Bin ich Charlie? 10 Gedanken zu einem Massenphänomen.

Schön, dass heute hoffentlich Tausende am Wiener Ballhausplatz Solidarität mit den Opfern der Terroranschläge von Paris bekunden. « Es war, als hätte man auf mich persönlich gezielt, es bringt mich eben um!“ So hat der bescheidene Schöpfer von « Je Suis Charlie », Joachim Roncin, die Magie dieser drei Worte erklärt. Sein ikonischer – an den Namen des Satiremagazins « Charlie Hebdo » erinnernder - Schriftzug als Inbegriff eines Gefühls von Trauer, Wut und schließlich Solidarität wurde in den sozialen Netzwerken millionenfach geteilt. Nur ein paar österreichische Politiker haben ihn ausgedruckt und sich mit den Taferln in der Hand zu peinlichen Gruppenbildern aufgestellt. Inzwischen nervt es schon, wie viele vorgeben, jetzt Charlie zu sein und so angeblich den Grundpfeiler unserer Demokratie, die Presse- und Meinungsfreiheit, verteidigen.

Der Waldviertler Schuhrebell Heini Staudinger hat den « Grünen » als Antwort auf ihren Aufruf zur Kundgebung in der heutigen « Krone » etwas sehr Kluges entgegnet : „Wenn diese Morde in meinem Bekanntenkreis oder in unserer Gasse oder in unserem Dorf passiert wären, dann würde ich jetzt nicht sofort - ohne eine Sekunde Einhalt - sagen: Wir müssen jetzt unsere Pressefreiheit verteidigen, sondern ich würde sagen: Jetzt müssen wir alles tun, dass Friede und Freundschaft zurückkommen.“

Heini schlägt vor: Keine blöden Witze mehr reißen über den Propheten Mohammed! Sich nicht selbstgefällig das Maul zerreißen über die alleridiotischsten Anschläge von irgendwelchen islamistischen Desperados! Sondern über Schönes aus der muselmanischen Welt reden...

Caritas-Präsident Michael Landau hat schon Recht, wenn er (auch in der Sonntags-Krone!) schreibt, dass wir uns durch Hass nicht spalten lassen dürfen, dass wir alle – Christen, Juden, Muslime – stark und einig bleiben müssen, genauso frei wie vor dem Attentat in Paris denken, leben und lieben sollen. Sonst hätten die Terroristen gewonnen. D’accord.

Ist jeder, der jetzt nickt, schon Charlie? Bin ich Charlie?

Meine 10 Gedanken dazu:

  • Bis Mittwoch, den 7. Jänner 2015 habe ich nicht einmal gewusst, dass es eine Zeitschrift mit dem Namen „Charlie Hebdo“ überhaupt gibt. Ich hätte sie – vorausgesetzt mein Französisch wäre besser – vermutlich auch nicht gelesen.
  • Mit den Bildern des Massakers, dem Schock, der Kaltblütigkeit der Mörder bin ich sowohl professionell als auch menschlich bis heute konfrontiert und überfordert.
  • Das Attentat auf die Zeitungsredaktion hat mich in anderer Weise berührt als das Attentat auf den koscheren Laden. Der Tod der Journalisten und Polizisten hat mich in anderer Weise berührt als der Tod der Geiseln. Der Tod der Terroristen hat mich überhaupt nicht berührt.
  • Was waren die drei Attentäter (ja, es gibt auch Menschen, die um SIE weinen...) für Menschen? Haben sie Alkohol getrunken, gekifft, Frauen geliebt? Sich zerrissen gefühlt zwischen den Welten? Sind sie irgendwann zerbrochen und haben sie am Ende Halt in einer kranken Variante ihrer Religion gefunden? Was hat sie so weit gebracht, das Leben anderer auszulöschen und ihr eigenes wegzuwerfen?
  • Stichwort Religion: Ja, ich empfinde dieselbe Abscheu gegen die Taten des rechtsextremistischen, islamfeindlichen norwegischen Terroristen Anders Behring Breivik wie gegen die Taten des islamistischen französischen Brüderpaars  Said und Cherif Kouachi.
  • Wir dürfen uns durch den Hass nicht auseinanderdividieren lassen (Copyright Michael Landau). Aber was trage ich dazu bei? Frage ich muslimische Mitbürger manchmal, wie sie denken, wie sie leben, wie es ihnen geht? Könnte ich mir vorstellen, eine syrische Flüchtlingsfamilie bei mir aufzunehmen?
  • „Dschihadisten und Kriminelle bekommen bei uns Asyl“: Bin ich tief in meinem Inneren anfällig für einfach gestrickte Feindbilder?
  • Wem gilt meine Solidarität in diesen Tagen wirklich? Am Freitag, zwei Tage nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“, haben Kämpfer der Terrormiliz Boko-Haram im Nordosten Nigerias das Dorf Baga ausgelöscht. 2000 Menschen wurden laut BBC niedergemetzelt.
  • Wir tun so, als bedrohe der Terrorismus die Freiheit erst dann,wenn Europäer getötet werden (auch Angriffe gegen Christen und andere religiöse Minderheiten in Afrika und im Nahen Osten werden im übrigen kaum wahrgenommen). Dabei sind vor allem die Menschen im muslimischen Kulturkreis selbst Opfer der islamistischen Terroristen, die einen fundamentalistischen Gottesstaat errichten wollen.
  • Wenn ich Charlie bin, bin ich dann auch Baga?

Wenn heute um 16 Uhr Bundesregierung und Vertreter der Glaubensgemeinschaften die Gedenkkundgebung "Gemeinsam gegen den Terror" auf dem Wiener Ballhausplatz anführen, wenn am kommenden Mittwoch „Charlie Hebdo“ als Zeichen der Unbeugsamkeit in Millionenauflage erscheint, wenn es wieder heißt „Nous sommes toutes Charlie!“, dann sollten wir auch an die Bürger von Baga denken. An die Freiheit, die sie nie hatten.

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