Die deutsche Sprache ist eine wunderbare Sprache. Ich denke gerade über Sätze nach wie: „Ein Krieg brach aus“, „eine Katastrophe passierte“ oder „der Untergang erfolgte“. Ich mag diese phänomenologische Ausdrucksweise, weil sie sich wohltuend von dem Kausalitätsgeschwätz unserer Tage abhebt. Stets muss eine Ursache oder ein Täter genannt werden. Wir sind süchtig nach Kausalität. Sie wiegt uns in Sicherheit und wir glauben, damit die Unwägbarkeiten des Schicksals bannen zu können.

Eine ganze Megaindustrie tut nichts anderes, als uns mit unserer Lieblingsdroge zu versorgen. Man denke an die unzähligen Zeitungsartikel, die simple Kausalbeziehungen zwischen Lebensmitteln und Krankheiten aufstellen, was regelmäßig in der abenteuerlichen These gipfelt: „Wenn du A tust, wirst du B erreichen“. Dieses Ratgeber-Business, das alle Bereiche des menschlichen Lebens umfasst, scheint ungemein einträglich zu sein.

Schauen wir in die Talkshows oder in die politischen Artikel, so müssen wir feststellen, dass es ganze Heerscharen von Kausalitätspredigern gibt, die ihr Brot damit verdienen, uns zu erklären, warum etwas geschieht und wer dafür verantwortlich ist. Es macht es wohl für Menschen erträglicher in der Scheiße zu stecken und zu wissen, warum, und wer dafür verantwortlich ist.

Auf die Spitze treiben die Verschwörungstheoretiker diesen Wahn. Mit den abenteuerlichsten Theorien wollen sie eine ungeheure Komplexität von Ereignissen und Prozessen kausal dem unheilvollen Wirken eines einzelnen Subjekts oder einer Gruppe zuordnen. Lächerlich.

Große Denker wie Friedrich Nietzsche und Gottfried Benn haben diesen Wahn immer wieder kritisiert. Genützt hat es nichts. In der Medien- und Aufmerksamkeitsökonomie der Gegenwart feiert die vermeintliche und oft erschreckend primitive Kausalverknüpfung in Form der Erklärvideos und Interviews auf Youtube traurige Triumphe. Jeder Depp, ob mit oder ohne Professorentitel (oft aus einer ganz anderen Disziplin), kann sich vor eine Kamera setzen und den Junkies auf Entzug Ursachen und Wirkungen präsentieren. So entstehen trügerische und letztlich gefährliche Vorstellungswelten, die den Blick auf eine Wirklichkeit verstellen, deren Mechanismen und Triebkräfte wir noch gar nicht erschöpfend erklären können.

Besonders deutlich wird dieser Kausalitätsfetisch, wenn man sich die Millionen von Buchseiten vergegenwärtigt, die uns über die Ursachen der beiden Weltkriege aufklären wollen. Es scheint ein unerschöpfliches Bedürfnis danach zu geben. Warum, muss man sich fragen.

Ich musste heute daran denken, als ich den wunderbaren Artikel von Vera Lengsfeld über Stefan Zweigs Erinnerungen an die Zeit kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs las. Vera Lengsfeld weist zu Recht auf die Ähnlichkeiten mit der heutigen Zeit hin. Mich überkam ein leichtes Gruseln. Ja, vielleicht ist die wahrste Aussage zum 1. Weltkrieg: „er brach aus“. Für viele vollkommen überraschend, aber dafür umso heftiger. „Er war den Diplomaten, die mit ihm spielten und blufften, „gegen ihre Absicht aus der ungeschickten Hand gerutscht“. Dem ersten Schrecken folgte ein enthusiastischer Taumel.“

Es werden sicherlich noch viele Bücher über die „Ursachen“ geschrieben werden. Aber könnte es nicht sein, dass eine unheilvolle Schwingung, die nur wenige spürten, außer Kontrolle geriet? Dass ein unbekanntes Fluidum den Sättigungsgrad erreichte, der zur blitzartigen Kristallisation nötig war? Dass die Kräfte der menschlichen Evolution einfach wieder den Rückwärtsgang einlegten? Oder dass es mal wieder nötig war, menschlichem Hochmut eine Lektion zu erteilen? Ich fürchte, wir werden es nie wissen.

Müssen wir das überhaupt? Reicht es nicht zu wissen, was möglich war, mit welcher explosiven Gewalt und zerstörerischen Kraft? Und der Ahnung zu vertrauen, dass es hier und jetzt bald wieder soweit ist. Dass eine Ära zu Ende geht. Dass es Trümmer braucht, damit etwas Neues entstehen kann?

Und dann seine Energie darauf zu verwenden, persönliche Vorkehrungen zu treffen. Ich weiß, das klingt nicht sehr „rational“. Aber verfällt nicht unsere ganze Gegenwart der Irrationalität? Wir lesen es doch jeden Tag, dass das gestern Unvorstellbare mit kaum fassbarer Selbstverständlichkeit geschieht. Es geschieht.

Reicht das nicht? Aber wie Junkies wollen wir noch einen letzten Schuss vom Erklär-Bär unseres Vertrauens, den großen Kausalitäts-Flash, das absolute Verstehen. Und dann, ja dann, wissen wir und können endlich handeln.

Da scheint es mir besser auf Entzug zu gehen und Bücher wie das von Stefan Zweig zu lesen. Wiedererkennen reicht vollkommen. Es hat sich evolutionär bewährt.

Auch ein Blick in die Essays von Gottfried Benn könnte sich lohnen. Er schrieb 1937:

„Immer wieder sind euch Worte gesagt worden, die euch vor dem Leben warnten. Immer wieder kam das Andere und errichtete vor euch seine Bilder - in menschlicher Gestalt, selbst in menschlicher Gestalt! Errichtete vor euch die Bilder jener Kraft, von der es zu wenig wäre zu sagen, dass sie religiöser oder moralischer Natur sei, es ist die allgemeine formenwollende, fordernde, aufrichtende Kraft, von der man allerdings gestehen muss, dass sie in ihrem unendlichen Aspekt den Himmel wie die Hölle umfasst, und die doch auf alle dämmenden und ordnenden Züge des Menschen so sichtbar blickt und die allmählich ansteigenden und immer so schwer erkämpften Errungenschaften des Himmels so besonders beleuchtet.

Habt ihr sie angebetet? Habt ihr sie gehütet? Leben wolltet ihr, euer weißes, erfülltes, sich verwirklichendes Leben im Prunk der Derbys und im Schnee der Regatten - jetzt kommt keine Gnade mehr, jetzt kommt die Nacht.“

In dem Sinne: Gute Nacht, Deutschland.

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