine der rund 800.000 Betroffenen ist Ronja Zimm, 29 Jahre alt.

Susannah Winter: Besteht das Stottern bei dir von Kindheit an? Erinnerst du dich daran, wann die ersten Symptome auftraten und wie diese aussahen?

Ronja Zimm: Ich selbst kann mich nicht daran erinnern, mit dem Sprechen und Stottern angefangen zu haben. Aus Erzählungen weiß ich nur, dass ich in den ersten Monaten wohl noch fließend gesprochen haben soll und das Stottern erst im Kindegartenalter begonnen hat. Aus dieser Zeit sind auch meine ersten bewussten Erinnerungen: Eine Mischung aus Frustration darüber, dass ich durch die Krämpfe nicht mitteilen konnte was ich wollte und Unverständnis darüber, warum ausgerechnet ich so „anders“ war. Das hat die Kindergartenzeit zu einer tränenreichen gemacht.

Susannah Winter: Es gibt viele Theorien zur Entstehung und Ursache von Stottern. Um einige zu nennen: Psychodynamische Theorien, genetische Theorien, neuropsychologische Theorien, Breakdown-Theorien und Lerntheorien. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Betroffene, die sich intensiv mit sich und ihrer Erkrankung auseinandergesetzt haben, oft viel besser Ursachen einschätzen können. Wie ist das in deinem Fall? Hast du jemals eine klare Diagnose erhalten und hast du für dich eine Erklärung?

Ronja Zimm: Eine ganz klare Diagnose gab es nie. Nur die genetische Theorie stand nie zur Diskussion, da ich ja anfangs stotterfrei gesprochen habe. Meine ehemaligen Logopäden gehen von einer Traumatisierung aus, die eine permanente Angst vorm Sprechen und „gehört werden“ ausgelöst hat. Das war und ist auch für mich am Plausibelsten. Ich glaube auch, dass es selten eine alleinstehende Ursache für Stottern an sich gibt. Öfter trifft wahrscheinlich zu, dass es das Symptom einer anderen Erkrankung ist oder sich Mischformen bilden. Die Lerntheorie greift sicherlich bei vielen stotternden Kindern und trägt zur Erhärtung des Krankheitsbildes bei; ursächlich ist diese Konditionierung aber wahrscheinlich höchst selten.

Susannah Winter: Kannst du dein spezielles Sprachbild so genau wie möglich beschreiben? Welche physischen/psychischen Auswirkungen hatte das Stottern noch auf dich?

Ronja Zimm: Mein Stottern wandelt sich ständig. Zum Beispiel in Hinsicht darauf, bei welchen Buchstaben ich die meisten Probleme habe. Der gemeinsame Nenner bleibt aber, dass ich nicht „klassisch stottere“ (also an Buchstaben hängenbleibe und sie oft wiederhole, z.B. Bu-bu-buchstabe), sondern „stocke“. Bei dem auslösenden Buchstaben oder Wort endet alles. Keine Wiederholungen, sondern ein Krampfen setzt ein. Manchmal betrifft der sichtbare Krampf nur das Gesicht, manchmal krampft beinahe mein ganzer Körper ob der Anstrengung, dieses Wort über meine Stimmbänder nach draußen zu bringen, es aber partout nicht zu schaffen.

Es kommt auch heute noch ab und an vor, dass das Stottern an manchen Tagen körperlich so anstrengend ist, dass ich selbst keine Lust mehr habe. Wenn man z.B. eine halbe Stunde lang bei jedem dritten Wort krampft, braucht man danach einfach mindestens genauso viel Zeit der Ruhe, damit einem nicht der gesamte Oberkörper wehtut.

Das frustriert mich oft dermaßen, dass es mich zum Weinen bringen kann. Mir ist zudem wichtig zu sagen, dass Stotterer oft mit sich selbst kämpfen, auf sich, aber auch auf all die Umstände, die zum Stottern führten, sauer sind. Auch ich habe manchmal noch eine rasende Wut in mir: Warum werde ich niemals wissen, wie es sich anfühlt, einfach ohne nachzudenken und ohne körperliche Anstrengung sprechen zu können? Manchmal wirke ich auf andere zynisch, weil mein Neid auf diese Selbstverständlichkeit der anderen mich wütend macht. Wenn Stotterer also gelegentlich überheblich wirken, dann als Resultat unserer Wut und unseres Neids im Moment. Nicht weil wir Menschen die einfach „besser sprechen“ können tatsächlich verachten.

Susannah Winter: Beinahe alle Erkrankungen und Behinderungen, seien sie nun physischer oder psychischer Natur, kennen meist eine Reihe von Folge- oder Begleiterkrankungen. Bei Stotterern oft Vermeidungs- und Fluchtverhalten im sprachlichen Bereich bis hin zu völliger Isolation und Abschottung. Wie ist das bei dir?

Ronja Zimm: Vermeidungsstrategien kenne ich natürlich. Ich habe es fast perfektioniert, blitzschnell Synonyme zu finden.

Ein Beispiel: Als Kind hatte ich besonders bei Vokalen Probleme. Wenn ich einen Satz mit „Oma“ sagen wollte, habe ich oft schon vor dem Wort gemerkt, dass mein Körper dort krampfen würde. Also sagte ich stattdessen „Großmutter“. Deshalb vermeide ich es auch nach wie vor, Texte vorzulesen. Dabei habe ich diesen Spielraum nicht. Kommunikation an sich habe ich aber selten in meinem Leben vermieden. Nur dort, wo ich ziemlich sicher mit einer negativen Reaktion gerechnet habe.

Eine weitere Strategie ist, dass ich Menschen, die mich noch nicht kennen, gleich zu Anfang sage: „Übrigens, ich stottere, also wundere dich nicht, wenn ich krampfe. Das ist nicht schlimm.“ Viele Menschen, gerade die, die mich noch nie an schlimmen Tagen gehört oder gesehen haben, halten das für unnötig. Jedoch hatte ich, bevor ich mit diesem „Vorwort zur Kommunikation“ angefangen habe auch schon das Feedback, dass sich manche fremden Menschen nicht sicher waren, was das für ein Krampf ist und ob ich nicht Hilfe bräuchte.

Auch wenn es also manchmal nervt (auch mich selbst) oder unnötig erscheint: Mit dieser „Strategie“ fühle ich mich einfach auf der sichereren Seite.

Susannah Winter: Wie verlief deine Kindheit und Jugend mit der Sprachbarriere? Wie gestaltete sich die Schulzeit?

Ronja Zimm: Im Kindergarten und in der Grundschule hatte ich mit Gleichaltrigen so gut wie nie Probleme. Da war ich selbst mein allergrößter Feind. Probleme gab es vorrangig mit Erwachsenen! Einerseits meinem Vater, der der Meinung war, ich sei nur „zu blöd“, um richtig zu sprechen oder würde mich nicht genug anstrengen. Und Grundschullehrer, die meinten, ich könnte nicht auf eine Regelschule gehen. Das hat mich manchmal traurig, manchmal auch trotzig gemacht. Ganz am Anfang der Grundschulzeit haben mich die Lehrer wirklich nur nach dem Stottern beurteilt. Das verflog dann aber nach den ersten schriftlichen Noten und mit andauernder Schulzeit.

Umso wichtiger waren die anderen Kinder für mich. Sie haben heute wahrscheinlich keine Ahnung davon, aber dass sie mich vorurteilsfrei angenommen haben, hat vermutlich den Grundstein dafür gelegt, dass ich mich überhaupt je selbst annehmen konnte.

Also: Danke an Euch!

Mit dem Wechsel zum Gymnasium kam dann aber Mobbing. Ich habe die Welt nicht mehr verstanden! Ich ging ja davon aus, dass gerade die sogenannten klugen Kinder tolerant sein müssten. Fehlanzeige!

Traurig war, dass die Lehrer dort auch wieder kein Verständnis zeigten. Sie meinten, ich müsste das aushalten und mich durchsetzen lernen, anstatt die Klasse oder Schule zu wechseln. Schlussendlich habe ich aber beides getan; erst die Klasse und dann die Schule gewechselt. Auf der Gesamtschule wurde ich wieder ohne blöde Sprüche akzeptiert.

Susannah Winter: Begegnen dir heute noch Vorurteile?

Ronja Zimm: Es gab da mal einen Partner, der mir eine erneute logopädische Therapie mit den Worten: „Wenn du krampfst, denken vielleicht manche Leute, dass du geistig behindert bist.“ nahe legen wollte. Mein Vater nannte mich „total verblödet“, eine Grundschullehrerin dachte, ich sollte lieber auf eine Sonderschule gehen. Neben solchen, sehr persönlichen, Erfahrungen gab und gibt es auch mit Fremden manchmal unangenehme Momente. Es passiert immer mal wieder, dass Menschen erst mal lachen wenn ich krampfe. Wenn ich dann aber sage „Ich habe einen Sprachfehler“, folgt in der Regel eine Entschuldigung. Ich nehme es Fremden auch nicht grundsätzlich übel. Ich weiß, dass es manchmal komisch aussieht und es nicht jeder sofort einordnen kann. Wenn sie mich dann, nachdem ich die Ursache benannt habe, normal behandeln, fühle ich mich davon nicht diskriminiert oder weniger ernst genommen.

Susannah Winter: Du hast ja schon angedeutet, dass Kindheitstraumata, aber auch der spätere Umgang deiner Eltern mit dem Stottern an sich einerseits auslösend, andererseits auch krankheitsbestärkend wirkten. Magst du dazu noch etwas erzählen?

Ronja Zimm: Mein Stottern ist ja höchstwahrscheinlich ein Teil meiner Traumafolgestörung. Meine Eltern waren beide Trinker. Mein Trauma basiert auf wiederholter Todesangst als Kind. Mit fünf Jahren etwa habe ich das erste Mal bewusst gedacht: „Oh Gott, ich will nicht sterben!“, zumindest ist das das erste Mal, an das ich mich erinnern kann. Es gab keine Grenzen, keine Sicherheiten. Mein Vater hat noch dazu oft mit Suizid oder Mord an uns allem gedroht. Auch hat er mich ob des Stotterns permanent herabgewürdigt, was sicherlich zur Festigung des Problems beigetragen hat.

Susannah Winter: Bist du via Internet oder sogar persönlich mit anderen Betroffenen vernetzt und hilft dir dieser Austausch, nimmt er eine besondere Stellung in deinem Leben ein?

Ronja Zimm: Eher weniger. Als Kind und Jugendliche habe ich natürlich Kontakt zu anderen von den Sprachheilkuren, auf die ich fuhr, gehalten. Aber damals habe ich oft die Erfahrung gemacht, dass uns entweder „nur“ das Stottern verband oder die Menschen sich selbst nur durch das Stottern und die negativen Erfahrungen damit definiert haben. Das bot (für mich) keine Basis für einen langanhaltenden Austausch.

Heute komme ich in der Regel nur zufällig mit anderen Stotterern ins Gespräch, denn ich suche den Austausch nicht gezielt. Ich nehme an, dass ein häufiger Austausch hilfreich für manche Betroffene sein kann, aber da ich meinem Stottern keinen großen Raum bzw. keine große Bedeutung für mein Leben zusprechen will, suche ich gar nicht erst danach.

Susannah Winter: Bist du derzeit noch in regelmäßiger Behandlung? Gerade im Bereich des Stotterns gibt es viele Therapien, die mit großen Heilsversprechen hausieren gehen. Die ganze Palette von Hypnose bis hin zu Atemtherapien, bei der das Zwerchfell besser kontrolliert werden soll. Was hast du alles ausprobiert und was hat geholfen?

Ronja Zimm: Derzeit mache ich eine Traumatherapie. Das Stottern ist natürlich auch ein Gegenstand der Therapie, aber nicht hauptsächlich. Eine rein logopädische Therapie möchte ich nicht mehr machen. Ich weiß, dass es Strategien gibt, mit denen ich auch in meinem Alter noch lernen kann, fließend zu sprechen. Das sind wohl diese „Wunder-Therapien“, die Du ansprichst. Aber die funktionieren nur, wenn man sich an eine strikte Melodik beim Sprechen hält. Das will ich nicht, weil ich meine Emotionalität beim Reden nicht verlieren will.

Als Kind fuhr ich zwei Mal zu der gleichen dreimonatigen Sprachheilkur, bei der wir das Sprechen „neu gelernt haben“. Das lief mit einem Acht-Punkte-Plan, von gar nicht sprechen über nachsprechen, vorlesen usw. bis zu Punkt Acht: frei sprechen. Auch wenn ich mein Stottern dort nicht losgeworden bin, bin ich dieser Kureinrichtung sehr dankbar, denn mein Stottern wurde schwächer und ich habe Strategien gelernt (z.B. autogenes Training), die ich heute noch anwende.

Für interessierte Eltern: http://www.eubios.de/reha-fachklinik.php (Da die Klinik aber von einem neuen Träger übernommen wurde, weiß ich nicht, ob die Kuren noch so ablaufen wie in meiner Kindheit).

Eine ambulante Logopädin hat mir auch einmal krampflösende Medikamente verschrieben. Leider hat das gar nichts gebracht und aufgrund der negativen Nutzen-Nebenwirkungen-Bilanz wurde dieses Medikament dann wieder abgesetzt.

Momentan setze ich also darauf, dass es vielleicht ein „positiver Nebeneffekt“ meiner Traumatherapie ist, dass das Stottern noch weiter zurückgeht. Wenn nicht, kann ich damit auch leben. Ich sehe für das Symptom allein (in Kombination mit meinem Alter) keinen Therapiebedarf oder -Nutzen mehr.

Susannah Winter: Zum politischen Aspekt: Welche Auswirkungen hat/hatte die Erkrankung auf deine Arbeitsfähigkeit, auf Arbeitschancen? Welche Erfahrungen hast du mit Behörden und Ämtern gemacht?

Ronja Zimm: Von Arbeitgeberseite aus habe ich noch keine schlechten Erfahrungen gemacht. Selbst Jobs oder Ausbildungsplätze die viel sprachliche Kommunikation verlangten wurden mir angeboten. So weit ist die Gesellschaft also zum Glück schon! Zumindest in Berlin. Ob es in kleineren oder konservativeren Städten auch so gelaufen wäre, zweifle ich ein wenig an.

Aber das Jobcenter war oft der große Blockierer! Kurzzeitig war ich wegen anderer Symptome arbeitsunfähig. Frustrierend war, dass meine Ärzte, Therapeuten und ich mich dann in der Lage sahen, arbeiten zu gehen. Mein damaliger Psychiater schrieb das auch ans Jobcenter und trotzdem wurde ich immer wieder für weitere sechs Monate „auf Eis gelegt“ - ohne dass mich je ein Amtsarzt gesehen hat! Für ein paar Jahre hat das Zweifel in mir genährt und ich habe Pläne verworfen, weil ich langsam selbst zu denken begann: „Das kann ich ja gar nicht!“. Zum Glück hat das auch Trotz ausgelöst, der mich dann in Eigeninitiative eine (sprechlastige) Ausbildung finden ließ. Vorher gab es noch ein Praktikum im kaufmännischen Bereich, das Gastronomie und Künstlerbetreuung umfasste. Während dieses Praktikums habe ich überall gearbeitet, wo ich während einer möglichen Ausbildung auch eingesetzt worden wäre. Trotz Bescheinigungen darüber wurde die Ausbildungsförderung verweigert. Der Jobcenter-Mitarbeiter meinte es besser zu wissen, als der Chef des Unternehmens. Es hieß, ich sei mit meiner Sprechbarriere nicht in der Lage, diesen Job auszuüben. Nicht zuletzt deshalb verurteile ich das Jobcenter scharf. Dafür, dass sie mir Chancen und Jahre genommen haben, ohne mir je eine wirkliche Möglichkeit zur „Integration auf dem Arbeitsmarkt“ anzubieten. Was ich geschafft habe ist Resultat aus Eigeninitiative und der Unterstützung und dem Glauben von Freunden, Arbeitgebern und Ärzten. Das Jobcenter hingegen hat mich mehrmals an den Punkt gebracht zu glauben: „Ich kann und ich will nicht mehr, ich gebe hier auf.“ Nach abgeschlossener Ausbildung gehe ich heute nochmal den Weg zum Abitur.

Susannah Winter: Was würdest du dir von Politik und Gesellschaft wünschen? Was hätte dein Leben vereinfacht?

Ronja Zimm: Mehr Inklusion! Ob in der Schule oder auf dem Arbeitsmarkt: Es bringt nichts, Stotterer oder Menschen mit anderen Erkrankungen unter dem Vorwand der angeblich nötigen, besonderen Förderung abzuschotten. Dass es in meinem Fall überhaupt je zur Diskussion stand, ob ich auf Regelschulen oder eine Sonderschule gehen soll, illustriert diesen Wahnsinn gut. Mit Ausschluss ist weder den Betroffenen, noch den anderen Kindern geholfen.

Abgesehen von einer Grundschullehrerin und der Klasse am Gymnasium, war Schule für mich immer der Ort der Anerkennung und Lehrer nahmen für mich etwa ab der dritten Klasse die Rolle der Erwachsenen / Autoritätspersonen ein, die mich lobten und mir Werte vermittelten – die Dinge, die mir meine Eltern nicht geboten haben. Auch wenn (gerade Berliner) Schulen oftmals in der Kritik stehen: Für mich waren sie immer der Ort, an dem die negativen Einflüsse in meinem Leben aufgefangen und umgekehrt wurden. Und je sozial gemischter die Schule war, desto mehr traf das zu.

Deshalb finde ich die Debatten um eine stärkere Differenzierung des Schulwesens (mehr Gymnasien auf der einen Seite, Gesamtschulen abschaffen auf der anderen) traurig. Wir brauchen keine stärkere „Elitenförderung“ - Kinder und junge Erwachsene mit entsprechendem Potenzial werden es auch so entfalten – sondern „zwischenmenschliche Bildung“, die „gemischte“ Schulen mit engagierten und gut ausgebildeten Pädagogen und Sozialarbeitern bieten. Leider bewegt sich unsere Schulpolitik von meinem Ideal weg.

Und dass Eltern ein stotterndes Kind lieber für einen selbstbewussten Umgang mit der Sprechstörung loben sollten anstatt es „komplett verblödet“ zu nennen, versteht sich eigentlich von selbst.

Susannah Winter: Niemand kennt dich besser als du selbst. Was tust du für dich, um dich besser zu fühlen? Was hilft? Was schadet?

Ronja Zimm: Stress schadet, lässt sich aber nicht immer vermeiden. Um mit ihm wenigstens besser umzugehen, greife ich heute noch manchmal auf autogenes Training zurück. Und auf lange Spaziergänge. Das sind meine beiden Methoden, um runter und wieder mehr zu mir selbst zu kommen.

Susannah Winter: Was wird in Artikeln über Stottern normalerweise außen vor gelassen oder findet keine Erwähnung, was du unbedingt würdest lesen wollen und bisher vermisst hast oder was andere unbedingt lesen sollten?

Ronja Zimm: Stottern wird leider oft unter Ausschluss der Ursachen und als „Makel“ des Betroffenen behandelt. Dass ein stotterndes Kind zumeist etwas Einschneidendes, Traumatisierendes erlebt hat fehlt mir zu oft in theoretischen Diskussionen über Stottern.

Außerdem werden alle Sprach- und Sprechstörungen gern über einen Kamm geschoren. Dass es ganz unterschiedliche Erscheinungsformen, Ausprägungen und nicht zuletzt auch Ursachen gibt, wird kaum kommuniziert.

Zuletzt seien nochmal die „Wunder-Therapien“ erwähnt: Vor ein paar Jahren hat mich die Medienpräsenz der „Del Ferro-Methode“ zum Beispiel sehr wütend gemacht. Sie hat bestimmt einigen (sehr schweren) Stotterern geholfen, aber ich lehne Methoden wie diese ab. Einerseits, weil sie eben auf strenger Melodik basieren und andererseits, weil ich kein Angebot ernst nehmen kann, dass „begehrte 5-Tage Intensivkurse“ anbietet, um so ein komplexes Krankheitsbild zu behandeln. Als diese Methode in den Medien diskutiert wurde, sah ich mich ständig in der Defensive, da ich mich vor vielen Menschen in meinem Umfeld rechtfertigen musste, warum ich das denn nicht „auch mal probiere“.

Die Medien sollten also nicht transportieren: „Hey, wer stottert kann auf jeden Fall was dagegen machen. Del Ferro hilft ja immer und jedem.“, denn das ist falsch und macht Betroffene wie mich wütend.

Susannah Winter: Zuletzt: Welche Tipps würdest du Menschen geben, die mit derselben Erkrankung zu kämpfen haben? Vielleicht auch Tipps für Eltern, die gerade erfahren haben, dass ihr Kind betroffen ist?

Ronja Zimm: Nie das Sprechen vermeiden! Das ist manchmal ein echter Kampf, es frustriert, es lässt dich heulen. Aber: Nur durch ständiges Sprechen, auch an schlechten Tagen, kann man verhindern, dass die Angst vorm Sprechen so anwachsen kann, dass sie überhandnimmt. Und Menschen, die mit Stotterern zu tun haben rate ich: Bestärkt den Stotterer, seid geduldig, auch wenn das manchmal schwer ist, und respektiert die Wünsche des Betroffenen! Ich mag es zum Beispiel gar nicht, wenn andere Leute meine Worte / Sätze beenden. Sie glauben, mir damit einen Gefallen zu tun, aber tatsächlich setzt mich das unter größeren Druck. Ich bin jedem in meinem Umfeld sehr dankbar dafür, geduldig zu sein und abzuwarten was ich sagen will, anstatt selbst schnell das Wort zu beenden, bei dem ich krampfe. Wenn Nicht-Betroffene dazu beitragen, dass sich Stotterer in so einem Umfeld bewegen können, ist schon viel geschafft!

Susannah Winter: Ich bedanke mich für deine Offenheit und wünsche dir von ganzem Herzen viel Erfolg für das Abitur und deinen weiteren Werdegang.

Nachwort: Ronja Zimm, die selber schreibt, hat vor kurzer Zeit im Rahmen eines Kurses "kreatives Schreiben" einen Text verfasst, der u.a. auch ihr Erlebtes zum Thema hat.

(Für die Blog-Reihe „Reden wir über…“ sucht die Autorin auch in Zukunft Menschen, die über ihre physische/psychische Erkrankung im Kontext Gesellschaft/Politik/Inklusion aber auch allgemein über ihr individuelles Erleben berichten wollen. Kontaktdaten und nähere Informationen finden sich hier.)

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