Im November 2014 berichteten auf Twitter Tausende unter dem Hashtag #NotJustSad (“nicht einfach nur traurig”) über ihr Leben mit Depressionen. Vielen Betroffenen gab das erstmals die Möglichkeit, über ihren Schmerz, ihre Ängste und ihre Nöte offen zu reden. Das Soziale Netzwerk schafft eine gewisse Distanz, die es ermöglicht, frei von jener Scham zu sein, die Menschen sonst oft davon abhält, ihre Gefühle auszudrücken. Viele Tweets waren erschütternd und ungeheuer traurig, und traurig ist auch die Unfähigkeit selbst wohlwollender Journalisten, das Thema aufzugreifen, ohne genau die Fehler zu machen, über die derzeit so viele Depressive klagen. Exemplarisch dafür ist der Bericht in der “Zeit”, in dem die Journalistin schreibt: “Die Krankheit ist in der Regel gut zu behandeln, in erster Linie durch Psychotherapie, gegebenenfalls auch durch Medikamente, manchmal durch eine Kombination aus beidem.

Doch nicht alle Betroffenen werden optimal therapiert. Das kann mit der fehlenden Energie der Erkrankten zu tun haben, mit der Angst vor Stigmatisierung oder schlichtweg, weil die Schwere der Erkrankung nicht erkannt wird.” Das ist gut gemeint und dennoch genau das Falsche. Fast in jedem Artikel zum Thema Depression kommt der Hinweis vor, die Krankheit sei “gut zu behandeln”. Für Depressive, die das lesen, ist das wie ein Schlag in die Magengrube, denn die Krankheit ist eben nicht immer und in jedem Fall so gut zu behandeln, dass die Betroffenen wieder völlig “gesund” und glücklich durchs Leben spazieren. Oft kann die Behandlung “nur” dafür sorgen, dass sich Depressive nicht umbringen, was ja eigentlich ein großer Erfolg ist, in einer Gesellschaft, die immer schneller und härter wird, aber als unzureichend gilt. Und unzureichend fühlt sich auch der Depressive wenn man ihm immer wieder sagt, Depressionen seien eh ganz easy zu therapieren. Wenn es dann nicht klappt mit dem Wegtherapieren der Depression, wenn die auch nach Jahren oder Jahrzehnten immer noch da ist, dann führt das immer wieder vorgebrachte Mantra von der tollen Behandelbarkeit unweigerlich zu einem weiteren Einbruch des Selbstwertgefühls, da hier zumindest im Hintergrund mitschwingt, wer immer noch krank sei, sei selbst daran schuld. Außerdem nährt die Legende von der guten Heilbarkeit die Gelüste von Staat und Gesellschaft. gegen Kranke Zwangsmaßnahmen zu ergreifen nach dem Motto: “Man muss ihn zu seinem Glück zwingen”.

Zu bedenken: Robin Williams hatte die best möglichen Behandlungen, Therapien und Medikamente, und er hat sich erhängt.

Was Depression anrichtet, ist grauenhaft, aber die Krankheit wäre nicht ganz so schlimm, wäre die Gesellschaft ein wenig netter zu den Kranken. Leider hat unsere Gesellschaft keine Angebote für eine wirkliche Beteiligung depressiver Menschen, für eine echte Inklusion. Depressive haben grob gesagt die Wahl, bis zum Suizid irgendwie doch noch mitzumachen beim Rattenrennen oder entmündigt in der Psychiatrie zu enden beziehungsweise in betreuten Wohneinheiten, wo sie dann Körbe flechten oder, von diversen Vereinen betreut, niedrigen Arbeiten nachgehen. Richtige Erwachsenenjobs gibt es für sie nicht mehr, da sie als zu unzuverlässig gelten und man, da ja jeder Mensch für ersetzbar gehalten wird, sich gar nicht erst die Mühe macht, Arbeitsformen zu schaffen, die auf nicht voll belastbare Leute Rücksicht nehmen. Sogar Arbeitgeber wie Gewerkschaften, Kirchen und politische Parteien setzen depressive Mitarbeiterinnen einfach auf die Straße. Was soll man dann von Betrieben erwarten, die streng profitorientiert sind? In Österreich hat man mit Beginn des Jahres 2014 psychisch Kranken sogar die Möglichkeit genommen, in die Invalidenrente zu fliehen. Sie sollen stattdessen “rehabilitiert” werden. Dass man mit Begriffen hantiert, die aus dem Strafrecht stammen, lässt tiefe Einblicke zu, was jene Politiker, die sich das ausgedacht haben, von psychisch Kranken halten. Österreichs Sozialminister Rudolf Hundstorfer unterschied sogar einmal von“psychisch Kranken und wirklich Kranken”.

Manchmal leisten Psychiater und Psychologen großartige Arbeit und retten Leben, manchmal sind sie Teil des Problems. Die Psychiater, die derzeit die Kliniken und die Forschung dominieren, glauben fest an Gene und Gehirnscans und die Biologie, so wie ihre Kollegen in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts fest an Rasse, Schädelvermessung und Eugenik glaubten. Schon der Gedanke, eine psychische Abweichung von der Norm könne nicht nur endogene Ursachen haben, sondern eine Reaktion auf eine krank machende Welt sein, gilt ihnen als ketzerischer Mumpitz. Natürlich gibt es endogene Depressionen, natürlich existieren chemische Prozesse im Gehirn, natürlich ist der Mensch auch ein biologisches Wesen, aber das alles existiert nicht im totalen Vakuum steriler Forschungslabore, sondern ist andauernd äußeren Einflüssen ausgesetzt. Medikamente sind durchaus nützlich und wichtig, aber die Gehirnchemie, die sie reparieren sollen, wäre womöglich gar nicht so reparaturbedürftig, wäre die Welt ein etwas humanerer Ort. Wir drehen den Fernseher auf und sehen, wie religiöse Fanatiker Menschen die Köpfe abschneiden und Mädchen als Sklavinnen verkaufen. Danach sehen wir einen Bericht über Kinder, die 15 Stunden am Tag schuften müssen, um zu überleben. Es folgt eine Reportage über die Zerstörung unserer Umwelt. Dann wieder Bilder vom Krieg in der Ukraine. Tag für Tag werden wir mit Schreckensbildern bombardiert und in unserem Alltagsleben erleben wir, wie der Druck am Arbeitsplatz immer weiter steigt, wie der Ton immer rauer wird. Und dann soll es nur an uns selber liegen, wenn wir depressiv werden? Weil unsere Gehirnchemie halt leider zu schwächlich ist?

Depression hat teils endogene bologische Ursachen, teils ist sie eine Reaktion auf die äußere Realität. Viele Depressive sind besonders sensible Menschen, die das wahnsinnige Unrecht, das andere als Normalität erleben, nicht hinnehmen können und den Zorn und die Empörung dann nach innen richten. Depression ist auch das Produkt einer Gesellschaft, die die Wut auf unzumutbare Verhältnisse nicht akzeptieren kann, da sie dadurch in Frage gestellt würde, und daher ganz massiv die Charakterisierung von Depression als ausschließlich individuelle Krankheit oder, schlimmer noch, als individuelles Versagen fördert. Wenn alles nur Gehirnchemie und Eigenverantwortung der Kranken ist, dann läuft eh alles bestens und die armen Spinner, die an den Grausamkeiten um sie herum zerbrechen, sind einfach nicht hart genug gepanzert für diese Welt.

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