In den Medien lesen wir immer wieder: "Im Iran gab es Wahlen. Es gewannen die Reformer rund um Ajatollah Rouhani mit 53%, während die Konvervativen mit 47% eine Wahlschlappe erlitten." (Konservative schiitische Mullahs, nicht Konservative im europäischen Sinne)

Also alles in Ordnung im Iran ? Ist der Iran eine ganz normale Demokratie ? Und brauchen wir eigentlich gar nix tun außer ganz normalen Handel mit dem Iran zu treiben ?

Der springende Punkt im Iran ist, dass es zwar Politik und Medien gibt, dass diese aber völlig anders funktionieren, als man das in allen Demokratien der Welt gewohnt ist. Ich tendiere daher dazu, den Iran als inverse Demokratie zu bezeichnen, als umgekehrte Demokratie.

Ein Aspekt dieser umgekehrten Demokratie ist:

Bei uns sagen die Parteien, was sie wollen, und wenn sie dann die Regierung bestimmen, dann setzen sie das auch um, oder versuchen es, wobei sie manchmal zum Beispiel am Verfassungsgerichtshof scheitern.

Im Iran ist es genau umgekehrt: im Iran fordern die Reformer rhetorisch oft das, was ihre konservativen Gegner wollen, sie selbst aber ablehnen, hingegen die Konservativen (also konservativen Mullahs) sagen das nicht, was sie selber wollen.

Zum Beispiel den Abzug der USA aus der Region (aus der gesamten Region, dem Nahen Osten !)

Reformer wie Aussenminister Sarif fordern öffentlich den Abzug der USA aus dem Nahen Osten, obwohl er als in den US-Ausgebildeter das am allerwenigsten von allen iranischen Politikern will, während die radikalen Schiiten ihre Absicht, die USA aus der Region rauszuwerfen, notfalls mit Terror und Gewalt, verschweigen.

Die Reformer können gar nicht das vorschlagen, was sie vorschlagen möchten, weil sie dann Probleme mit den iranischen Gerichten und mit dem Führer des Wächterrats der iranischen Revolution, Khamenei, bekämen.

Beide Gruppen agieren gewissermassen "logisch", wenn sie "lügen" bzw. "notlügen", aber dennoch kann die Kultur der Unehrlichkeit gravierende Folgen haben auf alle Prozesse im Iran, weil diese Kultur der Unehrlichkeit auch abfärben kann auf die Bürger, weil dann die Bürger damit beginnen könnten (bzw. das auch tun), den Staat zu belügen und zu betrügen, beispielsweise in Steuerfragen, aber im Iran, dessen wichtigste staatliche Einnahme als Renten- und Rohstoffstaat ohnehin die Erdöleinnahmen sind, und nicht die Steuerleistungen der Bürger, ist es weniger bedeutend als überall anderswo, ob sich im Volk eine Kultur oder Unkultur der Lüge, des Steuerbetruges, etc. ausbreitet, was wiederum zur Folge hat, dass die Politik die Unkultur der Lüge und des Betruges in Volk und Politik gar nicht so sehr bekämpfen muss. Und zusammenpassen tut das miserablerweise auch mit der islamischen taqqiya, der islamischen Pflicht, zu lügen, wenn angeblich das eigene Leben bedroht ist.

Ajatollah Ali Khamenei ist nicht gewählt, wird nie gewählt werden, und hat trotzdem die mit Abstand wichtigste politische Position des Iran inne. Er (bzw. der Wächterrat) hat das Recht, jedem Iraner und jeder Iranerin das passive Wahlrecht abzuerkennen, also das Recht, gewählt zu werden.

Und er hat weitgehende Agenden in der Aussenpolitik, bzw. Aussen- und Militärpolitik. Die Revolutionsgarden, die ihm unterstehen, sind auch im Ausland tätig, in ausländischen Kriegen, wie zum Beispiel im Irak und in Syrien.

Die unterschiedlichen Vorstellungen von reformistischen Mullahs und reaktionären Mullahs (z.B. in der Aussenpolitik) dürfen natürlich nicht an die Öffentlichkeit gelangen, denn es kann nur einen Allah geben, und nur eine göttliche Politik, und eine Zerstrittenheit unter den Mullahs würde das Ansehen der schiitischen Religion schwer beschädigen.

Dementsprechend auch die Medien: auch die iranischen Medien sind nicht frei, sondern müssen dem angeblichen göttlichen Auftrag des Gottesstaates folgen, denn "Allah ist allbarmherzig und allverstehend" ! (angeblich)

Ich frage mich ja, ob und wie die iranischen Wähler und Wählerinnen oder Pseudo-Wähler und Pseudo-Wählerinnen herausfinden, wofür sie stimmen sollen in dieser inversen Demokratie. Aber es ist vielleicht auch egal, ob im Iran die Wähler herausfinden bzw. herausfinden können, wer wirklich ihre Interessen vertritt oder nicht, weil erstens der Wahlsieger im Iran sowieso kaum Macht hat, und weil zweitens die Funktion dieser Scheindemokratie im Iran eine rein aussenpolitische ist, nämlich die "dummen Europäer" im Irrglauben zu wiegen, der Iran sei eine Demokratie und daher ein legitimer Handelspartner.

Generell ist im arabischen bzw. islamischen Raum die gesamte Politik extrem konfliktgeladen und man findet dort Phänomene, die man ansonsten nur in expliziten Diktaturen findet.

Wenn man einen Ägypter, der einen intelligenten und weltkundigen Eindruck macht, fragt, ob er Mursi oder As-Sisi für besser hält, erhält man oft nur Schweigen als Antwort.

Der Hintergrund ist sicher der sehr harte Konflikt zwischen Militär und Muslimbruderschaft, der auch in putschähnlichen und bürgerkriegsähnlichen Phänomenen mündete.

Und ein Hintergrund ist möglicherweise das Spitzelwesen.

Zahlreiche Bürger schalten dann auf totales Schweigen um: sie schauen darauf, dass sie wirtschaftlich überleben, verraten aber niemandem, was sie persönlich über Politik denken. Denn es kann ja sein, dass die Moslembrüder ein Comeback schaffen, dann würde eine Aussage zugunsten As-Sisi möglicherweise ganz gravierende Nachteile bis hin zur Todesstrafe zur Folge haben, ebenso wie jetzt auch nur eine Befürwortung von Teilaspekten von Mursi oder den Moslembrüdern sehr negative Folgen haben kann.

Aber wenn politischer Diskurs nicht stattfinden kann, aus Angst vor der künftigen Todesstrafe durch die etwaig rückkehrenden Moslembrüder, wie können Lernprozesse oder Meinungsbildungsprozesse dann stattfinden ? Wohl nur sehr langsam.

Wie man aus dieser Zwickmühle rauskommt, weiss ich nicht, vielleicht am ehesten langfristig, "einfach" ein oder zwei Generationen warten, bis Gras über die Sache, den Machtwechsel von 2013 gewachsen ist.

CC / khamenei.ir https://de.wikipedia.org/wiki/Ali_Chamenei

Der schiitische Geistliche Ajatollah Ali Khamenei, der nichtgewählte mächtigste Politiker in der Pseudodemokratie Iran, in der alles anders funktioniert, als wir das gewohnt sind.

In der ein nichtgewählter Wächterrat jeden und jede von den Wahlen ausschliessen kann, in der jeder das Gegenteil dessen sagt, was er beabsichtigt und denkt, in der die Politik intransparenter ist als in allen Demokratien.

Passend zum iranischen Antipluralismus:

https://www.derstandard.at/story/2000113416922/khamenei-ruft-iraner-nach-flugzeugabschuss-zur-einheit-auf

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