Adventgeschichte: Das gewebte Bild (4): Die Selbstverständlichkeit des Lebens

„Guten Morgen, Jonathan“, dachte Maria lächelnd, als sie der Haushahn an diesem Morgen wieder weckte. Diese Art geweckt zu werden erschien ihr bereits so vertraut, als wäre es niemals anders gewesen. Rasch schlüpfte sie aus dem Bett und zog sich an, denn sie wusste, dass das die einzige Chance war ihrer Großtante bei den Frühstücksvorbereitungen helfen zu können. So lief sie in die Wohnstube, die noch kalt war von der Nacht. So öffnete sie das Türchen im Kamin und fand immer noch einen Rest Glut, auf die sie zwei drei Holzscheite legte, nachdem sie sie kräftig aufgemischt hatte. Dann verharrte sie still um zuzusehen wie die Flammen um das Holz zu züngeln begannen, zuerst klein und zaghaft, aber dann immer heller und freudiger. Dann erst schloss sie das Türchen wieder um ihrer Großtante in der Küche zu helfen. Gemeinsam saßen sie dann, mit süßem Brei und dampfenden Kaffee am großen Tisch in der Wohnstube, während der Winter vor den Fenstern die Natur erstarren ließ.

„Wie hat es Dich hierher verschlagen?“, fragte Maria unvermittelt, „Ich meine, Du warst doch eine Adelige. Da ist es wahrscheinlich nicht das Alltäglichste, dass man einen Bauern heiratet.“

„Das stimmt, und Du kannst Dir wahrscheinlich vorstellen wie unglücklich meine Mutter darüber war, die mich doch so gerne an irgendeinen Fürsten oder Grafen, oder was weiß ich, verheiratet hätte. Sie war eine herzensgute Frau, trotz allem, doch sie war auch eingeschränkt in ihrem Blickfeld. Es gab darin ganz klare soziale Schranken, die man nicht zu überschreiten hatte. So wenig wie ein einfacher Mensch unseren Kreisen angehören konnte, so wenig war es umgekehrt möglich. Es war für sie wie ein Naturgesetz, unumgänglich. Doch ich hatte immer schon meine eigenen Vorstellungen vom Leben gehabt. So zog ich die Natur und die Beschäftigungen darin jenen vor, die wohl meiner Stellung angemessener gewesen wären, wie Sticken und Französisch lernen und gekünstelt kichern und mich in Schale werfen und die Domestiken herunterputzen. Meine Mutter war jedes Mal einer Ohnmacht nahe, wenn ich, von oben bis unten verdreckt von einem meiner legendären Ausritte heimkehrte.

‚Du gebärdest Dich wie ein Mann. Willst Du das denn?’, pflegte sie mich zu fragen, aber sie hatte keine Chance, stur wie ich schon immer war. Doch dann kam die Wandlung, nicht in dem Sinne, wie es sich meine Mutter gewünscht hätte, aber doch vom wilden Erobern zum sanften Staunen. Es war, als wir einen neuen Gärtner aufnahmen, einen jungen, kräftigen Burschen mit einem breiten Dialekt. Stundenlang widmete er sich mit größter Sorgfalt seinem Pflanzen. Natürlich tut das jeder Gärtner, aber er hatte eine besondere Gabe genau zu wissen was seine Pflanzen brauchten und auch die Geduld sie in ihrem eigenen Rhythmus wachsen zu lassen. So beobachtete ich, dass meine Mutter eines Tages die Köchin schickte um sich frische Erdbeeren geben zu lassen. Mit aller gebotenen Höflichkeit lehnte er dieses Ansinnen ab, denn die Erdbeeren seien noch nicht so weit gepflückt zu werden. Selbst die Erdbeeren schienen sich dem Willen meiner Mutter zu widersetzen, aber als die Köchin trotzdem welche holte, da musste meine Mutter feststellen, dass der Gärtner recht gehabt hatte. Von diesem Moment an fügte sie sich. Und ich war auf seiner Seite, denn er bewachte diejenigen, die sich nicht selbst bewachen können. Immer öfter verbrachte ich die Zeit im Garten und lernte, über Gemüse und Obst, über Blumen und Tiere, denn auch diese Geschöpfe nahm er unter seine Fittiche. Die erste entscheidende Veränderung bestand darin, dass ich aufhörte meinen Friesen zu reiten, sondern ich ging mit ihm spazieren, was wohl zu allgemeiner Heiterkeit beitrug. Es waren dieselben Felder, dieselben Wälder, und doch war es, als würde ich sie, aus der veränderten Perspektive und dem verringerten Tempo ganz neu entdecken“, erzählte Magdalena mit verklärtem Blick.

„Und dieser junge Gärtner war niemand anderes als Onkel Toni“, warf nun Maria ein.

„Ja, das war er. War wohl nicht schwer zu erraten“, gab die Großtante lächelnd zu, „Unsere Freundschaft wurde immer enger, und eines Tages gestand er mir, dass er nach Hause müsse, denn seine Eltern konnten den Hof nicht mehr alleine bewirtschaften. Er war unsagbar traurig. Ich spürte, dass ich mir nicht mehr vorstellen konnte auch nur einen Tag ohne ihn zu verbringen, und es gab nur eine Möglichkeit diesen Abschied zu verhindern, nur einen, der angemessen wäre. Wir mussten heiraten. Dann könnte, ja dann musste ich mit ihm gehen. Das schlug ich ihm rundheraus vor. Wenige Tage später heirateten wir. Es war ein ganz großer Skandal, und meine Mutter meinte, dass ich nie wieder zu kommen bräuchte, so lange ich die Frau dieses ordinären Subjekts wäre, ja, genau so hatte sie sich ausgedrückt. Ich habe das Schloss nie wieder betreten. Der Einzige, der nach wie vor zu mir hielt war mein Vater, der mich dann auch ab und an besuchen kam, aber er war zu schwach und zu abhängig, als dass er sich offen dazu bekennen konnte. Mir jedoch war es egal, denn ich war glücklich und bin es bis heute.“ Langsam sah sie auf, als würde sie aus einer weit entfernten Vergangenheit auftauchen in die Gegenwart, die dereinst auch Vergangenheit sein würde und in der die Zukunft schlummerte. „Maria, ganz gleich was Du tust, mach es, weil es Dich in Deiner Lebendigkeit befördert, nichts weiter zählt!“, war Magdalenas Resümee.

„Warum hast Du mich nach all diesen Jahren zu Dir eingeladen?“, fragte Maria nochmals. „Weil ich wollte, dass Du Dich erinnerst“, sagte Magdalena kryptisch.

„Woran sollte ich mich erinnern?“, fragte Maria irritiert, auch wenn sie wohl eine Ahnung davon hatte, denn sie hatte bereits begonnen sich zu erinnern.

„Deiner selbst zu erinnern“, erklärte Magdalena kurz, „Du warst damals ein Mädchen, das sich dem Leben zuwenden wollte, das offen war und voller Träume. So hast Du mir erzählt, dass Du so viel lernen möchtest, dass Du allen kranken Tieren helfen könntest. Doch dann ist etwas passiert, denke ich, denn Du hast Dich verändert, ich kann nicht genau sagen wohin, aber auf jeden Fall weg von Dir. Als Du hierher kamst, da wirktest Du beängstigend, so wie jemand, der sich Schicht um Schicht einen Panzer um sich baute und nun irgendwo im Niemandsland zwischen dem verletzlichen, doch liebesfähigen Menschen und der Panzerung, die den anderen suggerieren soll, dass Du souverän und unantastbar bist, verloren hat.“

Maria sah sie an. Ihr erster Reflex war sich aufzulehnen. Das konnte nicht stimmen. Das durfte nicht stimmen. Denn es tat weh, weh sich einzugestehen, dass man hinter sich ließ, was einem wert war, um etwas hinterher zu jagen, dessen Wert sich nur aus einer verschwommenen, dubiosen Vorstellung ergab. Jeder sagte es, dass man sich besser fühle, wenn man Erfolg hätte, einen Erfolg, der vor der Welt zählte. Die Yacht in Monaco und das Zweitdomizil in Hawaii, das repräsentierte Erfolg. Doch einer Kuh zu helfen ein Kalb zur Welt zu bringen, das partout falsch lag oder ein Rehkitz aufzuziehen, dessen Mutter – natürlich versehentlich – erschossen wurde, so dass es frei leben konnte, oder ein behindertes Kind zum Lächeln zu bringen, oder einem selbstmordgefährdeten Menschen neue Hoffnung zu schenken, das galt nicht als Erfolg, denn das brachte einem selbst nichts ein, außer vielleicht die Wärme eines Glücks, das nicht in Zahlen messbar ist. Jahre ihres Lebens war sie diesem Bild hinterhergelaufen, da konnte sie nicht plötzlich sagen, das war alles falsch, nicht plötzlich eingestehen, dass sie all die Zeit ihres Lebens für die falsche Sache vergeudet hatte.

„Aber vielleicht sind es gerade diese Umwege, die uns erkennen lassen was das Richtige ist oder das was mir und meinem Leben Sinn und Wert verleiht“, erklärte Maria, in aller Unvorhersehbarkeit, „Vielleicht führt uns gerade das Gekünstelte zur Selbstverständlichkeit.“

Und während die Sonne hinter dem Horizont verschwand und die schneebedeckte Landschaft mit einem sachten Rot überzog, herrschte in der Welt um sie, aber auch in diesem Haus, in ihren Gedanken und in ihren Herzen eine Art des Friedens, wie es nur sein kann, wo man sich mit sich selbst, mit seinen Verfehlungen ebenso wie mit seinen Treffern, ausgesöhnt hat. Und in ihren Tassen dampfte der Kräutertee.

„Es ist gut wie es ist“, setzte Maria hinzu. Eine verwirrte kleine Schneeflocke, ein kleines zartes Elfchen winkte ihr durchs Fenster zu bevor es sich niedersinken ließ und zu ihren Schwestern kuschelte. Und das Webschiffchen zog seine Bahn, eine neue Zeile hinzuzufügen zum Webbild des Lebens. Die Stille ummantelte sie wie eine schützende Hülle, Stille, die sie sonst nicht ertragen hätte. Plötzlich war sie voller Leben. Plötzlich war sie voller Möglichkeiten. Und es war der vierte Tag des Advent.

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