Eine Geschichte

FinisNoXx

Ich bin gestern wieder spazieren gegangen.

Ich gehe immer ganz langsam, genauso langsam wie wir damals gegangen sind. Obwohl ich es damals „schleichen“ nannte und mich andauernd beschwert habe. Ich habe mich überhaupt viel beschwert, denn ich hasste so viel an dir.

Ich hasste es, wie dein Mund beim Essen immer ein Stück offen stand oder wie du deine Gabel gehalten hast, wie du da gesessen hast, wie du … Ach! Eigentlich hast du irgendwann alles falsch gemacht.

Und ich habe mich immer für dich geschämt.

Besonders wenn du wieder mit deinen Geschichten angefangen hast. Oder deinen törichten Blick, wenn du die Leute einfach so angelächelt hast.

Wie oft hatte ich dir gesagt „Jetzt hör schon auf!“ oder „Lass das!“ und immer hast du mich dann angeschaut und ein bisschen gelächelt. Und dann hast du wieder eine von deinen „kleinen Geschichten“ erzählt. Von dem Hund, den du gesehen hast oder von der Kassiererin, die eigentlich studiert hat und gern mit dir plaudert, wenn spät abends niemand mehr im Supermarkt ist.

Ich weiß gar nicht, wie oft ich dich mitten im Wort unterbrochen habe. Zuletzt bestimmt andauernd. Weil sie mir peinlich waren, deine kleinen Geschichten. Weil du mir peinlich warst. Warum konntest du nicht ein bisschen mehr so sein wie ich? Irgendwann musst du doch anders gewesen sein. Jung! So wie ich. Das habe ich dich so oft gefragt. Ich weiß. Ich erinnere mich. Du hast fast immer gelächelt und geantwortet: „Aber das bin ich doch. Ich bin du.

Und dafür hätte ich dich manchmal fast schlagen können. So ein Unfug! So ein blöder, peinlicher Mist! Ich werde nie so sein. Nie!

Manchmal warst du traurig. Und dann habe ich für eine kurze, ganz kurze Sekunde etwas anderes gefühlt. Etwas, das immer da war, glaube ich. Aber dann waren wir irgendwo oder jemand war zu Besuch und du hattest mal wieder gar keine Hemmungen mich tödlich zu blamieren. Und dann erschien mir mein Leben mit dir bleiern, endlos und eine Strafe.

Nur manchmal, wenn ich mich mit Freunden unterhielt, fühlte ich mich verstanden. Vor allem, wenn sie mir ihre Probleme erzählten. Mit ihren Vergessenen, die dir so aufs Haar glichen. Dann versicherten wir uns gegenseitig wie sehr wir Recht hätten und beneideten die von uns, die das Problem gelöst hatten.

Ja, ich dachte auch oft über DIE LÖSUNG nach. Schließlich musste ich ja nicht mit dir leben. Es gibt ja … Aber dann bist du gegangen. Einfach so. Du hast mich angelächelt.

Glaube ich.

Hoffe ich.

Aber ganz bestimmt hatte ich mehr Angst als du. Jetzt weiß ich auch, dass ich dich niemals gehasst habe. Denn jetzt hasse ich mich und das ist ein ganz anderes Gefühl.

Und nun träume ich manchmal von dir. Ich träume wie du lächelst und deine komischen Geschichten erzählst. Und jetzt wünsche ich mir so sehr, dass sie wahr sein sollen. Dass du zwischen den Sternen wanderst und mich sehen kannst. Und hörst was ich dir sagen will.

Ich habe dir einen Brief geschrieben und ich werde ihn in den Wind werfen.

Und ich werde hinter ihm her rufen, dass es mir leid tut und dass ich dich immer geliebt habe. Und dass ich jene, die mir eingeredet haben – die uns allen eingeredet haben - dass du so überflüssig bist, wie so vieles was schön und gut war und dass Krempel und Schund viel wichtiger für mein Leben sein sollten, zwar nicht hasse – denn das ist ein Wort, dass ich nun mit ganz anderen Augen sehe – aber immerhin zutiefst verachte.

So wie ich mich manchmal verachte, denn ich habe es ja zugelassen. Dass sie mit ihrer Hab-Gier uns alle angesteckt und das wir schließlich alles um uns herum zerstört und vernichtet haben.

Wenn ich mich umschaue und das Leichentuch sehe, dass sich langsam und unerbittlich über uns alle senkt, dann hoffe ich von tiefsten Herzen, dass du zwischen deinen Sternen glücklich bist. Und ich möchte dir sagen, dass ich jetzt manchmal ganz ohne jeden Grund andere anlächle.

Auch wenn es für mich zu spät ist.

Denn ich werde nun für immer heimatlos sein.

Aber vielleicht ist es für euch noch nicht zu spät. Für euch – unsere Kinder. Wir haben es sicher nicht verdient, aber wer weiß. Vielleicht seid ihr klüger als wir. Vielleicht erkennt ihr, was wirklich wichtig ist in unserem kurzen Leben. Vielleicht findet ihr sie, diese wirklich wichtigen Dinge im Leben und kommt zuhause an. In dem einzigen Zuhause, das wir uns alle wünschen.

Vergesst niemals.

Wenn ihr jemals eine Heimat sucht, dann sucht sie in den Menschen, die euch lieben. Denn es gibt keinen Ort auf der Welt der so wunderschön und so unbeschreiblich tröstlich ist wie jenes kleine Stück Heimat zwischen zwei Armen, in denen ihr liegen könnt, euch ausruhen könnt und genau wisst, dass jetzt alles gut ist.

Und sei es nur für einen winzigen Augenblick.

FinisNoXx

Dies ist eine Geschichte, entstanden aus vielen traurigen Geschichten um mich herum – die (so scheint es mir) überall sind. Wohin ich auch schaue. Geschichten, die mir nette Menschen erzählen, während wir unsere Hunde spazieren führen. Während wir an der Kasse stehen und warten.

Menschen, die allein in großen Häusern leben und erzählen, wie glücklich sie sind. Und doch furchtbare Angst haben alt zu sein. Die immer unterwegs sind. Überall gewesen sind. Alles gemacht haben. Und doch. Es ist nie genug. Irgendwas fehlt ihnen. Das scheint unsere universelle Geschichte zu sein.

Ich habe die Worte ein wenig verändert und aus vielen eine Geschichte gemacht, aber ich habe all dies ganz wirklich gehört.

Von vielen sehr liebenswürdigen Menschen.

Und einem unendlich traurigen.

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lie.bell

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