Wenn Sie jetzt eine Abhandlung über fehlende Leinenführigkeit unfolgsamer Hunde erwarten muss ich Sie enttäuschen. Es geht um die Aufmerksamkeit des Hundes. Nicht was Sie denken! Es handelt sich keineswegs um unaufmerksame Hunde. Hunde sind IMMER aufmerksam. Der Unaufmerksame in der Geschichte ist der Mensch, der zu dem Hund gehört.

Neulich parkte ich direkt neben einer Riesenbaustelle, saß im Auto und trank entspannt Kaffee aus einem Pappbecher, meinen Hund neben mir, aufmerksam wie immer. Seinen Wolfsaugen entgeht nichts, nicht mal der Schatten eines vorbeihuschenden Hundes im hohen Gras in weiter Ferne. Er entdeckte ihn zuerst, den Mann mit seinem Beagle, der in einiger Entfernung von unserem Auto direkt vor der großen Baustelle stand und interessiert dem Baustellentreiben zukuckte.

Warum ich das wusste? Weil ich, im Gegensatz zu dem Mann, meinen Hund immer sehr genau im Auge habe, ich bin stets aufmerksam, wenn wir gemeinsam unterwegs sind. (Er dreht den Kopf, ich drehe ihn auch. Er fixiert das Eichkätzchen, ich sehe es auch. Und umgekehrt. Mein Hund mag das. Er fühlt sich sicher, wenn ich aus dem Auto aussteige, bevor er herausspringen darf, und demonstrativ das Auto umrunde, dabei so tue, als würde ich nach drohenden Gefahren (Hunde, LKW, Postboten, Müllmänner oder Kinder) Ausschau halten um das Gebiet für ihn zu sichern. Dann kann er entspannt aussteigen, denn ich habe ja bereits für ihn und in seinem Sinn festgestellt, dass alles in Ordnung ist!)

Der Beagle stand also angeleint neben dem Mann und fing zu zappeln und an der kurzen Leine zu zerren an. Der Mann bemerkte nichts davon, er beobachtete weiter gebannt die Arbeiter auf dem Gerüst, die Betonsäcke schleppten und herumhämmerten, sich Sätze zuschrien und eifrig am Werk waren. Der Hund hingegen riss ständig seinen Kopf nach oben, denn er hatte nur den riesigen Kran im Auge, der ober unser aller Häupter in der Luft herumschwenkte. Am Kran hingen einige massive Betonblöcke. Der Mann bemerkte nichts davon, obwohl sein Hund die ganze Zeit den Kran über ihnen fixierte und Angst bekam. Der Mann sah den Kran immer noch nicht, obwohl die Betonblöcke ziemlich drohend zehn Meter genau oberhalb seines Kopfes herumwirbelten. Er spürte irgendwann, dass sein Hund an der Leine (natürlich am Halsband, statt am Brustgeschirr) heftiger herumzappelte, bellte und weg wollte. Fast wäre er durchs Halsband geschlüpft, ich sah mich schon auf die Straße springen und ihn einfangen. Denn anstatt den Kopf zu heben und in die gleiche Richtung wie sein Hund zu schauen, zerrte der Mann an der Leine herum ohne das leiseste mitzubekommen, schimpfte mit seinem Hund und schaute dann wieder gebannt den Arbeitern zu, anstatt weiterzugehen, weil sich sein Hund sichtlich unbehaglich und bedroht fühlte.

Mein Hund hatte zu diesem Zeitpunkt beides im Auge, den anderen Hund und den Kran. Er entschied sich dafür, dass der andere Hund interessanter wäre als der Kran (zu leise um verbellenswert zu sein).

Hunde sind immer aufmerksam, Menschen meistens nicht. Hunde versuchen es ihren Menschen recht zu machen, wo sie nur können; wären die Betonblöcke vom Kran gefallen, hätten sie Mann und Hund unter sich begraben. Hätte der Mann seinen Hund aufmerksam beobachtet und sich gefragt, warum der Hund bellt und zappelt, hätte er in die gleiche Richtung wie sein Hund geschaut, nämlich nach oben und wären beide ein paar Schritte weitergegangen nachdem der Hund die Gefahr meldete, hätten sie diesen Unfall überlebt…

Mangelnde Aufmerksamkeit im Alltag ist der häufigste Grund für Unfälle im Haushalt und auf der Straße. Hunde sind nie unaufmerksam, was sie tun, tun sie konzentriert und gründlich. Haben Sie schon einmal gesehen, wie es Hunde reißt, die harmlos am Weg knapp neben einer vielbefahrenen Straße angeleint mit ihren Menschen spazieren gehen und ein Auto fährt plötzlich langsam an ihnen vorbei, in dem ein Hund lautstark bellt?

Ich beobachte das jeden Tag. Wir sind so ein bellendes Auto. Wir fahren an Hunden vorbei, die es reißt und ich bemerke dabei drei Kategorien von Hunden an der Leine.

Die, deren Menschen uns zwar nicht bellen hören, die es aber ebenfalls reißt, weil sie ihren Hund aufmerksam beobachten und die dann instinktiv in die gleiche Richtung schauen wie ihr erschrockener Hund. Dann bemerken sie unser bellendes Auto und lachen.

Und die anderen Menschen, die uns auch nicht hören können, die aber ihrem erschrockenen Hund, der von uns verbal aus dem vorbeifahrenden Auto (also quasi aus dem Nichts) attackiert wurde, eins überziehen, weil er, für sie völlig grundlos, in die Leine springt oder erschrickt. Die lachen naturgemäß nicht, weil sie uns ja gar nicht bemerkt haben und bei dieser Sorte Hundeführer hat auch der Hund sicher nichts zu lachen.

Und dann gibt es noch die dritte Sorte, deren Hund es zwar auch reißt, der dann aber genau in der Sekunde aufmerksam seinen Menschen anschaut und auf die menschliche Reaktion wartet. Da die Menschen unser Gebell durch die geschlossenen Autofenster meist nicht hören, passiert in dem Fall gar nichts und beide gehen entspannt weiter.

Die vierte Sorte ist fast die Schlimmste: dazu zählen unangeleinte Hunde, die sich erschrecken und in das bellende Auto springen würden, und zwar ohne dass sie abrufbar wären oder ohne, dass es ihr irgendwo weiter weg gehender Mensch überhaupt bemerkt.

Ein Spaziergang mit einem Hund verlangt von dem, der die Leine in der Hand hält, ein Maximum an Aufmerksamkeit, aus Respekt gegenüber seinem Hund, der ja an der Leine dazu gezwungen ist, in die vorgegebene Richtung zu gehen, ob er will oder nicht und auch aus Respekt anderen Menschen und Verkehrsteilnehmern gegenüber.

Das ungeschriebene Gesetz unter Hundehaltern, seinen Hund sofort anzuleinen, falls einem ein angeleinter Hund entgegekommt, wird leider oft ignoriert. Beissereien und Tierarztkosten könnten sehr leicht vermieden werden, wären Menschen aufmerksamer und einsichtiger. Stattdessen schreien sie gerne: "Meiner macht eh nix!". Ja, ihrer vielleicht nicht. Aber schon mal dran gedacht, dass der andere, der angeleinte Hund, vielleicht nicht ganz so höflich ist wie der eigene, der "eh nix macht"?

Interessanterweise verbellt mein kluger Hund nie Hunde mit Handicaps: er erkennt offensichtlich, dass etwas nicht stimmt und schaut leise durchs Autofenster, aufmerksam, aber ohne zu bellen. Dies tut er bei Hunden mit Halskrause, bei sehr alten Hunden, die sich mühsam dahinschleppen oder bei Hunden, die hinken und einen Verband tragen. Auch liegende Hunde sind nicht verbellenswert. Das ist auch nicht abhängig von der Größe der gesichteten Hunde oder seiner Tagesverfassung, da er immer in Laune ist, Hunde aus dem Auto anzupöbeln. Wenn ich schlecht gelaunt bin, pöbelt er lauter, singe ich fröhlich vor mich hin, stänkert er leiser.

Und das, liebe Leser, ist mit ein Grund, warum manche Hunde die sogenannte Leinenaggression entwickeln. Irgendetwas erschreckt den Hund furchtbar, er ist angeleint und kann nicht das Weite suchen und der Mensch hat es nicht mal bemerkt. Schlimmstenfalls hat der Hund dafür auch noch ein ach so "harmloses" Millansches Trittchen bekommen.

Mangelnde Aufmerksamkeit ist ein Übel unserer schnelllebigen Zeit. Es führt dazu, dass man ganz offensichtliche Dinge, die einem vor Nase herumtanzen, nicht bemerkt und dadurch versäumt.

Mangelnde Aufmerksamkeit seinem Vierbeiner gegenüber führt dazu, dass Welpen jede Kleinigkeit vom Boden aufnehmen und verschlucken, ohne dass es Hundehalter überhaupt mitbekommen. Es führt dazu, dass sich Hunde in Flexileinen verwirren und verletzen, ein halb offenes Brustgeschirr anhaben und entlaufen, unbeobachtet aus dem Auto herausspringen können, quer über die Fahrbahn laufen, weil es niemand rechtzeitig bemerkt und sich darum kümmert oder sich verletzen, ohne dass es weiter auffällt.

Unaufmerksame Menschen lassen für Hunde giftige Schokolade offen herumliegen, sie bemerken nicht, wenn sich Röhrenknochen im Futter befinden, sie übersehen Ohrenentzündungen und eingetretene Dornen in Pfotenballen.

Es sind die Kleinigkeiten die froh machen, nicht die ganz großen Dinge. Wie ein schönes Lob von der lieben Leserin und dem geschätzten Leser, oder ein tiefenentspannter Hund, der seinem Menschen total vertraut und ihm damit automatisch die Führerrolle zu Füssen legt. (Und der dafür die hundertprozentige menschliche Aufmerksamkeit seines Zweibeiners verdient hat!)

Ganz ohne Gewalt.

Sondern aus purer Liebe.

Herzlichst Bela Wolf,

Tierarzt, Autor und Tiergesundheitsjournalist

https://tierarztwolfblog.wordpress.com/

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