Im Liederbuch einer Burschenschaft finden sich alte Nazi-Lieder. Der stellvertretende Vorsitzende der Burschenschaft steht gerade in Niederösterreich zur Wahl, wusste von nichts, ist sich keiner Schuld bewusst und will „jetzt erst recht“ die Wahl gewinnen. Dank Proporzsystem wird er wohl bald in der Landesregierung sitzen. Warum hat Österreich eigentlich keine Rücktrittskultur? Und warum ist diese widerliche Geschichte bei uns fast normal und keine Überraschung?

In einer Diskussion mit einem deutschen Kommilitonen brachte ich einmal meine Bewunderung für die deutsche Politik, in der die Leute die Konsequenzen ziehen und nach Skandalen zurücktreten, zum Ausdruck. Besagter Kommilitone hat gelacht und gemeint, das funktioniert in Deutschland ja eigentlich eh nur sehr schlecht. Da hab ich dann gelacht. Oder vielleicht auch geweint.

Warum tun sich österreichische Politiker so besonders schwer mit dem Rücktritt und warum lassen wir ihnen das als Bevölkerung auch durchgehen?

Ist es ein Überbleibsel aus der Monarchie, dieses scheinbar kollektive Gefühl, dass politische Ämter irgendwie auf Lebenszeit ausgeführt werden müssen? Sind wir als Bevölkerung zu faul für Empörung und ruhen uns lieber auf der ewig gleichen latenten Unzufriedenheit aus? Oder ist es ein Zeichen der „ihr könnts mir gar nix sagen“-Mentalität, die auch schon Waldheim zum Bundespräsidenten gemacht hat? Und wer ist dann „ihr“?

Der einzige Skandal ist Erfolglosigkeit

Die einzigen, die hier im Land regelmäßig ausgetauscht werden, sind scheinbar ÖVP-Obmänner und Fußball-Teamchefs. Und auch das nur bei akuter Erfolglosigkeit. Darunter gibt es keinen Skandal, der groß genug wäre, einen garantierten Rücktritt zu verlangen.

Peter Pilz‘ Vorstellung von seinem Rücktritt wegen Vorwürfen von sexueller Belästigung war ein zweimonatiger Urlaub mit seiner Frau, gefolgt von „ich bin wieder da“. Die FPÖ kampagnisiert durch alle Nazi-Skandale munter weiter und beschwert sich über die linken Medien, die die Partei ja immer missverstehen. Sie hat sich aber immerhin inzwischen von den Burschenschaftern distanziert, die zwar knapp 40% ihrer Nationalrats-Abgeordneten ausmachen, aber natürlich nichts mit der FPÖ zu tun haben. Eh klar. Sollte irgendeinem Minister vorgeworfen werden, dass er seine Doktorarbeit abgeschrieben hat, wäre es schon fast eher ein Skandal, wenn er deshalb zurücktreten würde.

Das alles gilt natürlich nur für die Parteispitzen. Mitarbeiter und einfache Mitglieder, die durch ihre Skandale der Spitze gefährlich werden könnten, selbst aber nicht wichtig genug sind, werden zurückgetreten. Aktuelle Beispiele: Silberstein-Affäre, Hitlergruß, AG-Leaks, Nazi-Keller. Und jetzt auch beim Skandal um das Liederbuch, von dem bisher natürlich niemand wusste/eh alle Seiten geschwärzt waren. Der musikalische Verantwortliche muss jetzt gehen. Aber Vorsitzende von irgendwas haben in diesem Land natürlich per se überhaupt keine Verantwortung für das, was unter ihrer Ägide passiert.

"Wir wollen uns mal nicht so aufregen"

Eindeutige, zumindest verbale, Verurteilung und Distanzierung könnte ja auch vom Koalitionspartner kommen. (Oder von Parteikollegen, aber das ist wohl eine zu große Hoffnung.)

Aus der ÖVP kam angesichts der regelmäßigen Entgleisungen ihres Koalitionspartners in den letzten Wochen bisher eher wenig, das über die standardmäßige Forderung nach „voller Aufklärung“ und „Suche nach Verantwortlichen“ hinausgeht. Als stünde nicht ein Verantwortlicher noch zur Wahl. Als säßen nicht Mitglieder ähnlicher Gesinnungsgemeinschaften in der Regierung. Verurteilung, ja. Empörung sieht anders aus.

Wie kann die Partei nicht schon längst am Zerreißen sein über der Frage, wie man mit diesem Koalitionspartner umgeht? Ob man mit so jemandem (immer noch) koalieren kann? Hat Kurz die Mitglieder so diszipliniert, dass alle den Mund halten und nichts von diesem Streit nach außen dringt? Ist das eine absurde mitgefangen-mitgehangen-Mentalität? Oder ist das tatsächlich allen egal? Vielleicht will die ÖVP auch nur Skandal-Material sammeln, um sich dann mit geballter Macht ihres Koalitionspartners zu entledigen. Das zwischenzeitlich allzu häufige „wir wollen uns mal nicht so aufregen“ ist auf jeden Fall beunruhigend.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf www.darfdeadas.at

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