Über das Kurzzeitgedächtnis des Volkes und die wahren Hintergründe der Flüchtlingskrise

Bürger und Medien könne man leicht belügen, weil sie ein Kurzzeitgedächtnis hätten und Langzeitzusammenhänge nicht erkennen können, lautet ein zynischer Spruch aus Politikberatung und Politikwissenschaft.

Jedenfalls sprechen die Ereignisse dieses Jahrzehnts durchaus dafür, dass diese These stimmt.

Da wir die Geschichte irgendwo beginnen lassen müssen, starten wir mit dem Versuch von USA und EU, mit Hilfe von massivem diplomatischen Druck und Hoffnungsmache (auch militärische Hoffnungsmache) an die syrisch-sunnitische Opposition, den alawitischen (also quasi-schiitischen) Präsidenten Syriens, nämlich Assad zu stürzen. Wofür sie allerdings in der Tat zahlreiche gute Gründe hatten, alleine schon die prekäre Herrschaft einer alawitischen Elite über völlig anders geartete große Teile der Bevölkerung, der Föderalismusmangel, der Demokratiemangel, etc.

Der Gipfelpunkt war die Obama-Aussage "Assad has crossed a red line", der allerdings weder Obama noch die EU irgendeine konkrete Tat folgen liess.

Auch der damalige Aussenminister und jetzige Kanzler Sebastian Kurz nahm an dieser "Assad muss weg"-Rhetorik EU-solidarisch teil, was man als massive Neutralitätsverletzung betrachten kann, die niemand, kein Politiker, keine Politikerin, kein Medium kritisierte.

Es ist unbekannt, ob EU und US-Demokraten zu blöd waren, um zu erkennen, dass Syriens Assad zwar in einer Schwächephase war, aber zwei potenzielle Verbündete in Reichweite hatte (nämlich Russland und den ebenfalls schiitischen Iran).

Auf jeden Fall ist Assad auch 6 Jahre nach der "Assad muss weg"-Rhetorik von EU und USA noch immer da, und nicht nur das, es geht ihm und seinem Regime, so problematisch es auch sein mag, sogar besser als jemals zuvor, was aber vielleicht eine Momentaufnahme ist; der nächste sunnitisch-schiitische Revanchekrieg liegt in diesem Fall praktisch schon in der Luft.

Wenn EU und USA die syrischen Sunniten durch Hoffnungsmache in einen Krieg hetzen, dann ist das Risiko allerdings extrem hoch.

Die syrisch-sunnitische Opposition war militärisch weit unterlegen, so gesehen war ein Scheitern immer realistisch.

Und was passiert nach einem Scheitern und einer Niederlage der syrisch-sunnitischen Opposition ? Dass dann eine Flüchtlingswelle und "ethnisch-religiöse Säuberungen" (also Massenvertreibungen) sehr wahrscheinlich sein würden, musste eigentlich jedem klar sein. Ich warne davor, zu glauben, mit der Flüchtlingsaufnahme sei Frieden gesichert; der nächste Revanchekrieg zwischen Sunniten der Region und syrischen Alawiten kommt vielleicht schneller als geglaubt. Das früher "multikulturelle" Syrien ist jedenfalls wie Bosnien und Libanon ein weiterer Beleg, dass es von multikultureller Gesellschaft zu interkulturellem Völkermord nur ein kleiner Schritt ist, speziell, wenn die Herrschaft einer problematischen Gruppe besteht.

In der ganzen Zeit hat - IIRC - kein einziger EU-Politiker Dinge an die syrischen Sunniten gesagt wie "Don´t dream that dangerous dream", wie das EG-Verhandler David Owen (IIRC) im Bosnienkrieg an die bosnischen Muslime (auch Sunniten) gerichtet hatte.

Die bosnischen Muslime hatten damals (so ca. 1993) auf eine westliche Militärintervention zu ihren Gunsten gehofft, eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte, sondern in den Massakern von Srebrenica und Zepa endete.

Kinderkanzler Kurz und ähnlich unerfahrene Politiker und Politikerinnen (wie z.B. Neos-EU-Spitzenkandidatin Claudia Gamon), die im Zeitalter der "Infantilisierung der Demokratie" (Copyright Gerd Bacher, ehem. ORF-Generaldirektor) möglicherweise längst schon überhand nehmen, haben von diesen lange zurückliegenden Kriegen und Ereignissen natürlich keine Ahnung, sie waren damals entweder noch gar nicht geboren, oder kleine Babies, die weit davon entfernt sind, Radio- oder Fernsehnachrichten, die sie hören, zu verstehen.

Auf jeden Fall: dass es dem jetzigen Kanzler Kurz gelang, die Wahlen wegen der Flüchtlingskrise zu gewinnen, obwohl er selbst wegen seiner "Assad muss weg"-Rhetorik mitschuld war an der Flüchtlingskrise, weist auf ein massives, allumfassendes Versagen von Politik (allen Parteien !), Medien und Wissenschaft in Österreich hin.

Auf der anderen Seite muss man der deutschen Kanzlerin Angela Merkel konzedieren/zugestehen, dass sie es als einzige war, die noch einen gewissen Rest an Anstand und Würde und schlechtem Gewissen (das auch eine christliche Qualität ist, die Kurz vermissen läßt) wahrte, und so nach einer Art Devise "Wenn wir die syrischen Sunniten schon in einen praktisch ungewinnbaren Krieg hetzen, dann sind wir nach der mehr oder weniger unvermeidbaren Niederlage auch moralisch verpflichtet, sie als Flüchtlinge aufzunehmen, weil sie nach dem Krieg in Syrien nicht mehr bleiben können" handelte.

Auch in der Pseudo-Demokratie Deutschland wurde dieser Aspekt völlig unterdrückt und unterthematisiert, Merkel verlor bei den Wahlen massiv (die CDU/CSU stürzte von 42% auf 33% ab) und musste danach Parteivorsitz und Kanzleramt abgeben, obwohl ihr Handeln eigentlich moralisch noch am ehesten vertretbar gewesen war.

Mit kleinen Abstrichen natürlich: über die wahren Entscheidungsgründe hat Merkel immer geschwiegen, vielleicht wegen der Terrorgefahr, vielleicht, weil es auch sie in ein schlechtes Licht gebracht hätte, vielleicht, weil sie sich den Vorwurf eingehandelt hätte, falsch entschieden oder eingeschätzt zu haben, ihre West-Kollegen zuwenig kritisiert zu haben, etc.

Auf jeden Fall zeigt die ganze Sache, dass die Wahrheit weit entfernt ist von den Debatten, die - polemisch gesagt - idiotische oder zumindest idtiotisch-aussehende und geschichtsvergessene oder zumindest geschichtsvergessen-aussehende Medien und Politiker führen und die in unseren Demokratien dominieren.

https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:President_Barack_Obama.jpg

Der damalige US-Präsident Obama hielt seine "Assad has crossed a red line"-Rede (ca. 2012 oder 2013), die den Syrienkrieg massiv anheizte und eine der Hauptursachen für die Syrienflüchtlingswelle ab 2015 ist.

Dafür wurde er von keinem europäischen Politiker und keiner europäischen Politikerin kritisiert, auch von keinem Medium.

Heute ist alles schon längst vergessen, obwohl die Folgen noch sehr präsent sind.

Obama hatte durchaus ernstzunehmende Gründe, etwas zu tun, auch wegen der durchaus glaubwürdigen Giftgas- und Fassbomben-verwendungsvorwürfe gegen Assad und seine Truppen, wegen der Pseudo-Demokratie, die über 50 jahre hinweg immer ein Assad gewann, wegen zahlreicher anderer Gründe, dem Konflikt mit Israel, den die Assads immer wieder anheizten, etc. Ob allerdings die "Assad has crossed a red line"-Rede ohne irgendwelche Taten danach das Richtige war, muss sehr stark bezweifelt werden.

Vielleicht war auch die Fixierung auf Assad, die Obama vornahm, ein schwerer Fehler, vielmehr war es sein Clan, seine Partei, die Baath-Partei, die dominierte. Die "Muss weg"-Rhetorik wäre viel erfolgversprechender gewesen, wenn Obama "Assad-Clan has crossed a red line" gesagt hätte. Vielleicht hat Obama absichtlich eine radikal klingende, aber wenig erfolgversprechende Rhetorik gewählt.

Obamas späteres Kalkül, Assad und Putin gewähren zu lassen, beruhte wohl auf der Annahme, der militärische Sieg der alawitisch-russisch-iranischen Allianz würde letztlich eine moralische Niederlage werden, weil sie auf Grausamkeiten, Kriegsverbrechen und "ethnisch-religiösen Säuberungen", also Massenvertreibungen beruhte, ein Kalkül, das durchaus noch aufgehen kann, aber ein ganz anderes war, als das, das er am Anfang zu haben schien. Die syrischen Sunniten waren so gesehen das oder ein Bauernopfer im großen westlich-russischen Schachspiel, das auch die Ukraine und heute auch Venezuela umfasst.

Der Kurswechsel von Obama in dieser Frage ist in der Tat viel zu schwer zu erklären, sodass man vielleicht in der Tat nur lügen kann.

Ich möchte auf jeden Fall die designierte deutsche Kanzlerin Annegret Kramp-Karrenbauer nominieren für das Wort des Jahres: "Phantomdebatte".

http://www.spiegel.de/auto/aktuell/tempolimit-kramp-karrenbauer-nennt-streit-phantomdebatte-a-1250128.html

Polemisch gesagt: unsere bescheuerten Demokratien können nichts richtig diskutieren und führen andauernd und über alles Phantomdebatten.

CC / z.g. Chatham House https://de.wikipedia.org/wiki/David_Owen_(Politiker)#/media/File:Lord_Owen_-_Chatham_House_2011.jpg

David Owen, heute längst vergessener Politiker der 1990er Jahre und mutmasslicher Urheber des Zitats "Don´t dream that dangerous dream !", mit dem er Kriegsparteien zur Zurückhaltung und zum Zurückschrauben ihrer Hoffnung auf westliche unterstützende Militärintervention bewegte, eine Tugend, die im heute populistisch-geschichtsvergessen-größenwahnsinnigen "Yes, we can"-, "Wir schaffen Alles"-Zeitalter vielleicht bitter fehlt.

David Owen war auch Staatssekretär für die Royal Navy, die britische Marine gewesen, ein Experte für Militär- und Kriegsfragen, für Militärgeschichte, wie sie in unseren friedensverwöhnten und verweichlichten Demokratien bitter fehlen, vielleicht nirgendwo so massiv wie im pazifistisch-zugeschleimten neutralen Österreich.

Und dann noch eine Buchempfehlung: Jason Brennan, Against Democracy, Gegen Demokratie

Princeton University Press https://press.princeton.edu/titles/10843.html

Against Democracy, Gegen Demokratie, Jason Brennan, Princeton University Press, deutsche Übersetzung erhältlich beim Ullstein Verlag

Flüchtlingswellen und ihre Verhinderung hatten immer wieder in der Politik eine große Rolle gespielt: auch wenn sich heute niemand mehr daran erinnert!

Im britischen Parlaments-Wahlkampf des Jahres 2001 hatte die Frage der "Bogus-Asylum-Seekers" (die Frage der "Scheinasylwerber" ) eine dominante Rolle gespielt.

Und im Irak zeichnete sich eine Entwicklung ab, dass die Irak-Sanktionen aufgehoben, Saddam Hussein (auf Betreiben Russlands, Chinas, Deutschland und Frankreichs) rehabilitiert wird, womit er wieder zu Waffen kommen kann, mit der er große Teile der nordirakischen Kurden und der südirakischen Schiiten vertreiben oder vergasen kann (mit Giftgas aus Deutschland!) kann, vertreiben zu großen Teilen nach Großbritannien, weil der Irak eine britische Kolonie gewesen war, weil die Verbindungen zwischen GB und Irak so eng waren.

In dieser Situation entschied sich der britische Premierminister Tony Blair dazu, Saddam Hussein zu stürzen, praktisch, egal, was es kostet, auch um Flüchtlingswellen, die Saddams mutmassliches zukünftiges Regime verursachen würde (was aufgrund der vorangegangenen Jahrzehnte relativ plausibel war), durch einen militärischen Umsturz und den Irakkrieg 2003 zu verhindern.

Im Übrigen bin ich dafür, die Brexit-Verhandlungen neu zu eröffnen und die bisherige EU-27-Position, die sehr wesentlich von Franzosen wie Barnier mit dubiosen Motiven, vielleicht weil Frankreich der Hauptprofiteur eines Brexit wäre, festgezurrt wurde, aufzugeben.

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