Abschied in Raten - Reden wir übers Sterben...

Meine Mutter will sterben. Wieder einmal. Und zwar auf der Stelle, sofort, und ohne jegliche, weitere Verzögerung.

Sie sitzt wie ein Häufchen Elend am Tisch und sehnt ihr Lebensende herbei. Pragmatisch wie ich bin, frage ich, ob das mit dem Sterben bis nach dem Frühstück warten kann. Jetzt, wo es schon gemacht ist. Das wäre doch schade um das schöne Frühstück. Gestern haben wir Brombeermarmelade gemacht und die isst sie doch so gerne. Ich erinnere meine Mutter daran, dass sie uns immer zum Brombeerpflücken mitgenommen hat, als wir noch Kinder waren. Ob sie sich auch noch daran erinnern kann, frage ich sie.

Kann sie natürlich nicht, sie will ja grad sterben und zum Sterben passt keine Erinnerung ans Brombeerpflücken. Ich muss einsehen, dass das wirklich ein unpassender verbaler Einwurf meinerseits war und überlege, wie ich mich sinnvoller einbringen kann. Meine Mutter ist da hin und wieder leicht erregbar, wenn sie meint, dass ich sie nicht allzu ernst nehme. Vor allem, wenn sie grad das Zeitliche segnen will und ich so profane Dinge wie Brombeermarmelade erwähne. Ich ernte einen giftigen Blick. Wenn Blicke töten könnten, dann wäre es das für mich gewesen. Im Stillen überlege ich, ob ich einen Spiegel suchen soll... so von wegen totbringender Blicke. Einen Versuch wäre es allemal wert.

Meine Mutter reißt mich unsanft aus meinen Überlegungen. Sie fragt mich, warum sie nicht sterben kann. Ich krame in meinen Gehirngängen nach einer adäquaten Antwort, finde erwartungsgemäß nichts und entscheide mich spontan dazu, zumindest verbale Sterbehilfe anzubieten. Luftanhalten wäre doch eine Option. Das könnte sie mal versuchen. Wenn sie es lange genug durchhalten würde....

Sie neigt den Kopf und sagt mit dem Brustton der Überzeugung, dass das unmöglich sei. Wenigstens ist das jetzt geklärt. Die Hoffnung, dass das Thema damit vom Tisch wäre, erweist sich als trügerisch. Schließlich könne ein Pferd auch nicht so lange leben. Der Einwand, dass meine Mutter nun aber mal kein Pferd sei, bringt nur eine ganz kurze Atempause. Ich entscheide mich für Aktionismus. Vielleicht bringt uns das auf andere Gedanken. Während ich so unauffällig wie möglich, dass immer noch vorhandene Brombeermarmeladenbrot in ihre Reichweite schiebe, nutze ich die andere Hand zum Umrühren ihres Kaffee. Wenn man so wie meine Mutter grad sterben will, reicht die Energie nicht, um den Kaffee selber umzurühren.

Sie fragt mich nach einem Taschentuch. Ich befürchte Schlimmes. Und wie auf Bestellung drückt meine Mutter eine Träne aus den trüben Augen. Ich gehe in mich und frage mich, ob ich darauf reagieren soll, aber scheinbar nicht schnell genug, denn der Träne folgt ein herzzerreißendes Schluchzen. Jetzt bin ich im Zugzwang. In Ermangelung eines besseren Einfalls suche ich den Kamm. Wenn sie schon sterben soll, dann doch in einem halbwegs annehmbaren äußeren Zustand. Ich unterdrücke den Impuls, diesen Gedanken laut auszusprechen. Beim Haarekämmen beruhigt sich meine Mutter wieder. Das hat sie gern.

Als ich ihr einen Zopf flechte, besinnt sie sich wieder, dass sie eigentlich sterben wollte. ich setze mich neben sie und klopfe ihr behutsam auf den Rücken. Ich verspreche ihr, dass wir heute beim Einkaufen zum Gärtner fahren werden. Der hat bei uns in der Gegend die schönsten Radieschen. Dann kann sie sich die Radieschen mal von unten ansehen. So quasi ein bisschen zur Probe tot sein. Wenn das nicht hilft, darf sie mir auch noch ihren Löffel abgeben. Auch zur Probe natürlich, man will ja nichts überstürzen.

Sie sieht mich an, sagt mir, dass ich blöd bin und fragt, ob sie schon gefrühstückt hat.

Ich empfinde tiefe Dankbarkeit, dass sie wenigstens nicht hungrig sterben will.......

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Steirermadl

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Joekah

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Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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