Nastasja hatte nun einen Lernpartner. Ab und zu dachte sie noch an ihn, aber es schmerzte einfach zu sehr. Das lag nicht daran, dass Sven ihr Leben damals durcheinander gebracht hatte, und er tat es, nachhaltig, aber es war eine durchaus positive Veränderung. Aber hätte sie damals nicht ihr Herz so unverrückbar an ihn gehängt, es wäre ihr vieles erspart geblieben, viele Schmerzen, aber auch ein tiefes Glück.

Jeder Tag des Glücks hat seinen Preis, und wird unnachgiebig mit Schmerz vergolten. Je größer das Glück, desto tiefer der Schmerz, und ihr Glück war ein vollkommenes, so schien es ihr damals. Was mit einer kleinen Anfrage, ab und an miteinander zu lernen, begann, endete damit, dass sie einander bald unentbehrlich waren. Nastasja lehrte Sven sich zu konzentrieren, seine Gedanken zu fokussieren, und Sven Nastasja ab und an wieder aufzusehen und die Welt zu rund um sie zu erkennen, die Lebendigkeit, das Schöne und das Lachen. Ja, er zeigte ihr wie man lachte und heiter war und offen für, neugierig auf die Welt.

Eines Abends forderte Sven Nastasja auf spazieren zu gehen. Sie hatten lange gelernt, weil für den nächsten Tag eine schwere Prüfung anstand. Nastasja fühlte sich schwer und beladen, und gleichzeitig leer und ausgelaugt. Die milde Nachtluft tat ihnen gut. Unmittelbar vor ihnen schwankte ein Mann. Zunächst dachten sie, er sei betrunken. Er stürzte, und da sie nun doch so viel Wissen mit sich schleppten, waren Sven und Nastasja sofort bereit ihm zu helfen, indem sie seine Vitalfunktionen kontrollierten und die Rettung riefen.

Der Mann war jedoch nicht betrunken. „Mein Hund“, sagte er immer wieder, „Ich kann ihn nirgends finden. Ich kann nicht sein ohne ihn. Er ist mein Leben. Ich habe doch sonst niemanden mehr auf der Welt.“

Nastasja horchte auf. Sicher, der Mann war alt und gebrechlich. Wahrscheinlich war sein Herz schwach, aber das was ihn krank machte war nicht in erster Linie das Körperliche, sondern der seelische Schmerz darüber, dass er seinen Hund vielleicht nie mehr wiedersehen würde. Er war nichts weiter als ein alter Mann, der nichts mehr hatte als diesen Hund.

„Ich werde ihn finden“, versprach Nastasja. In dem Moment kam die Rettung.

„Wir übernehmen das jetzt!“, herrschte sie der Sanitäter an und stieß sie grob zur Seite.

„Wo bleibt der Mensch?“, wandte sich Nastasja an Sven, „Wir lernen über Krankheiten und sie zu heilen. Wir lernen die Organe und ihre Funktionen kennen, jedes fürs sich, aber das Gesamte kommt nicht in den Blick. Wir können dann nichts weiter als Krankheiten zu heilen, aber den Menschen, den vergessen wir. Wir sehen ein krankes Herz, aber nicht was das Herz noch belastet. Wir sehen ein gebrochenes Bein, aber nicht das Ende einer Sportlerkarriere. Wir sehen ein Mädchen, das sich fast zu Tode gehungert hat und päppeln sie auf, aber wir können ihren eigentlichen Hunger nicht stillen. Wozu soll das alles gut sein, wenn wir Krankheiten heilen können, den Menschen aber krank zurücklassen?“

„Du weißt was Du da gerade tust?“, fragte Sven nachdenklich, „Du bist Dir im Klaren darüber, dass Du das Fundament der modernen Medizin in Frage stellst, die nur darauf aus ist eine Körpermaschine am Funktionieren zu halten?“ „

Ja, ich bin mir darüber im Klaren“, entgegnete Nastasja ernst, „Deshalb werde ich morgen auch einen Hund suchen.“

Sven und Nastasja ließen die Prüfung und suchten einen Hund. Es gelang ihnen tatsächlich ihn zu finden. Als sie dem Mann den Hund brachten schlug sein Herz plötzlich wieder gleichmäßig.

„Das gibt es doch gar nicht!“, sagte der behandelnde Arzt fassungslos, „Dass die Therapie so schnell anschlägt, das grenzt an ein Wunder. Was bin ich doch gut.“

„Nicht Sie waren das, sondern der Hund. Er hat ihn geheilt“, entgegnete Nastasja ruhig. „So ein Unsinn“, sagte der Arzt, und sah zum ersten Mal vom Krankenblatt auf, „Und außerdem, was hat der Köter in einem Krankenhaus verloren! Raus mit ihm!“

Nastasja und Sven verließen mit dem Mann und seinem Hund das Krankenhaus.

Sven und Nastasja wandten sich ab von der Medizin und dem Vorhaben zu den Menschen zu zeigen, dass niemand sie heilen konnte, außer sie sich selbst. Sie wandten sich dem Menschen zu. Es wäre ihre letzte Prüfung gewesen. Menschen, die sie kannten, griffen sich an den Kopf und fragten sich, ob sie jetzt völlig verrückt geworden waren. Jahrelang hatten sie auf dieses Ziel, diese letzte Prüfung, hingearbeitet, um quasi im letzten Moment alles hinzuschmeißen.

„Aber wann ist dann der richtige Moment, etwas zu ändern, was man als falsch erkannt hat, als eben im Moment der Erkenntnis?“, pflegten Nastasja und Sven zu entgegnen, „Wer immer nur dann sagt, macht es nie.“

(Auszug aus „Die Heilerin“ von Daniela Noitz)

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