Wem sich beim Lesen der Überschrift die schriftsprachlichen Haare sträuben, wessen Sprachgefühl wegen der vorgenommenen Zugehörigkeitsanzeige durch einen, wie es heißt, adnominalen Dativ beleidigt wurde und wer sich deshalb fragt, wo denn „dem Verfasser sein Sprachstil“ abgeblieben sei, dem sei versichert: ruhig bleiben. Lesen Sie weiter, es ist nichts passiert. Nein, es geht im Folgenden nicht um das Thema, das bereits vor Jahrzehnten einen gewissen Bastian Sick umtrieb, nämlich den Genitiv zu retten („Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“).
Exkurs: Rettet den Genitiv!
Obwohl, die Beschäftigung mit der umgangssprachlichen Verwendung des Dativs unter Vernachlässigung des Genitivs erscheint mir durchaus amüsant:
„Wo ist dem Opa seine Brille?“
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Danke!
„Der Frau ihrem Mann sein Hut“
Im Schwäbischen scheinen folgende Sätze nicht unüblich zu sein:
„Isch des deim Vadder sei Audo?“
„Des isch meim Freind seinera Muader ihrm Scheff seinera Fra ihrm Ongel sei Haus“ [1]
Vielleicht auch am Rande interessant: Nicht nur der Dativ kann dem Genitiv sein Tod bedeuten. Auch der Akkusativ kann seinen Beitrag dazu leisten. Vor langer Zeit soll, wie mir eben erst bekannt wurde, das Verb „vergessen“ üblicherweise mit nachfolgendem Genitiv verwendet worden sein:„Ich habe schon wieder meiner Schlüssel vergessen.“ [2] Doch ist dieser Genitiv-Gebrauch lange schon vergessen, verdrängt vom vierten Fall…
Doch genug vom Fall des Genitivs durch den meuchlerischen Gebrauch anderer Fälle. Betrachten wir die stilistisch fragwürdige Formulierung der Überschrift lediglich als Blickfang, neudeutsch eyecatcher, um den Blick auf etwas ganz anderes zu lenken: auf Wörter, die etwas mit einem gewissen Janus zu tun haben.
Interaktion mit dem Leser: eine Rätselfrage
Wie schrieb doch der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) so völlig zu Recht: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“
Erweitern wir also einmal mehr die Grenzen unserer Welt durch eine analytische Betrachtung unseres Sprachgebrauchs.
Konkret: Was haben zum Beispiel die Wörter „umfahren“, „abdecken“ und „ausbauen“ gemeinsam? Wie bitte? Es sind alles Verben? Na gut, das ist ein Anfang. Es sind alles Verben mit einer Vorsilbe, genannt Präfix. Schon besser. Aber so einfach kommt man hier nicht davon. Erhöhen wir den Schwierigkeitsgrad und nehmen das Substantiv „Beule“ hinzu. Nun? Was haben die genannten Verben und das Substantiv gemeinsam? Bevor jemand entnervt das Handtuch wirft und zum aktuellen Blog über die politische Lage des Tages wechselt, hier die Auflösung: Alle vier Wörter sind Beispiele für sogenannte Januswörter. Und um die geht es im Folgenden. Doch zuvor holen wir ein wenig aus und beschäftigen uns mit dem Janus.
Hintergrund: Der römische Gott Janus mit dem Doppelgesicht
Janus ist nicht etwa die lateinische Form des Vornamens Jan. Der Name leitet sich vielmehr aus den beiden lateinischen Wörtern ianua (Tür) und ianus (überwölbter Durchgang, Torbogen) ab. Wem jetzt das Wort Januar in den Sinn kommt, hat so Unrecht nicht. Doch dazu später.
Bei den (alten) Römern war Janus ein Gott. Der Gott der Türen und Tore, der Ein- und Ausgänge. Man merkt gleich den Unterschied zu den bekannteren griechischen Göttern. Ging es hier um heroische Kämpfe mit Titanen, um komplexe Geschichten und den oft schwierigen Beziehungen der Götter untereinander, so waren die römischen Götter vielfach für konkrete Tätigkeiten in Landwirtschaft oder Haushalt zuständig. So gab es eine Göttin für Türscharniere und Türgriffe – und eben einen Gott für Türen und Tore.
Doch ganz so oberflächlich können wir die römische Götterwelt nicht abhandeln. Denn hinter der Tür, für die der Gott Janus zuständig war, verbarg sich weitaus mehr:
„Ein Haus ist nur so sicher wie seine Tür. Das Öffnen und Schließen der Tür und das Überschreiten der Schwelle aus dem Privatbereich des Hauses in den Lärm der Außenwelt und umgekehrt können für einen Menschen Vorgänge von entscheidender Bedeutung sein. Folglich glaubte man, dass sie in der Macht eines Gottes lägen, des Janus.“ [3]
Einer Tür kommen also zwei gegensätzliche Bedeutungen zu: Eine Tür ist Eingang oder Ausgang – je nachdem, auf welcher Seite man steht. Eine Tür kann man öffnen oder schließen. Eine Tür stellt einen Durchgang dar, einen Übergang – im übertragenen Sinne auch der Übergang von einem Zustand zu einem anderen, von etwas Vergangenem und etwas Zukünftigem. Deshalb wird Janus doppelköpfig dargestellt und symbolisiert damit auch die Zwiespältigkeit der Dinge, die beiden entgegengesetzten Seiten einer Sache.

Münze mit Januskopf • gemeinfrei • wikipedia
Janus steht symbolisch für den Übergang vom Alten zum Neuen. Der eine, oft ältere Kopf blickt zurück in die Vergangenheit, der jüngere schaut in die entgegengesetzte Richtung, in die Zukunft. Diese Dualität wurde als etwas Grundsätzliches angesehen, als ewige Gesetzmäßigkeit. Ganz nach dem Motto: Alles hat zwei Seiten.
Janus war der Gott des Anfangs und des Endes, aller Neuanfänge, allen Ursprungs – damit Schöpfer der Welt, mit dem alles seinen Anfang nahm. Janus „kennt die Vergan-genheit und die Zukunft und wacht über das, was hinter ihm liegt und das, was vor ihm steht, und beschützt somit die Übergänge von einem Zustand in den anderen, von einer Welt in die andere.“ [4]
Ursprünglich war Janus der Gott der Sonne und des Lichtes. Das ist stimmig, denn mit den ersten Sonnenstrahlen nimmt jeder Tag seinen Anfang und mit dem letzten endet er.
Janus war Vater aller Dinge und immer der Erste: Ihm wurden bei kulturellen Ritualen immer zuerst ein Opfer gebracht, das erste Gebet des Tages galt ihm. Er war Bewacher der Brücken als Übergang über das Wasser, ebenso wie er der Gott der Quellen war. Und auch bei jeder Geburt soll er (angeblich) dabei gewesen sein.
Und schließlich beginnt das Jahr, zumindest seit dem Jahre 153 v.Chr., mit dem Januar. Der Ianuarius als erster Monat des Jahres, bei dem sowohl ein Rückblick auf das alte als auch ein Ausblick auf das neue Jahr üblich sind. Dem doppelköpfigen Janus zur Ehre.
Dass der vielbeschäftige Janusgott nebenbei auch noch Herrscher über die Kriege war – geschenkt!

Janusbogen in Rom • gemeinfrei • wikipedia
Im trockenen Staubecken wimmelt es vor Staubecken
Wörter mit zwei verschiedenen Bedeutungen gibt es viele.
Da gibt es z.B. Wörter, die gleich geschrieben werden, aber etwas völlig anderes bedeuten. Man erkennt die jeweilige Bedeutung aus dem Kontext heraus, aber auch an der Aussprache. Welche zwei Bedeutungen haben z.B. die folgenden Wörter, je nach Betonung?
Heroin – modern – Montage – Staubecken (Lösung folgt)
Dann gibt es Wörter mit gleicher Schreibweise und gleicher Aussprache, z.B.:
Zug – Mutter – Birne – Tor – Band
„Wenn Sie einen Zug nehmen möchten, hilft Ihnen sowohl ein Bahnhof als auch eine Zigarette weiter.“ [5] Eine Mutter kann zu einer Schraube oder zu einem Kind gehören. Die Birne kann lecker schmecken oder leuchten. Das Tor geht auf, der Tor hat den Mund offen. Der Band 3 von Karl May steht im Regal, das Band wird aufgewickelt.
Auflösung: Heroin = Rauschgift, Heroin = Heldin / modern = faulen, modern = zeitgemäß / Montage = Installation, Montage = Plural von Montag, Stau-becken oder Staub-ecken
Alle diese Beispiele sind noch keine Januswörter. Dass ein Wort mehrere Bedeutungen hat, qualifiziert ihn noch nicht zu einem „göttlichen“ Begriff. Da gehört noch mehr dazu.

Skulptur des Gottes Janus (Ausschnitt) • Foto: I, George Shuklin • gemeinfrei • wikipedia
Eben das Janusmäßige. Ein Januswort hat nicht nur zwei Bedeutungen, sondern – und jetzt bitte mitschreiben – genau gegenteilige Bedeutungen.
Und damit wird es eng unter der Vielzahl an Worten, Wörtern, Begriffen, Wortarten und was da noch alles in den Untiefen der deutschen Sprache herumspukt.
Endlich: Dem Janus seine Wörter
Apropos: Untiefe. Dieses Wort ist ein Januswort. Wenn man „Untiefe“ googelt, erhält man zwei Antworten: „flache, seichte Stelle in einem Gewässer“ und „Sehr große Tiefe in einem Gewässer“
Gegensätzlicher geht es nicht. In der Nautik ist eine Untiefe wegen der verneinenden Vorsilbe un- ein Gewässer mit geringer Tiefe. In der Alltagssprache kommt dem un- eine steigernde Bedeutung zu, so wie bei Unsumme oder Unmenge. Daher die gegensätzliche Bedeutung. [6]
Ein weiteres Beispiel für ein Januswort ist der Begriff Quantensprung. Ein solcher Sprung kann sowohl einen sehr großen als auch einen sehr kleinen Schritt bedeuten. In der Physik versteht man unter einem Quantensprung die Bewegung eines Elektrons (in Form eines „Sprungs“) von einer energiearmen auf eine energiereichere Umlaufbahn um den Atomkern. Oder auch umgekehrt das Zurückfallen auf die ursprüngliche Bahn (wobei im übrigen Energie in Form von Licht frei wird). Beide Energiesprünge sind, wie man bei Max Planck nachlesen kann, aber sowas von winzig klein… In der Alltagssprache hingegen versteht man fälschlicherweise unter einem Quantensprung das Gegenteil, nämlich einen sehr großen (Entwicklungs)schritt. [7]
Kommen wir zurück zur Rätselfrage am Anfang mit den genannten Januswörtern:
umfahren: je nach Betonung: úmfahren – umfáhren
Man kann den Stau umfahren oder gegen etwas fahren.
Robert Gernhardt hat das bekannte Kinderlied von Fallersleben janusmäßig umgedichtet: „Ein Männlein steht im Walde / ganz still und stumm, / wenn ich es nicht umfahre, / dann fahre ich es um.“[8]
abdecken: etwas zudecken oder abdecken – eine Bedeckung entfernen
ausbauen: etwas herausnehmen – etwas erweitern, vergrößern
Beule: eine Vertiefung, eine Delle (im Blech) – Erhebung, Schwellung (durch einen Stoß)
Weitere Januswörter:
anhalten: der Zug hält an – der Regen hält an, die Wachstumsphase hält an
Platzangst: wissenschaftlich: Angst vor großen Plätzen (Agoraphobie), umgangssprachlich: Angst vor engen Räumen (Klaustrophobie)
Bescherung: Das ist ja eine schöne Bescherung! – Ich freue mich auf die Bescherung am Weihnachtsabend
dämmern: es dämmert und wird hell – es dämmert und wird dunkel
einstellen: nach einem Bewerbungsgespräch wird jemand eingestellt (es fängt etwas an) – das Verfahren wird eingestellt (es wird etwas beendet)
übersehen: entweder hat man die Übersicht über alles oder man bemerkt etwas nicht
Das Letzte: Janus und die Karten
Es wird gemunkelt, dass Janus auch Gott der Kartenspiele war. Schade, dass es zu Zeiten der (alten) Römer das Doppelkopf-Spiel noch nicht gegeben hat. Man hätte damals beim Doppelkopf wunderbar um die Münzen mit dem Doppelkopf spielen können…

Janus-Münze • gemeinfrei • wikipedia
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QUELLENANGABEN:
[1] https://grammis.ids-mannheim.de/fragen/27
https://de.wikipedia.org/wiki/Dativ
[2] https://languagetool.org/insights/de/beitrag/dativ-genitiv- sein-tod/
[3] https://leoninum.org/2018/12/der-gott-mit-den-zwei-gesichtern/
[5] https://www.leginda.de/januswoerter/#
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Untiefe
[7] https://www.swr.de/swrkultur/wissen/was-ist-ein-quantensprung-104.html#:~:text=
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Januswort aus: Später Spagat. Verlag S. Fischer, Frankfurt 2008
LINKS ZU JANUSWÖRTERN:
• https://www.wupperleben.de/2020/10/14/die-janusworte/
• https://www.sprachlust.ch/Was/Lupen10/Lupe114.html
• https://de.wikipedia.org/wiki/Januswort
• https://www.sprechen.com/die-kunst-der-januswoerter-ein-spiel-mit-paradoxen-bedeutungen/
• https://de.wiktionary.org/wiki/Verzeichnis:Deutsch/Januswörter
FOTOS:
Münze mit Januskopf: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Meyers_b9_s0153_b1.png
Janusbogen in Rom: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Arco_di_Giano.jpg
Skulptur des Gottes Janus: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2416000
Janus-Münze: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1640286