Die Differenz zwischen Promilleformeln und tatsächlichem Meßwert

Vor etlichen Jahren hat eine Journalistin von einem selbsterlebten - Vorfall als alkoholbeschwingte Radlerin erzählt:

Wer rechnet als Radfahrer mit sowas? Kurz nach Mitternacht, Polizei von rechts. „Sie fahren Schlangenlinien. Haben Sie getrunken?“ „Naja. Ja.“ „Wieviel?“ „Hm. Halben Liter Rotwein?“ Die Polizisten lachen sehr laut. „Na, dann pusten wir mal.“ Mist. Viel mehr getrunken als zugegeben. Was tun? Verzweiflungsstrategie: Langsam pusten. Das Gerät streikt. Nochmal, bisschen fester. Der Messfehler des elektrochemischen Handmessgeräts Dräger 7140 ist klein, höchstens o,o5 Promille. Schummeln nicht möglich. Rauchen kann das Messergebnis erhöhen. Eine Flasche Rotwein für eine Frau von 60 Kilo ergeben laut Online-Rechner-Widmarkformel 1,93 Promille. Oder (andere Website) nur 1,61. Rauchen nicht einberechnet. Schnaps aufs Haus auch nicht. Der nie gemachte Führerschein rückt in weite Ferne. Das Gerät piept. 0,81. Verwunderung. Und die Erkenntnis: Formeln lügen.

Mich verwundert diese Geschichte überhaupt nicht. Über den Zusammenhang zwischen der aufgenommenen Alkoholmenge und der dann zu messenden Blutalkoholkonzentration sind eine Menge schauerlicher Legenden im Umlauf. Besonders schauerlich ist dabei der Umstand, daß diese Legenden von Fachleuten, also von Verkehrspsychologen - MPU-Gutachter, bzw. MPU-Berater - verbreitet werden. Nicht wenige Kollegen bedienen sich der Formeln der Promillerechner, weigern sich dabei standhaft, diese Werte anhand eines heroischen Selbstversuchs - notfalls mit geliehenem Alkomaten - nachzuprüfen.

Ich zitiere mich der Einfachheit selbst:

Nach der sogenannten WIDMARK-Formel

Alkoholgehalt in Promille = Alkoholmenge in Gramm / Körpergewicht in kg x 0,7

errechnet sich für eine Person von durchschnittlichem Körpergewicht (75 kg) pro Standardglas (8 g reiner Alkohol, das entspricht 0,2 l Bier von 4,8 %) eine Blutalkoholkonzentration von ca. 0,15 Promille.

Wenn man die obige Faustformel auf größere Mengen Alkohol anwenden will, muß man natürlich berücksichtigen, daß der Alkoholabbau bereits beginnt, wenn der erste Tropfen Alkohol in der Leber ankommt. Noch während ich trinke, ist der Abbau in vollem Gange. Man rechnet in den frommen Alkoholbroschüren gemeinhin mit einem Abbaufaktor von 0,1 Promille pro Stunde. Dieser Wert erscheint allerdings für eine trainierte, aber noch nicht kaputtgemachte Leber als sehr niedrig.

Wenn ein der Trunkenheitsfahrt Beschuldigter nicht auf frischer Tat ertappt und aus dem Auto gezerrt wird, sondern erst mit Verzögerung festgenommen werden kann, besteht meist der Verdacht auf Nachtrunk. In diesem Falle läßt die Polizei zwei Blutproben im Abstand von 20 bis 30 Minuten machen. Schaut man sich die Blutentnahmeprotokolle an, so ist der zweite Meßwert meistens um ca. 0,1 Promille niedriger als der erste. Auf die volle Stunde hochgerechnet läßt sich daraus leicht ein Alkoholabbau von 0,2 bis 0,3 Promille errechnen.

Bleiben wir aber bei der vorsichtigen Rechnung und nehmen wir, um die Sache nicht noch komplizierter zu gestalten, als Faustformel 0,1 Promille für das Standardglas an, den Abbau schon eingerechnet. Dabei ist ein in Gesellschaft übliches Trinktempo vorausgesetzt.

Das heißt, für 2,0 Promille braucht nach der WIDMARK-Formel ein normal gebauter Mann, der nicht gar zu hastig trinkt, immerhin 20 Gläser Bier à 0,25 l, entsprechend 10 Halbe-Krüge Bier oder 8 Viertelgläser Wein (knapp drei Flaschen Wein á 0,7l) oder 20 Schnäpse à 0,02 l (gut eine halbe Flasche Schnaps).

Und selbst das ist letztlich pure Theorie. Was in der einfachen WIDMARK-Formel nämlich noch nicht vorkommt, ist das sogenannte Resorptionsdefizit. Darunter versteht man das Phänomen, daß ein gar nicht mal so kleiner Teil des getrunkenen Alkohols unverarbeitet durch den Körper wieder ausgeschieden wird, also nicht in den Blutkreislauf übergeht. Dieses Resorptionsdefizit ist individuell sehr verschieden, liegt zwischen 5 Prozent und immerhin 45 Prozent. Ein Resorptionsdefizit von 45 Prozent heißt: knapp die Hälfte des überhaupt getrunkenen Alkohols rauscht unverarbeitet in die Blase und von dort ins Wirtshausurinal.

So wie es beim Essen gute und schlechte Futterverwerter gibt, gibt es auch beim Trinken Menschen, die den genossenen Alkohol aufsaugen wie ein Schwamm, während andere einen erheblichen Teil durchlaufen lassen.

Das heißt, die WIDMARK-Formel beschreibt die maximale Obergrenze für die BAK. Der wahre Wert liegt in der Regel erheblich niedriger, das heißt, um zwei Promille zu erreichen, sind eher deutlich mehr Gläser Alkohol nötig, als oben dargestellt.

Der Trinkversuch

Im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit veranstalten Medizinisch-Psychologische Untersuchungsstellen gerne sog. „Trinkversuche“. Es werden Rechtsanwälte, Verwaltungsbeamte, Journalisten etc., kurz: Leute, die entweder berufsmäßig mit Alkohol am Steuer zu tun haben oder eine große Wirkung nach außen garantieren, eingeladen. Die Gäste bekommen alkoholische Getränke serviert. Der Unterschied zu einem normalen Gelage besteht lediglich darin, daß jemand (einer, der nüchtern bleiben muß) den Konsum der einzelnen Gäste festhält, sich auch Notizen über die Veränderung des Verhaltens der einzelnen Testteilnehmer macht. Zu Beginn, am Ende und in gewissen Zeitabständen dazwischen werden mit einem Alkotestgerät die Promille gemessen.

Vor einigen Jahren konsumierte bei solch einem Trinkversuch ein 84 kg schwerer Mann im Verlaufe von vier Stunden 6 Glas Bier (á 0,5 l) und vier Gläser Schnaps (á 2 cl). Als Faustregel läßt sich sagen daß vier Standardgläser Schnaps dem Alkoholgehalt von einem Liter Bier entsprechen. Unser „Trinker für die Wissenschaft“ hatte also im Verlaufe von vier Stunden den Alkoholgehalt von 8 Glas Bier - entsprechend vier Liter - konsumiert. Wie dies nach acht Bier nicht weiter verwunderlich sein dürfte, hatte er ganz erheb­liche Probleme mit seiner Standfestigkeit, geschweige seinem Gehvermögen, die Aussprache war schwer beeinträchtigt, kurz: Der Mann war betrunken und alles in allem von jeder Fahrtüchtigkeit weit entfernt.

Gemessen wurden bei diesem Mann 0,79 Promille.

Die Wahrheit, nach und nach

In Nachschulungskursen für alkoholauffällige Kraftfahrer bediene ich mich gerne dieser Geschichte. Erzähle ich sie in der ersten Sitzung, bei der man eben dabei ist, sich kennenzulernen und Vertrauen zueinander zu fassen, dann ist die Reaktion fast immer demonstratives Erstaunen und fassungslose Ungläubig­keit: „Das gibt es nicht, das glaub’ ich nicht. Ich habe doch damals - bei meiner eigenen Trunkenheitsfahrt - nur so wenig Bier und doch so viel Promille gehabt!.“

In der dritten, vierten Sitzung, wenn die Leute aufgetaut sind und aufgehört haben, sich vor mir als Kursmoderator zu fürchten, hört sich dann alles ganz anders an. Da erzählt dir dann einer, er habe sich damals bei der MPU gar nicht getraut, seine wahre Trinkmenge anzugeben. Von vier Bier habe er gesprochen und der Psychologe habe bloß müde gelächelt. Jetzt könne er es ja sagen, es seien acht Bier gewesen, mindestens. Gemessen habe man seinerzeit bei ihm 0,82 Promille. Und ein 90 kg schwerer Bauarbeiter erzählt, er habe sich mal in anderthalb Stunden „sechs Hoibe einegschteßn“ (sechs halbe Liter Bier getrunken). Auf der Heimfahrt sei er in eine Alkoholkontrolle geraten. Er sei sich sicher gewesen, daß jetzt der Führerschein weg sei und habe den Polizisten seine sechs Bier vor der Fahrt gestanden. Gemessen habe man dann bei ihm lächerliche 0,3 Promille und jeder, einschließlich der Polizisten, habe gedacht, der Alkomat wäre hin. In einem anderen Kurs erzählt ein kleiner, drahtiger Mann von ganz bestimmt weniger als 70 kg, er habe bei seinem ersten Delikt 2,2 Promille gehabt. Er könne sich noch gut dran erinnern, daß er vor dem Fahren einen Kasten Bier und eine Flasche (Jack Daniels (American Whiskey) getrunken habe.

Gehen Sie davon aus, daß bei einem Mann von 80 kg ein Kasten Bier (20 Flaschen á 0,5 Liter) nötig ist, um ihn auf zwei Promille zu bringen.

Eher mehr als weniger.

Die fromme Lüge der Verkehrssicherheitspropaganda

In der allerbesten Absicht, nämlich den ahnungslosen Autofahrer durch möglichst drastische Infor­mationen möglichst nachhaltig vom alkoholisierten Fahren abzuhalten, haben wohlmeinende Ver­kehrspsychologen und -mediziner viele Jahre lang gelogen - und tun es noch.

In gutgemeinten Aufklä­rungsbroschüren zum Thema „Alkohol am Steuer“ haben sie dem Bürger einzureden versucht, er wäre be­reits nach dem Genuß des dritten Bieres in Gefahr, an der damals noch geltenden 0,8-Promille-Grenze zu scheitern. Das ist doch nicht so schlimm, mag man einwenden. Man setzt in der Propaganda eben die Schwelle, ab welcher Gefahr besteht, ein bißchen niedriger an, als sie in Wirklichkeit ist, damit der möglicherweise Gefährdete im Zweifelsfall eher übervorsichtig als zu nachlässig ist.

Das Beispiel mit dem Haschisch

Nicht minder wohlmeinende Eltern und Pädagogen haben jahrzehntelang den Heranwachsenden die wilde Story vom bösen Haschisch erzählt - und tun es noch. Es mache ganz schnell süchtig, sagten sie, hinterlasse enorme körperliche und psychische Folgeschäden und vor allem: Der Konsum von Haschisch ziehe fast unvermeidlich den prompten Einstieg in das noch gefährlichere Heroin nach sich.

Die mit dieser Geschichte geimpften Jugendlichen lernten dann irgendwann Konsumenten von Haschisch kennen, Leute, die seit Jahren schon Haschisch konsumierten. Weder waren diese Leute an Körper und Geist kaputte Menschen, noch waren sie süchtig, noch jemals auf Heroin umgestiegen. Die Erfahrung mit der Lüge Haschisch verleitete dann manche zu dem Kurzschluß, es müßten auch die wilden Geschichten über Heroin Lügen sein.

Ein fataler Irrtum.

Falsche Solidarisierung

In unserem Fall führt die wohlmeinende Propagandalüge der Verkehrssicherheitspropaganda dazu, daß der biedere Bürger, der sich zum Fernsehen auch mal zwei Bier gönnt, diese Menge auf etwa 0,5 Pro­mille hochrechnet und schließlich davon ausgeht, davon ausgehen muß, daß sein Arbeitskollege, den man mit zwei Promille erwischt hatte, mal eben von 4 oder 5 oder 6 Bierchen genascht hat - einer Menge, die er sich zur Not auch bei sich selber vorstellen könnte.

All das Theater, welches Justiz und Behörden mit diesem Arbeitskollegen veranstalten, von der enormen Geldstrafe über den Führerscheinentzug bis zur Medizinisch-Psychologischen Untersuchung muß ihm unter solchen Voraussetzung absolut überzogen und schikanös erscheinen. In dem sicheren Bewußtsein, daß ein solches Schicksal auch ihm passieren könnte, wenn es denn nur ein bißchen dumm liefe, solidarisiert er sich mit seinem Kollegen, ohne das wirkliche Ausmaß von dessen Alkoholmißbrauch je begriffen zu haben.

Das ist die Gefahr.

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Margaretha G

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