Interview mit Karl Hollerung, Autist

Karl Hollerung

Spätestens seit dem Film „Rain Man“ ist der Begriff „Autismus“ den meisten bekannt. Leider hat aber eben auch dieser Film, wie so viele andere Klischeedarstellungen autistischer Menschen, ein Bild von Autismus in den Köpfen gefestigt, das der vielfältigen Realität der meisten Autisten nicht gerecht wird. Das Bild des schaukelnden, in sich gekehrten Inselbegabten, dessen Leben ohne fremde Hilfe nicht zu meistern ist macht es vielen Autisten schwer, in der Gesellschaft Fuß zu fassen.

Fragt man: „Was ist Autismus“, so erhält man auf der Seite „Autismus Deutschland e.V. – Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus“ folgende kurze Erklärung:

„Autismus ist eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Häufig bezeichnet man Autismus bzw. Autismus-Spektrum-Störungen auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirken.“

Es gibt einige typische Merkmale, die in unterschiedlicher Ausprägung auftreten.

Zu nennen wären:

  • Schwierigkeiten in der Kommunikation und sozialen Interaktion
  • Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten, die zwanghaft wiederholt werden und Probleme mit plötzlichen Veränderungen im Alltag
  • Eine atypische Wahrnehmung und Verarbeitung von Sinneseindrücken, die oft intensiver und reicher ist, als es der „Norm“ entspricht.

Und doch gleicht kein Autist dem anderen. Jeder von ihnen erlebt Autismus als etwas ganz Persönliches, Individuelles.

Karl Hollerung ist einer von ihnen und bereit, uns einen kleinen Einblick in sein Erleben zu gewähren:

Susannah Winter: Besteht deine Erkrankung von Geburt an? Wenn nicht, wann traten die ersten Symptome auf, wie sahen diese aus? Autismus wird ja, je nachdem wie stark die Ausprägung ist, typischerweise bereits in den ersten Lebensmonaten diagnostiziert, gelegentlich allerdings auch erst in späteren Lebensjahren. Wann gab es in deinem Fall die Diagnose und durch wen?

Karl Hollerung: Als erstes möchte ich klarstellen, dass Autismus eine andere Art der menschlichen Wahrnehmung und der menschlichen Kommunikation ist. Autist ist man auch sein Leben lang, von der Geburt bis zum Tode. Aus diesen Gründen kann man nicht von einer Erkrankung sprechen. In der heutigen, zunehmend chaotischen Welt wird eine autistische Wahrnehmung jedoch zu einem immer größer werdenden Problem, weshalb man heute durchaus von einer Behinderung sprechen kann. Ich denke, dass dies in früheren Zeiten anders gewesen sein dürfte.

Auffälligkeiten zeigten sich schon im Kleinkindalter. Meine Mutter hat mir u.a. erzählt, dass ich auf Anweisungen teilweise überhaupt nicht reagiert und daher auf sie den Eindruck gemacht habe, taubstumm zu sein. Sie ließ das auch von verschiedenen Ärzten überprüfen. Das Ergebnis war letztlich, dass ich ausgezeichnet hören könnte, aber die Reize offensichtlich anders verarbeitete.

Aufgrund meines Bewegungsdrangs bekam ich schon früh die Diagnose ADHS. In der Grundschule gab es dann aber in meiner Klasse einen bereits diagnostizierten Autisten, der sich ähnlich verhielt wie ich und auch ähnliche Probleme hatte. Den Lehrern fiel das so auf, dass sie ein Team von Psychologen in die Schule holten, die sich auf die Diagnose von Autismus spezialisiert hatten – ohne die Zustimmung meiner Eltern übrigens. Die attestierten mir dann autistische Züge, da „reiner“ Autismus damals noch verbreitet als Behinderung galt.

Susannah Winter: Wie genau lautet die Diagnose? Gibt es Begleitsymptome?

Karl Hollerung: Meine derzeitige Asperger-Diagnose habe ich erst seit kurzem. Sie wurde mir letztes Jahr in Halle, wo ich bis vor kurzem studierte, von einer Psychotherapeutin gegeben und ich habe nebenbei noch ADHS.

Susannah Winter: Was hältst du selber im Rückblick auf Kindheit und Jugend für einschneidend und prägend im Hinblick auf deinen Autismus? Beschreibe uns einmal deinen Werdegang, die Zeit im Kindergarten, der Schule, im Beruf.

Karl Hollerung: Im Kindergarten und in der Grundschule verhielt ich mich auch sehr auffällig. Die Zeiten hab ich auch als sehr unangenehm in Erinnerung. Die anderen Kinder waren viel zu laut und ich zog mich zurück, um mich vor diesem Lärm zu schützen. Das provozierte die anderen jedoch häufig dazu, mich zu hänseln. Wenn ich mir gar nicht mehr anders zu helfen wusste, bekam ich oftmals gewaltige Ausraster, ob derer ich berühmt-berüchtigt wurde. Das hatte immerhin zur Folge, dass wenigstens die körperlichen Angriffe sich in Grenzen hielten und für andere Kinder eher den Charakter einer Mutprobe hatten.

Ich habe die erwähnte Diagnose auf autistische Züge an sich überhaupt nicht bewusst wahrgenommen und kann mich nicht einmal an die Fragen erinnern, welche mir diesbezüglich gestellt wurden. Aufgrund dieser Diagnose bekam ich jedoch einen Platz an einer Schule für Körperbehinderte in Berlin-Lichtenberg. Ich dachte damals, dies geschähe allein aufgrund meines ADHS und es war mir eigentlich auch egal. Hauptsache, ich käme endlich von der Grundschule weg. In der neuen Schule wurde ich zwar auch gehänselt, jedoch konnte ich mich gegen körperliche Angriffe wesentlich besser zur Wehr setzen, da die Angreifer meist körperliche Handicaps hatten, weshalb diese Angriffe zumindest nach den ersten Jahren ganz aufhörten, was ich als große Erleichterung empfand. Worte allein täten schließlich nicht weh, dachte ich. Heute wird mir klar, dass das so einfach wohl doch nicht ist.

Nach einem Jahre wechselte auch mein ebenfalls autistischer Mitschüler aus der Grundschule in diese Schule. Zwar wurde auch er bald nicht mehr körperlich angegriffen, jedoch litt er wesentlich mehr als ich unter den verbalen Angriffen. Die Lehrer versuchten dem zu begegnen, indem sie den anderen Kindern seine Verhaltensauffälligkeiten zu erklären suchten und dabei u.a. ausführlich auf seinen Autismus eingingen. Dabei erwähnten sie u.a., dass ich ja schließlich auch Autist wäre. Da wurde mir mein Autismus überhaupt bewusst und ich erfuhr auch erstmals, was Autismus ungefähr ist. Mir war zwar schon vorher gesagt worden, dass mein Mitschüler mir sehr ähnlich wäre, aber ich dachte, er hätte halt ebenfalls ADHS.

Im Gegensatz zu meinem ebenfalls autistischen Mitschüler entwickelte ich mich auf der neuen Schule prächtig und meine schulischen Leistungen verbesserten sich stetig. Nach dem Abschluss der zehnten Klasse wechselte ich aufs Gymnasium, um Abitur zu machen. Dort hörten auch die verbalen Angriffe auf und ich wurde völlig in Ruhe gelassen. Freundschaften entwickelten sich bis auf eine Ausnahme kurz vor dem Abitur keine, was mir aber völlig normal vorkam und mich, zumindest oberflächlich, nicht weiter beschäftigte. Auch innerhalb meiner Familie wurde ich immer weniger als „Problem-Kind“ wahrgenommen – vielleicht zu Unrecht, wie sich jetzt gerade zeigt.

Nach dem Abitur begann ich in Halle (Saale) zunächst, Politikwissenschaften und Judaistik zu studieren, wechselte jedoch nach zwei Semestern zu Nahoststudien und Geschichte. Erst an der Uni entwickelten sich mit der Zeit tatsächlich Kontakte und vereinzelt sogar Freundschaften zu einigen Kommilitonen. Gerade im Nahost-Studiengang waren wir so wenige, dass ich nicht mehr so unterging wie noch am Gymnasium. Außerdem hatte ich es nun mit Menschen zu tun, die ähnliche Interessen hatten wie ich, was auf dem Gymnasium so auch nicht der Fall gewesen war. Da ergaben sich fast zwangsläufig nähere Bekanntschaften

Derzeit schreibe ich noch meine Bachelorarbeit, studiere jedoch sonst auf Island Isländisch als Fremdsprache.

Susannah Winter: Wie manifestiert sich Autismus bei dir, was sind deine ganz persönlichen Erfahrungen mit Autismus? Welche physischen oder psychischen Auswirkungen machen sich bemerkbar? Oder gibt es, ganz im Gegenteil, sogar Vorzüge durch die Krankheit?

Karl Hollerung: Autismus hat in der Tat viele unterschiedliche Gesichter: Von geistiger Behinderung bis Hochbegabt, von Behindertenwerkstatt bis zu Informatik-Spezialisten und Professoren ist wohl alles dabei. Viele Autisten können auch Zeit ihres Lebens nicht sprechen. In meinem Falle werden mir aktuell die massiven Probleme bewusst, welche mein Autismus bzw. vielmehr die Erfahrung, welche ich in meiner Schulzeit machte, hervorruft: Mir fällt es unglaublich schwer, neue Kontakte im Lande zu knüpfen, sowohl zu meinen ebenfalls ausländischen Kommilitonen als auch zu Einheimischen. Im Gegensatz zur Uni in Deutschland habe ich es jetzt wieder mit sehr vielen Kommilitonen zu tun, die meist auch nur ein sehr oberflächliches Interesse an der Sprache zu haben scheinen und sie wohl nur lernen wollen, um hier leben zu können, wenn überhaupt. Das zeigt sich schon allein darin, dass sie sich untereinander meist auf Englisch unterhalten, was sicherlich keine so geeignete Methode ist, um Isländisch zu lernen. So fehlen auch da wieder gemeinsame Interessen, über welche man reden könnte. Ein Problem, was ich auch mit den meisten Einheimischen habe. Wenn ich etwas überhaupt nicht kann, dann sind das Small-Talks. Das geht mir auch in Deutschland nicht anders, sodass die Probleme wohl nicht allein auf die Sprachbarriere zurückzuführen sind, auch, wenn diese auch eine Rolle spielen mag.

Im Kindergarten und in der Schule lernte ich zwar, mir ein dickes Fell zuzulegen, was verbale Attacken betrifft, aber ich hatte kaum soziale Kontakte. Das führte dazu, dass die Themen, in welchen ich mich auskannte, sich grundlegend von den bevorzugten Themen meiner Mitschüler unterschieden: Ich wusste nichts über Schauspieler, Fernsehserien, Autos, Konzerte etc. während sie nichts über Geschichte, Politik, Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften wussten, bzw. bei weitem nicht so viel wie ich. So galt ich halt bis zur Uni als etwas schrulliger Außenseiter, mit dem man einfach nicht reden könne. Anderseits weist dies auch auf den Vorteil hin, welchen mein Autismus für mich hat: Einfach die Fähigkeit, mir selbständig umfangreiches Wissen auf den Gebieten anzueignen, welche mich interessieren. Bereits in der Schule führte dies dazu, dass ich in einigen Fächern (besonders Geschichte und Geographie) das meiste, was unterrichtet wurde, schon längst wusste und durch den Unterricht völlig unterfordert war.

Nach der Schule musste ich an der Uni im Rahmen meines Studiums erst einmal Hebräisch und Arabisch lernen und es entwickelte sich meine Begeisterung für Sprachen – obwohl Fremdsprachen mir zuvor in der Schule ein Gräuel gewesen waren. Aber nun lernte ich nicht nur die beiden besagten Sprachen fürs Studium, sondern ich besuchte auch Kurse in Französisch, Latein, Altgriechisch, Persisch und Serbokroatisch, wobei ich mich da zeitweise auch übernahm und längst nicht mehr all diese Sprachen aktiv lerne. Derzeit pflege ich daher besonders meine Kenntnisse in Isländisch, Hebräisch und Bibelgriechisch im Selbststudium. Hebräisch übe ich noch, da ich die Sprache zum einen für meine BA brauchen werde und sie zum anderen auch eine der beiden Sprachen der Bibel ist. Meine Mutter ist Pfarrerstochter und die Bibel spielte in meiner Erziehung daher eine große Rolle und das tut sie für mich bis zum heutigen Tage. Ich habe durch die Beschäftigung mit so vielen Fremdsprachen auch die Erfahrung gemacht, dass man Texte, indem man sie übersetze, immer auch in einem gewissen Maße verfälscht und es daher stets besser ist, wenn man sie im Original lesen kann.

Susannah Winter: Welche Auswirkungen hat die Behinderung auf deine Arbeitsfähigkeit, auf soziales Miteinander? Kannst du deinen Alltag alleine meistern? Wenn nicht, wer hilft? Gibt oder gab es Beziehungen und Partnerschaften und wie gestalteten sich diese? Gibt es Kinder oder besteht ein Kinderwunsch?

Karl Hollerung: Jobs hab ich bislang nicht allzu viele gehabt. In der neunten Klasse musste ich ein dreiwöchiges Pflichtpraktikum absolvieren, was ich bei Verwandten in einem landwirtschaftlichen Betrieb in der Nähe von Berlin tat. Die meisten Arbeiten konnte ich ausführen, nachdem man sie mir erklärt hatte. Ich brauchte jedoch vergleichsweise viel Zeit und mir wurde gesagt, dass andere Praktikanten das schneller hinbekommen hätten.

Im Rahmen meines Studiums musste ich ebenfalls ein Pflichtpraktikum absolvieren, was ich im Bundesarchiv tat. Dort war man wesentlich zufriedener mit mir. Meine Betreuer schienen teilweise sogar beeindruckt von meiner Arbeitsleistung zu sein und mir machte die Arbeit auch ausgesprochen Spaß. Das ist etwas, was ich mir für die Zukunft durchaus vorstellen könnte.

Meinen Alltag habe ich bislang weitestgehend alleine bewältigen können, so dass ich lange Zeit dachte, da überhaupt keine Hilfe zu brauchen. Dass dies so nicht ganz richtig ist, lernte ich, als ich letztes Jahr mein Zimmer im Studentenwohnheim in Halle auflösen musste, was auch beinhaltete, das Zimmer zu streichen und noch einmal grundsätzlich zu reinigen. Ich hielt das ursprünglich durchaus für machbar, war damit aber letztlich total überfordert. Ich hatte teilweise sogar Schwächeanfälle, lag dann einfach nur am Boden und konnte mich gar nicht mehr regen und am Ende war der Hausmeister trotzdem alles andere als zufrieden mit meiner Leistung, sodass meine Kaution zu einem Großteil nicht zurückgezahlt worden ist. Ich kann mir bis heute kaum erklären, woran das genau lag. Ich habe den Arbeitsaufwand wohl unterschätzt und werde mir beim nächsten Male definitiv Hilfe suchen müssen.

Eine Partnerin habe ich bislang noch nie gehabt und meine bisherigen Erfahrungen damit, verliebt zu sein, sind auch alles andere als positiv gewesen.

Susannah Winter: Gerade soziale Interaktion ist ein wichtiges Thema für Autisten. Magst du deine Erfahrungen hinsichtlich Kommunikation, verbaler wie nonverbaler Natur, mit deinen Mitmenschen schildern? Und vielleicht einmal selber dein eigenes „Ideal“ entwerfen hinsichtlich des Austauschs mit anderen?

Karl Hollerung: Soziale Interaktionen sind für mich vor allen durch Unsicherheit geprägt: Habe ich mich korrekt verhalten? Ist meine Erwiderung korrekt gewesen oder doch eher peinlich? Wie vermeide ich Fehlverhalten und was wird von mir konkret erwartet? Ein Beispiel: Bei einem Großfamilientreffen treffen meine Großeltern etwas verspätet ein. Ich denke: „Die hatten bestimmt eine stressige Reise und wollen sicherlich erst mal in Ruhe gelassen werden. Als Kind wurde mir schließlich beigebracht, andere Menschen stets so zu behandeln, wie man selbst gern behandelt werden möchte und mir geht es fürchterlich auf die Nerven, wenn ich, kaum dass ich irgendwo eintreffe, mit Gesprächen und Fragen bombardiert werde. Also werde ich sie besser erst später begrüßen und mich erst mal zurückhalten.“ Da gibt mir meine Mutter zu verstehen, dass das doch sehr unhöflich sei, die Großeltern einfach warten zu lassen und ich sie doch besser schleunigst begrüßen solle. Sie wollen schließlich wissen, wie es mir gehe. Offensichtlich ist das für andere Menschen viel einfacher, sich nach einer anstrengenden Reise sofort der sozialen Interaktion zu widmen, selbst, wenn sie schon ein wenig älter sind.

Außerhalb meiner Verwandtschaft werden die Probleme natürlich nicht eben kleiner: Wenn ich von mir aus andere Menschen anspreche, werden die Gespräche von diesen meist nach kurzer Zeit abgebrochen oder nur mit großem Unbehagen weitergeführt. Ich habe absolut keine Ahnung, woran das liegen könnte. Richtig interessante Gespräche entstehen immer erst dann, wenn ich angesprochen werde und ich nur darauf zu reagieren brauche. Mir ist auch oft genug gesagt worden, sehr komisch zu sein, allein schon in meiner Haltung und meinem Gang. Gespräche können daher erst dann in Gang kommen, wenn Menschen beschließen, über die doch offensichtlich sehr verstörenden Punkte in meinem Erscheinungsbild hinwegzusehen. Andererseits habe ich trotzdem den Verdacht, gar nicht zu wissen, wie ich ein Gespräch „richtig“ beginne und dass es da spezielle Floskeln gebe, welche man einfach lernen sollte. Sollte ich damit Recht haben, wäre ich sehr erfreut, wenn mir jemand mal diese Floskeln beibringen könnte.

Offensichtlich gibt es soziale Fähigkeiten, welche bei Nichtautisten so selbstverständlich vorhanden sind, dass sie sich ihrer gar nicht bewusst sind. Daher können sie es überhaupt nicht einordnen, wenn jemand nicht über diese Fähigkeiten verfügt –sonst könnte man mir meine Fehler auch einfach freundlich erklären, wie meine Mutter es im ersten Beispiel schließlich auch tat.

Es ist andererseits aber auch nicht so, dass ich ein total verbohrter Einzelgänger wäre: Ich verfüge über eine hohe Allgemeinbildung auf vielen Gebieten und es ist durchaus möglich, mit mir interessante Gespräche zu führen. Mir ist schon oft gesagt worden, ein sehr angenehmer Gesprächspartner zu sein. Ich interessiere mich dabei auch für das Alltagsleben und die Probleme meiner Gesprächspartner. Ich versuche dann auch gerne, mit Rat und, wenn irgend möglich, auch gerne mit Tat zu helfen, wobei ich die Erfahrung gemacht habe, dass allein schon das Zuhören anderen Menschen offensichtlich eine große Hilfe gewesen ist.

Also liebe Leute: Wenn ihr mit mir ins Gespräch kommen wollt, dann sprecht besser mich an, da ich nicht weiß, wie ich von mir aus Kontakte aufbauen soll und sprecht bitte nicht über Autos, Schauspieler und andere Themen, welche für mich nicht von Belang sind. Abgesehen davon kann man sich mit mir sehr gut zu unterhalten.

Susannah Winter: Bist du via Internet oder sogar persönlich mit anderen Betroffenen vernetzt und hilft dir dieser Austausch, nimmt er eine besondere Stellung in deinem Leben ein?

Karl Hollerung: Ab dem Sommer 2014 habe ich begonnen, mich intensiv mit dem Thema Autismus zu beschäftigen und da gedieh dann auch der Wunsch in mir, mit anderen Autisten Kontakt aufzunehmen. Ich fand nach langem Suchen dann schließlich in Halle eine Autismus-Selbsthilfegruppe, an deren monatlichen Treffen ich dann ab September teilnahm. In Reykjavik gehe ich seit Oktober ebenfalls zu einer Autismus-Selbsthilfegruppe, welche sich zweimal im Monat trifft. Auf Facebook bin ich auch mit mehreren anderen Autisten freundschaftlich verbunden und Mitglied sowohl in deutschen als auch isländischen Gruppen. Im April letzten Jahres war ich auch auf dem Autismus-Tag in Leipzig.

Es ist sehr interessant, aber auch teilweise verstörend zu sehen, dass andere Autisten ähnliche Probleme haben, wie ich. Gerade die Jobsuche ist für Autisten ein Riesenproblem und zwar nicht nur in Deutschland: In der Autismus-Gruppe in Reykjavik sind weit mehr als die Hälfte der Mitglieder arbeitslos bzw. hangeln sich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten und das, obwohl Island zu den Ländern mit den niedrigsten Arbeitslosenquoten weltweit zählt. Das spricht wirklich Bände. Die Schwierigkeiten bei der Jobsuche werden hier auch bei jedem Treffen angesprochen. Es gibt hier und da natürlich Ausnahmen, aber das sind eben wirklich nur Ausnahmen.

Auch in Deutschland hat man als Autist auf dem Arbeitsmarkt praktisch nur eine Chance, wenn man Informatik-Spezialist ist. Sonderlich motivierend ist das wirklich nicht. Ich habe bislang das Glück gehabt, vom Erbe einer verstorbenen Oma ganz gut leben zu können, aber ewig wird dieses Erbe natürlich auch nicht reichen.

Allerdings besuchte ich auch mal einen Latein-Intensivkurs in Berlin, dessen Leiter sich später ebenfalls als Autist entpuppte. Er führt mit seiner Frau zusammen ein kleines Unternehmen, welches Intensivsprachkurse in den Sprachen Bibelhebräisch, Altgriechisch und Latein anbietet, wobei er Altgriechisch und Latein übernimmt. Es war sehr interessant, sich mit ihm zu unterhalten, u.a. über unsere zahlreichen Gemeinsamkeiten. Aber das ist wohl auch ein Glücksfall: Alleine wäre er wohl kaum dazu in der Lage gewesen, so ein Unternehmen aufzubauen. Man muss eben erst einmal die richtigen Leute kennengelernt haben. Aber es zeigt eben auch, dass wir mit der richtigen Unterstützung auch einiges zu Stande bringen können, auch, wenn Informatik nicht zu unseren Spezialgebieten zählt.

Susannah Winter: Bist du im Verlauf deines Lebens aufgrund deiner Behinderung von Familie, Freunden, Fremden, Ämtern, Ärzten diskriminiert oder nicht ernst genommen worden? Gab es Schwierigkeiten hinsichtlich der Finanzierung von Medikamenten? Der Bewilligung von Kuren oder Therapien?

Karl Hollerung: Naja, mir ist schon oft genug gesagt worden, ich passe mich halt nicht ordentlich an und solle einfach mal ein wenig lockerer sein. Aber das ist eigentlich verzeihlich: Für einen Nichtautisten ist es sicherlich sehr schwierig, sich in einen Autisten reinzudenken, zumal man mir meine Behinderung eben auch nicht ansieht. Menschen neigen dazu, in Schubladen zu denken und nach möglichst einfachen Antworten für merkwürdige Dinge zu suchen und ich selbst mache da keine Ausnahme. Ansonsten habe ich bislang sehr selbstständig leben können. Seit meiner Kindheit habe ich auch kaum Kontakt zu Therapeuten gehabt, abgesehen von jeweils zwei Logopädinnen in Berlin und letztes Jahr in Halle, mit denen ich aber sehr gut gearbeitet habe. Ich stottere ein wenig, wobei ich mir nicht sicher bin, ob das wirklich mit meinem Autismus zu tun hat.

Susannah Winter: Begegnen dir Vorurteile? Wie sehen diese aus? Im Bereich Autismus gibt es neben den üblichen negativen Vorurteilen auch positive Vorurteile. Viele denken bei Autismus an die sogenannten „Insel-Begabungen“. Begegnet dir das und stört es oder ist eher angenehm?

Karl Hollerung: Während meiner Studienzeit in Halle erwarb ich mir den Ruf, ein besonders gutes Gedächtnis zu besitzen, da ich mich z.B. an das Wetter bestimmter Tage und Jahre auch nach Jahren sehr gut erinnern kann, was offensichtlich als außergewöhnlich wahrgenommen wird. Auch meine Allgemeinbildung galt als außergewöhnlich. Allerdings spielte das Thema Autismus für mich damals noch keine sonderlich große Rolle. Ich hatte aber bereits auf meine Facebook-Seite geschrieben, Asperger-Autist zu sein. Jedenfalls: Am Ende des Sommersemesters 2013 mussten meine Kommilitonen für eine Klausur eines Moduls lernen, welches ich schon 2011 abgeschlossen hatte. Der für die Klausur verantwortliche Dozent hatte den Ruf, jedes Jahr weitestgehend dieselbe Klausur vorzubereiten. Plötzlich wurde ich mit Anfragen von meinen Kommilitonen bombardiert, ihnen doch bitte die Fragen von vor zwei Jahren zuzuschicken. Ich war ausgesprochen irritiert: Ich merke mir doch keine Klausur, welche ich vor zwei Jahren schrieb. Ich weiß aber nicht, wie bekannt die Tatsache war, dass ich Autist bin, zumal es eben nur auf meiner Facebook-Seite zu lesen war und ich das sonst eigentlich niemandem erzählt hatte. Vielleicht lag es wirklich nur an den Eindruck, welchen ich zuvor in den Seminaren gemacht hatte und meine Kommilitonen wussten gar nicht, dass ich Autist bin.

Aber auch bei den bereits erwähnten negativen Reaktionen ist zu erwähnen, dass den Betreffenden meist nicht klar war, dass ich Autist bin, sondern nur, dass ich „anders“ wäre und offensichtlich nicht dazugehören sollte. So unsichtbar ist mein Autismus wohl doch nicht.

Susannah Winter: Was würdest du dir von Ärzten, der Gesellschaft, der Politik aber auch von Familienmitgliedern, Freunden und Fremden im Umgang mit deinem Autismus wünschen?

Karl Hollerung: Dass ich nicht auf meine Schwächen hinsichtlich meiner mangelnden sozialen Fähigkeiten reduziert werde, sondern die Gelegenheit bekomme, meine Stärken so auszuleben, dass ich damit anderen von Nutzen sein kann und mein Leben somit einen bestimmten Sinn bekommt. Die Probleme für Autisten allgemein bei der Arbeitssuche habe ich ja schon beschrieben. Es gibt mittlerweile immerhin zwei Unternehmen, welche vorwiegend Autisten einstellen und die Arbeitsplätze auch autistengerecht gestalten. Der Haken an der Sache ist leider nur, dass sie vorwiegend Informatiker anstellen und nur wenige Autisten auf Informatik spezialisiert sind. Aber es ist zumindest mal Menschen klar geworden, dass Autisten außergewöhnliche Leistungen in ihren Spezialgebieten erzielen können, wenn sie das passende Umfeld dazu vorfinden. Ich wünsche mir, dass auch andere Arbeitgeber zu dieser Erkenntnis gelangen und Arbeitsplätze vorwiegend für Autisten anbieten, weil wir eben auf dem freien Arbeitsmarkt aufgrund unserer mangelnden sozialen Fähigkeiten kaum bestehen können. Das wäre eben nicht nur eine soziale Maßnahme, sondern auch etwas, von dem Arbeitgeber enorm profitieren könnten.

Susannah Winter: Niemand kennt dich besser als du selbst. Was tust du für dich, um dich besser zu fühlen? Was hilft? Was schadet?

Karl Hollerung: Wie andere Autisten auch, zapple ich sehr viel: Ich wackele sehr schnell mit meinen Händen und Fingern und denke mir dabei alle möglichen Geschichten aus oder denke über bestimmte Probleme und Theorien nach, welche mich eigentlich nicht unmittelbar beschäftigen. Mit der Zeit habe ich gelernt, das sehr unauffällig bei jeder Gelegenheit tun zu können. Jedenfalls bin ich schon seit Jahren nicht mehr darauf angesprochen worden.

Susannah Winter: Was wird in Artikeln über Autismus normalerweise außen vor gelassen oder findet keine Erwähnung, was du unbedingt würdest lesen wollen und bisher vermisst hast oder was andere unbedingt lesen sollten?

Karl Hollerung: Dass Autisten auch in sozialen Berufen sehr erfolgreich arbeiten können. Mein Vater, der wohl ebenfalls Autist ist, arbeitete sehr lange Zeit mit geistig Behinderten und war damit sehr erfolgreich. Ich habe sowohl auf Island als auch in Deutschland viele weitere Autisten kennengelernt, die sich für soziale Berufe wie die des Lehrers oder des Therapeuten interessieren und teilweise darin auch sehr erfolgreich sind (meinen ehemaligen Lateinlehrer habe ich ja schon erwähnt). Auch ich arbeitete letztes Jahr ehrenamtlich als Deutschlehrer für Flüchtlinge. Gerade denjenigen, die schon ein wenig Deutsch konnten, konnte ich bei Grammatikfragen sehr weiterhelfen. Dass mir nachgesagt wird, gut zuhören zu können und ein angenehmer Gesprächspartner zu sein, habe ich auch schon erwähnt. Ich denke, trotz unserer sozialen Probleme sind wir Autisten sozialer, als die meisten denken, aber eben auf unsere ganz eigene Art.

Susannah Winter: Zuletzt: Welche Tipps würdest du Menschen geben, die mit Autismus zu kämpfen haben? Vielleicht auch Tipps für Eltern, die gerade erfahren haben, dass ihr Kind Autist ist. Wer hilft effektiv, wer ist der beste Ansprechpartner? Gibt es praktische Tipps die Menschen in ähnlicher Situation den Alltag erleichtern?

Karl Hollerung: Ich denke, als Autist muss man sich auf seine einzigartigen Fähigkeiten besinnen, welche in jedem Autisten schlummern und versuchen, daraus so viel wie nur irgend möglich zu machen.

Am Allerwichtigsten ist zunächst folgendes: Liebe Eltern, egal, was Anbieter fragwürdiger Therapiemethoden oder „Medikamente“ euch sagen, Autismus ist nicht heilbar, sondern besteht das ganze Leben. Also bitte, liebt eure Kinder, so, wie sie sind und tyrannisiert sie nicht mit Therapiemethoden wie ABA, wo Kinder den ganzen Tag lang de facto wie Hunde abgerichtet werden. Fast noch schlimmer ist MMS, ein Chlorgemisch, mit welchem laut seinen Anhängern Autismus aus dem Körper des Kindes gespült werden kann. Es ist unglaublich, zu hören, was Kindern teilweise von ihren eigenen Eltern angetan wird, nur weil sie ein wenig anders sind.

Als Nichtautist Vater oder Mutter eines Autisten zu sein, ist natürlich eine Herausforderung. Es ist zunächst wichtig, zu verstehen, dass viele soziale Fähigkeiten, welche für Nichtautisten selbstverständlich sind, Autisten ihr Leben lang kaum beherrschen. Gerade ungeschriebene soziale Regeln werden von Autisten kaum selbstständig verstanden und müssen damit in der Erziehung besonders deutlich vermittelt werden. Die Erziehung muss damit noch strenger und werteorientierter sein, als bei nichtautistischen Kindern, zumal eben auch Autisten natürlich nicht als Engel auf die Welt kommen. Die Eltern müssen sich dafür natürlich auch vieler ungeschriebener sozialer Regeln auch erstmal bewusst werden, was schwieriger ist, als viele meinen dürften, da sie bei den meisten Menschen offenbar bereits Teil des Unterbewusstseins sind und somit sozusagen „automatisch“ befolgt werden.

Andererseits darf das Kind auch nicht den Eindruck bekommen, strenger behandelt zu werden, als seine nichtautistischen Geschwister und auch einem nichtautistischen Kinde schadet es auf keinen Fall, wenn es bestimmte gesellschaftliche Regeln und Werte nochmal besonders vermittelt bekommt.

Das darf aber andererseits auch auf keinen Fall so weit gehen, dass dem autistischen Kinde Vorstellungen der Eltern einfach übergestülpt werden, sondern es muss eben auch nach den Bedürfnissen des Kindes gesucht werden. Ganz wichtig ist auch hierbei, die besonderen Fähigkeiten des Kindes zu entwickeln und zu fördern, auch, wenn sie vielleicht sehr außergewöhnlich sind, um es für die Zukunft fit zu machen.

Susannah Winter: Lieber Karl, ich bedanke mich von Herzen für deine offenen Worte, wünsche dir viel Erfolg bei deinem Studium und dem Berufsleben im Anschluss und alles nur denkbar Gute für die Zukunft.

Karl Hollerung bloggt über Philosophie, Religion, Autismus und andere Themen auf https://khisland.wordpress.com/

(FÜR DIE BLOG-REIHE „REDEN WIR ÜBER…“ SUCHT DIE AUTORIN AUCH IN ZUKUNFT MENSCHEN, DIE ÜBER IHRE PHYSISCHE/PSYCHISCHE ERKRANKUNG IM KONTEXT GESELLSCHAFT/POLITIK/INKLUSION ABER AUCH ALLGEMEIN ÜBER IHR INDIVIDUELLES ERLEBEN BERICHTEN WOLLEN. KONTAKTDATEN UND NÄHERE INFORMATIONEN FINDEN SICH HIER.)

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