Adventgeschichte: Das gewebte Bild (19): Ein Abschluss

„Ich habe den Eindruck, Du gehst Deiner Verantwortung aus dem Weg“, sagte Uwe zu Maria an diesem neuen Tag.

„Wie kommst Du darauf?“, entgegnete Maria ausweichend, „Ich mache doch alles was zu machen ist.“

„Nein, das meine ich nicht, und das weißt Du ganz genau“, erwiderte Uwe, „Da steht nun Dein Auto und darin liegen Dein Handy und Dein Laptop. Du hast seit fast drei Wochen weder telephoniert noch E-Mails abgerufen noch sonst irgendwas erledigt.“

„Das hat alles Zeit“, versuchte Maria es zu bagatellisieren, unterstützt von einer wegwerfenden Handbewegung.

„Wenn Du eine Entscheidung triffst, oder besser getroffen hast, dann musst Du sie auch leben. Sonst holen Dich die nicht erledigten Dinge immer wieder ein“, meinte Uwe, „Und vor allem, es ist wichtig alles in Ordnung zu hinterlassen. Aber wer weiß, vielleicht machst Du es nur deshalb nicht, weil Du Dir noch nicht sicher bist.“

„Natürlich bin ich mir sicher!“, erwiderte Maria heftig, wohl ein wenig zu heftig. Sie fühlte sich bei einer Nachlässigkeit ertappt. Aber sie wusste, es würde nicht leicht sein.

Ihr ganzes Leben hatte sie versucht anderen zu gefallen, sie nicht vor den Kopf zu stoßen, versucht den Anforderungen zu entsprechen, die andere an sie stellten. Zunächst die ausgesprochenen, später auch die unausgesprochenen, so sehr hatte sie dieses Ziel verfolgt, dass sie irgendwann nicht mehr wusste, ob es sich nun um die Anforderungen handelte, die sie an sich selbst stellte, oder die von außen an sie herangetragen wurden. Irgendwo zwischen dem Wunsch zu gefallen und der Ausführung war ihr eigenes Wollen auf der Strecke geblieben. Hier erst hatte sie sich und ihr Wollen wiedergefunden, doch Uwe hatte recht, sie hatte sich hierher begeben ohne zu ihrem alten Leben wirklich einen Abschluss zu finden. Noch immer verhielt sie sich eigentlich so, als würde es sich um bloße Ferien handeln, um eine Zwischenstation, von der sie, gestärkt und belebt zwar, aber doch einfach nach dem Ablauf der Zeit wieder in ihr altes Leben zurückkehren würde. Auch wenn sie sich sicher war, dass sie bleiben wollte, dass es eine Rückkehr nicht geben würde, schauderte ihr bei dem Gedanken auch nur zu schreiben, dass es so wäre.

„Er hat mich immer so gelobt und unterstützt und protegiert“, versuchte sich Maria an einer Erklärung.

„Wer? Dein Professor?“, fragte Uwe zurück, „Dem ist es doch ziemlich egal wen er lobt und unterstützt und protegiert. Siehst Du denn nicht, dass Du für ihn nichts weiter bist, als eine Trophäe, die er vor sich herträgt, wie ein Jäger, der das Geweih an die Wand hängt? Siehst Du denn nicht, dass es einzig und allein darum geht sein eigenes Ego aufzupolieren? Es kann schon sein, dass er für einen Moment enttäuscht ist, wenn überhaupt. Wahrscheinlicher ist es, dass er Deine Entscheidung mit einem Achselzucken entgegen nimmt und sich sofort umsieht eine neue Vorzeigestudentin zu finden, die er für seine eigene Profilierung einspannen kann.“

„Meinst Du wirklich?“, meinte Maria tonlos, wobei sie doch genau wusste, dass er recht hatte, „Niemals geht es um die Person, immer nur um Erfolg und Position und Amt. Wie habe ich mein Leben doch bisher verschwendet.

Wenn ich auf eine Veranstaltung ging, dann niemals wegen der Veranstaltung an sich, ich meine eine Party oder eine Eröffnung oder eine Vernissage. Immer wählte ich die Veranstaltung danach aus wer dort sein würde, mit wem ich Netzwerken könnte, wie es so schön hieß. Das war überhaupt das Zauberwort. Man machte keine Bekanntschaften mehr oder schloss gar Freundschaften, sondern man spann Netzwerke mit Menschen, die einem aufgrund ihres Netzwerkes, ihrer Beziehungen und Bekanntschaften, ihres Einflusses und ihrer Position, von Nutzen sein konnten. Und wenn man sich in Gesellschaft begab und man sah jemanden, dann fragte man nicht wer das sei, sondern bloß was er machte und was er für einen Einfluss hat. In den Kontaktlisten, die man sich anlegte war dieser Nutzen genau verzeichnet. Und dann nutzte man diese Kontakte um noch mehr für sich heraus zu holen. Niemals ging es um den Menschen, und ich will endlich, dass es um den Menschen geht, dass es völlig egal ist, ob es ein Einsiedler im Wald ist oder der Bürgermeister einer Millionenstadt, ein einfacher Arbeiter oder der Chef eines riesigen Imperiums, so lange man sich versteht und man auf menschlicher Ebene zusammenfindet. Ich kann nicht zurück, weil das in der Welt, in der ich mich bewegte einfach nicht möglich war und niemals möglich sein wird.“

„Dann ist es Zeit“, meinte Uwe sanft.

„Dann ist es Zeit abzuschließen und nicht mehr wegzulaufen vor der Verantwortung einer Entscheidung“, erklärte Maria entschlossen, und sobald ihre Arbeit getan war, holte sie Laptop und Handy aus dem Auto.

Den ganzen restlichen Tag verbrachte sie nun damit einen Schlussstrich unter das Bisherige zu setzen, und sie musste feststellen, dass es gar nicht so einfach war, wobei ihr die Mail an ihren Professor noch am leichtesten fiel, denn es gelang ihr nun endlich sich einzugestehen, dass sie für ihn nicht mehr war als die Funktion, die sie erfüllte. Es schmerzte, aber ein Schmerz, den man lebt kann auch zur Heilung führen, sonst schwelt er für immer. Endlich war ihr Blick klar und ungetrübt. Die Menschen, die sie hinter sich ließ, ganz gleich wer, niemand davon hinterließ eine Spur in ihr, keinen davon konnte sie fassen. Hatte auch nur einer davon je eine Rolle gespielt? Hatte sie denn je eine Rolle gespielt in ihrem Leben? Sie ließ auch diese Fragen hinter sich, denn es war nicht mehr relevant. Sie wollte nicht mehr wichtig sein, sondern nur mehr leben. Als sie endlich den Laptop zuklappte und nun tatsächlich sagen konnte, sie war angekommen, weil sie sich die Option zurückzukehren nicht mehr offenließ, jetzt war sie frei für die Lebendigkeit des Hier-Seins. Es war ihr, als wäre eine schwere Last von ihr abgefallen, die sie völlig grundlos mit sich herumgeschleppt hatte.

„Aber was ist mit Dir?“, wandte sie sich an Uwe, als sie fertig war, „Was ist mit Deinem Abschluss?“

„Den habe ich schon gemacht bevor ich aufbrach“, erklärte er, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.

„Aber wie war das möglich? Wie konntest Du wissen?“, fragte Maria überrascht.

„Man kann nie wissen“, erklärte Uwe langsam, „Nur so viel war für mich sicher, ganz gleich wohin es mich verschlagen würde, es war alles besser als das, was ich bisher hatte, alles besser als das Leben, das nicht meines war. Und ich war überzeugt, dass ich meinen Platz auch woanders finden würde. Ich habe mich dem Schicksal rückhaltlos anvertraut.“

„Rückhaltlos“, wiederholte Maria leise, und voll Bewunderung, „Einfach ins Blaue hinein, sich anvertrauen. Hattest Du denn keine Angst?“

„Natürlich hatte ich die, aber ich ließ es nicht zu, dass sie mich beherrschte, sondern die Hoffnung und die Zuversicht größer wären als meine Angst“, erklärte Uwe, „Es geht gar nicht darum keine Angst zu haben. Die haben wir immer, jeder von uns, mehr oder weniger, aber sie darf Dich niemals beherrschen, sonst lähmt sie Dich so sehr, dass Du gar nichts mehr machen kann. So lange Hoffnung und Zuversicht stärker sind, wird das Leben einen Weg finden.“

Sachte und ohne ein weiteres Wort legte Maria ihre Hände in die des Mannes, dem sie sich in diesem Leben anvertrauen wollte, in diesem Leben, in dieses Leben. Plötzlich lag der Weg deutlich vor ihren Augen, den das Webschiffchen hurtig wob, und da war der alte Weg ausgelaufen, während der neue breit genug war für ein Gemeinsam. Und es war der Abend des neunzehnten Advents.

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