Wie die Fünfprozenthürde Parteienvielfalt verhindert und die Politik verschlechtert

In der AfD kracht es wieder: Rund um die Person Kalbitz ist Streit ausgebrochen, Parteichef Meuthen will ihn ausschliessen, Rechtsaussen Höcke will einen Ausschluss Kalbitz´ verhindern.

Unter normalen Umständen hätte sich die AfD schon längst gespalten, eine Rechtsaussenpartei wäre entstanden und eine gemäßigtere nationalliberale Partei.

Aber die Fünfprozenthürde verhindert das, denn beide Parteiflügel wissen, dass eine Parteispaltung wahrscheinlich für beide Spaltprodukte der Untergang wäre, weil sie dann die Fünfprozenthürde zum Einzug in Bundestag und Landtag nicht erreichen würden.

Die Fünfprozenthürde ist ohnehin eine zutiefst umstrittene Sache: bei der Bundestagswahl 2013 entstanden eben durch die Fünfprozenthürde 16% "unwirksame Stimmen", also Stimmen für Parteien, die an der Fünfprozenthürde scheiterten: damals erhielt die AfD 4.9%, die FDP 4.8%, die Piratenpartei 2.3% und noch einige andere Parteien in Summe 4%. D.h. ein Sechstel der abgegebenen gültigen Stimmen für erlaubte Parteien war wegen der Fünfprozenthürde nicht im Parlament vertreten, eigentlich ein demokratiepolitischer Skandal in der angeblichen Demokratie Deutschland.

In der Folge dieser Wahl hob das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Fünfprozenthürde für EU-Wahlen als verfassungswidrig auf.

https://www.msn.com/de-at/nachrichten/politik/was-die-afd-noch-zusammenh%c3%a4lt/ar-BB14bkxF?ocid=ACERDHP17

https://de.wikipedia.org/wiki/Bundestagswahl_2013

Die Fünfprozenthürde kann auch ein Zwang zum Koalitionsbruch oder ein Zwang zum radikalen Kurswechsel sein, beispielsweise, wenn eine Kleinpartei als Juniorpartner in einer Regierung unangenehme Entscheidungen (und Regierungsentscheidungen sind das oft, müssen das sogar oft sein) mittragen muss und unter die Fünfprozenthürde fällt, aus den Landtagen fällt, bzw. aus Gemeindeparlamenten, dann entsteht ein quasi alternativloser Zwang zum radikalen Kurswechsel - Koalitionsbruch inklusive. Kleinparteien leben in der ständigen Angst, unter die Fünfprozenthürde zu fallen, was sie zu Populismus und Vertretung völlig realitätsfremder Positionen zwingen kann, weil sie eben die 1-3% realitätsfremden Wählerinnen und Wähler brauchen, um über der Fünfprozenthürde zu bleiben.

Was bis zu einem gewissen Grad dem Freiheitsgedanken in einer angeblichen Demokratie entspricht.

Das Fünfprozenthürdendenken entstammt der angeblichen "Weimarisierungs"-Gefahr:

Das Fehlen einer solchen Fünfprozenthürde hätte - so die Theorie - zu einer Parteienzersplitterung und zum Aufstieg des Nationalsozialismus geführt, daher brauche es eine solche Fünfprozenthürde.

Dabei ist schon die Grundannahme äußerst fragwürdig: auch mit Fünfprozenthürde wären die aussenpolitischen Faktoren bestehen geblieben, die zum Aufstieg des Nationalsozialismus führten, beispielsweise der Versailles-Vertrag und die darin enthaltenen Reparationsforderungen an Deutschland. D.h. die (regierenden) Mitteparteien waren wegen Versailles gezwungen, eine den Deutschen unzumutbare Politik zu betreiben, was die Wähler in die Hände der NSDAP und der KPD trieb.

Zahlreiche Parlamente der Welt haben entweder keine Hürde oder eine niedrigere und haben eine größere Parteienvielfalt, ohne unregierbar zu werden. Eine höhere Hürde als Deutschland hat die Türkei mit 10%; dort dient die Hürde dazu, eine kurdische oder überwiegend kurdische Partei zu verhindern. Mit der hohen Hürde von 4 oder 5% legitimieren Deutschland und Österreich die Zehnprozenthürde der Türkei, die D und Ö als undemokratisch bezeichnen, ein aussenpolitischer Widerspruch, der die Glaubwürdigkeit der EU beschädigt.

In Dänemark braucht eine Partei 2% der Gesamtstimmen ODER ein Mandat innerhalb eines Wahlkreises, um ins Parlament zu kommen, Bedingungen, die es Kleinparteien viel einfacher machen, ins Parlament zu kommen. In den Niederlanden gibt es gar keine Hürde, d.h. man kann mit 0.67% der Stimmen ins Parlament kommen und einen der 150 Parlamentssitze ergattern.

Vielleicht ist die Fünfprozenthürde eher entstanden aus einer Art Großparteienkartell heraus, und CDU/CSU und SPD wollten einfach verhindern, dass sie ihre 45%-Stimmenanteile verlieren und Kleinparteien ihnen was wegnehmen, was allerdings nicht funktioniert hat.

Beide Großparteien sind teils rasant abgestiegen von 45% auf 30% (CDU/CSU) oder 20% (SPD).

Vielleicht war ja die Weimarisierungstheorie reiner Vorwand für den Machtanspruch der Großparteien und ihre Absicht, Kleinparteien und Abspaltungen zu verhindern. Mit Nazivorwurfskeule (ähnlich dem Godwin-Law) und Nazihysterie liess sich das lange kostümieren.

Der Ausschluss der Kleinparteien ermöglicht oft einer Großpartei, ohne absolute Stimmenmehrheit eine absolute Mandatsmehrheit zu erreichen: wenn z.B. zehn Prozent der gültigen Stimmen für erlaubte Parteien durch die Hürde unwirksam werden, dann ist eine absolute Mandatsmehrheit bereits mit 45% der Stimmen zu erreichen, wenn 20% der Stimmen durch die Hürde unwirksam werden, ist die absolute Mandatsmehrheit ab 40% zu haben, etc. Man spricht in diesem Fall von "manufactured majorities", also künstlich durch das Wahlsystem, nicht durch die Wählerinnen und Wähler erzeugte (Mandats-)Mehrheiten. Das widerspricht eigentlich sowohl dem Demokratieprinzip als auch dem Verfassungsprinzip der Verhältniswahl und ähnelt eher dem (relativen) Mehrheitswahlrecht wie in Großbritannien oder USA, wo man auch mit 35% oder 40% absolute Mandatsmehrheiten erreichen kann.

Eine weitere große Gefahr ist die Kombination von Hürde und Nicht-Präferenzwahlrecht, wenn man also nur die favorisierte Partei wählen kann, aber die Parteien nicht reihen kann, also liebste Partei, zweitliebste Partei, drittliebste Partei, etc. angeben kann. Bei einem solchen Fall entsteht das taktische Wählen: d.h. zahlreiche Wählerinnen und Wähler wählen gar nicht die Partei, die ihnen am liebsten wäre, weil die Medien oder die Umfrageinstitute behaupten, diese Partei hätte keine Chance auf Parlamentseinzug. Sondern die Wählenden wählen UNTER DEN PARTEIEN, VON DENEN SIE EIN ÜBERSCHREITEN DER HÜRDE FÜR WAHRSCHEINLICH HALTEN, die liebste.

Damit ist strafrechtlichen Vergehen, wie der Täuschung bei einer Wahl (§263 öst. StGB) Tür und Tor geöffnet: nicht die Wählerinnen und Wähler entscheiden die Wahl, sondern die Medien und Umfrageinstitute mit ihren (oft falschen) Behauptungen, welche Parteien die Hürde überschreiten würden, welche nicht, und bei welchen es fraglich sei. Die Demokratie wird zur Demoskopokratie, zur Herrschaft der Meinungsforschungsinstitute.

Pixabay License / leo2014 https://pixabay.com/de/photos/gun-weapon-vergehen-waffen-pistole-4560173/

Pluralismuskiller Fünfprozenthürde: Inbegriff der Demokratie, wie CDU und SPD meinen, oder verfassungswidrig (zumindest auf EU-Parlamentsebene), wie das BVerfG 2014 meinte ?

Ein weiterer Aspekt ist die Auswirkung der Fünfprozenthürde auf die innerparteiliche Demokratie (bzw. ihr Fehlen) der Großparteien.

Eben, wegen der durch die Fünfprozenthürden großen Schwierigkeiten, eigene Parteien zu gründen oder sich abzuspalten, sind Politiker und -innen stark abhängig von ihrer Partei, bzw. ihrer Parteizentrale, was zu einem Phänomen wie "Clubzwangsklaven" führen kann, zu meinungslosen Karrieristen und Opportunisten, die nach Aussen niemals eine andere Meinung vertreten als die Parteilinie, selbst wenn sie diese von ihnen vertretene Parteilinie innerlich ablehnen. Durch den Zwang, Positionen vertreten zu müssen, denen man entweder gleichgültig oder ablehnend gegenübersteht, entsteht ein Charismamangel und Politikverdrossenheit.

Zahlreiche Leute, auch und insbesondere qualifizierte, sind unter diesem Bedingungen des Clubzwangsklaventums und der völligen Abhängigkeit von der Parteizentrale gar nicht bereit, in die Politik zu gehen, mit dem Resultat, dass die Politik verkommt, und von suboptimalen Leuten dominiert wird.

P.S.: in Österreich gilt eine Vierprozenthürde für den Einzug in das österreichische Parlament, eine Fünfprozenthürde für den Einzug in den Wiener Gemeinderat, der gleichzeitig Wiener Landtag ist. Zum Einzug in den Grazer Gemeinderat gibt es keine Hürde, was z.B. bewirkte, dass Kleinparteien mit 2-4% recht häufig dort vertreten sind. Österreich hat nur 18 EU-Abgeordnete, d.h. schon um den ersten erreichen zu können, braucht man ein Achtzehntel, also 5.56%.

Gerade für Österreich stellt sich die Frage, ob die Vierprozenthürde (mit-)verantwortlich ist für die Wien- bzw. Niederösterreichlastigkeit bzw. Ostregionslastigkeit der allermeisten Parteien: ÖVP-Obmann Kurz ist Wiener, FPÖ-Ex-Obmann Strache war Wiener, Hofer Burgenländer, alle SPÖ-Obleute waren aus Wien oder Wien-Umgebung, auch Rendi-Wagner, NEOS-Obfrau Meinl-Reisinger ist Wienerin, die Grünen haben zwar des öfteren Bundessprecher, die keine Wiener sind, aber die Wiener Landesorga der Grünen ist die einflussreichste.

Durch die Vierprozenthürde ist es extrem schwierig für regionalistische Parteien bzw. innerparteiliche Gruppen, sich abzuspalten, um Wien-Dominanz zu verhindern.

https://de.wikipedia.org/wiki/Sperrklausel#Sperrklauseln_in_verschiedenen_Staaten

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