Kastration des Rüden – die Lösung für alle Verhaltensprobleme?

Klappt es mal gerade nicht so mit der Kommunikation Hund-Mensch, wird sofort eine Kastration angeraten. Und zwar von den meisten Tierärzten, sehr vielen Hundetrainern und allen anderen hundekundigen Experten sowieso. Ja, der Rüde macht gelegentlich ganz schön viel Arbeit. Ist in der Umgebung eine läufige Hündin, kann es oft nervenzehrend für den Besitzer sein, wenn Pluto nachts heult, nicht mehr fressen mag, auf Jux und Gaude gehen will und nicht mehr abrufbar ist, weil er lieber der heißen Spur einer hitzigen Hündin folgt und aufs Pfeifen des Menschen dezent pfeift.

Dagegen kann man was tun: nämlich ihm die Hoden abschneiden lassen. Damit sind diese Probleme erledigt, weil das Testosteron fehlt. Der Sexualtrieb fällt weg, der Rüde wird zum „Onkel“ und seit dem Zeitpunkt der Kastration lebten alle glücklich und zufrieden. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Oder doch nicht? Ganz so einfach ist es nicht.

Erstens ist die Kastration zwar eine Routineoperation, aber Narkose ist Narkose und ein gewisses Risiko (besonders bei alten, kränkelnden und fettleibigen Tieren) bei der Anästhesie bleibt immer bestehen. Aus diesem Grund müssen Menschen auch beim Tierarzt (gleich wie beim Menschenarzt) eine Einverständniserklärung unterschreiben, dass sie über das Narkoserisiko ihres Tieres ausreichend aufgeklärt wurden.

Zweitens werden damit nur Probleme, die hormongesteuert sind, beseitigt, wie eben die oben genannten. Der Volksglaube, dass die Kastration auch gleichzeitig eine Ruhigstellung des Rüden bewirkt, erweist sich aber als falsch. Kein Testosteron heißt weder weniger laufen, noch weniger bellen und schon gar nicht weniger an der Leine ziehen. Einige Hunde werden vielleicht von einer etwas schwerfälligeren, nicht ganz so leicht erregbaren Gemütsart ergriffen, was den Besitzer ungemein irritieren kann, wenn er sensibel genug ist, das überhaupt zu bemerken. Aber der eigentliche Charakter des Hundes ändert sich dadurch nicht. Auch wird der Hund nicht automatisch fett, außer man füttert ihn mit hochkalorischem Trockenfutter und verschafft ihm keine Bewegungsmöglichkeit.

Rüden, die gegenüber Menschen und Hunden (und zwar sowohl gegenüber Rüden als auch gegenüber Hündinnen!) aggressives Verhalten an den Tag legen, werden dieses sicher nicht durch eine Kastration abstellen, nur weil ihnen das Testosteron fehlt. Im Gegenteil: der kastrierte Hund ist nun von anderen Hunden nicht mehr richtig als Rüde erkennbar und die Aggression kann sich sogar verschlimmern. Der „Onkel“ wird nun auch noch gemobbt.

Gleiches gilt für eine aggressive Haltung gegenüber Menschen: auch hier wird das Verhältnis durch eine Operation nicht verbessert, sondern oft noch verschlechtert.

Und zu guter Letzt wird auch das unbeliebte Aufreiten auf Menschenbeine oder Stoffpuppen nicht immer durch die Kastration beseitigt. Nicht alles, was die Evolution geschaffen hat, um Tieren das Überleben zu sichern und sie vor dem Aussterben zu bewahren, kann man mit dem Skalpell wegschneiden. „Pränatale Maskulinisierung“ heißen die Zauberworte, die den männlichen Hund auch post-op noch zu Hause und anderswo das Revier markieren oder Frauchen und Herrchen besteigen lassen. Die Genetik kann man nicht so leicht austricksen.

Der Vorteil einer Kastration ist zwar, dass der Hund keine Nachkommen mehr zeugen kann. Unendlich viele Kastrationsprojekte sind am Laufen, die weltweit Hunde von der Straße einfangen und kastrieren.

Aber blicken wir doch mal zum Eurovision Songcontest in die Ukraine:https://www.change.org/p/eurovision-song-contest-2017-teilnehmer-massent%C3%B6tungen-von-stra%C3%9Fenhunden-f%C3%BCr-den-eurovision-song-contest-2017-in-der-ukraine?recruiter=38529807&utm_source=share_petition&utm_medium=facebook&utm_campaign=share_facebook_responsive&utm_term=mob-xs-share_petition-no_msg Dort werden gerade wieder die Straßen gesäubert. Wenn Sie ganz genau hinschauen auf all die schrecklichen Bilder der abgeschlachteten Hunde, werden Sie erkennen können: die meisten ermordeten Tiere, die verendet am Straßenrand liegen, bevor sie entsorgt werden, haben eine Ohrmarke. Die meisten sind kastriert. Es spielt nämlich gar keine Rolle. Getötet werden sie trotzdem. Denn die Hundefänger bekommen dafür eine saftige Prämie. Denen ist es völlig schnuppe, ob sie einen kastrierten, einen trächtigen, einen zutraulichen (die meisten Straßenhunde sind leider sehr zutraulich gegenüber Menschen) oder einen unfreundlichen Hund einfangen und barbarisch killen.

Toter Hund=Geld vom Staat.

Die Hunde haben keine Chance, da wie dort nicht.

Menschen machen, was sie wollen.

Viele Hundehalterinnen führen das Argument an, "ihr Hund sei schon zwei Tage nach dem Eingriff viel kuscheliger". Im Ernst jetzt? Zwei gesunde Organe eines Lebewesens einfach wegschneiden, damit es anschmiegsamer wird? Sie haben immer ein Argument, immer eine Ausrede für ihr Tun. Solange sich Diktatoren weltweit durchsetzen, ist es egal, ob sie Wladimir, Kim, Cesar oder Hilde von nebenan heißen, denn ihr Wille geschieht. Ändern könnte sich nur etwas, wenn Menschen weltweit sensibler wären gegenüber Mitmenschen, Tieren und Mutter Erde. Momentan sieht es allerdings nicht so aus, als wären wir großflächig von empathischen Mitbürgern umzingelt. Im Gegenteil. Deshalb wird auch weiter herumgeschnitten am Rüden, obwohl es nicht nötig ist. Ein Versuch war es wert, denkt der Hundehalter. Klar, sind ja auch nicht seine Hoden, nicht seine Schmerzen, nicht sein postoperatives Hämatom, nicht sein Leben.

Das einzige Argument für eine Kastration, einer nicht lebenswichtigen Operation an einem Tier, ist der Prostata- oder Hodentumor beim Rüden. Alles andere ist verlogen. (Über die Vor-und Nachteile der Kastration bei Rüden und Hündinnen habe ich ausführlich in meinem Buch "Tipps vom Hundedoktor" geschrieben; das Thema würde hier auch den Rahmen sprengen.)

Wer einen Hund möchte und nicht mit dessen angeborenen Trieben zurecht kommen will oder kann, sollte sich lieber ein Stofftier kaufen. Dieses ist pflegeleicht, waschbar und zeigt auch keinerlei „unerwünschtes Verhalten“, welches man eigentlich Evolution nennt und das vom Menschen nur zu gerne weggeschnitten wird, obwohl er es doch selbst produziert hat. Denn unsere Hunde müssen das ganze Jahr über gebärfähig und zeugungswillig sein, damit sich die Züchter so oft wie möglich über Nachwuchs freuen dürfen. Somit haben wir nur das bekommen, was wir auch gerufen haben: Rüden, die ganzjährig sexuell aktiv oder hyperaktiv sind. Nun müssen wir damit leben.

Herzlichst Bela Wolf,

Tierarzt, Autor und Tiergesundheitsjournalist

https://tierarztwolfblog.wordpress.com

Counselling/Pixabay

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