Meine Meinung; Christina Stürmer oder: Talentsuche im Fernsehen kann was bringen

Eines jener Sendeformate, zu welchem zwar gerne verleugnet wird, es zu verfolgen, das sich aber paradoxer Weise dennoch schon über eine gefühlte Ewigkeit hindurch in zahlreichen Ländern hoher Einschaltquoten erfreut, sind die Talentsuchen im Fernsehen: besonders die Suche nach potenziellen Stars von morgen in der Musikbranche erfreut sich da großer Beliebtheit. Auf allen Seiten: die Veranstalter können sich etwa über die zahlreichen kostenpflichtigen Anrufe des Publikums freuen; so wurden allein beim ersten Finale des österreichischen Vertreters dieser Castingshows, Starmania, sagenhafte 6 Millionen Anrufe verzeichnet in einem rund 8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Land – und auch der enorme Werbewert durch die sagenhaften Einschaltquoten bringt neben dem dazugehörenden Merchandising die Kasse zum Klingeln. Aber auch die Menschen, die bislang nur den Freundeskreis oder auch lediglich den Duschkopf beglückten mit ihrem Gesang, erhalten da die Chance, das Publikum zu gewinnen und damit groß herauszukommen.

Das Badezimmer gegen die große Bühne einzutauschen; das bislang begeistert lauschende eigene Haustier gegen zigtausend Menschen in einer ausverkauften Konzerthalle und sogar ein Millionenpublikum vor den Fernsehgeräten. Gut, ein wenig Talent ist da schon von Nöten und auch regelmäßiges Gesangstraining kann nicht schaden, bevor man zu so einem Casting geht. Und ein Freundeskreis, welcher es ehrlich meint mit einem – rasch stolpert man ansonsten in eine Falle, welche Zuschauerinnen und Zuschauer zum Fremdschämen bringt und im Extremfall mancherorts sogar Kommentare provoziert, man bekäme Ohrenbluten beim Lauschen der gesanglichen Interpretation bekannter Hits. Anders als für die Veranstalter nehmen die Kandidatinnen und Kandidaten da schon ein gehöriges Risiko auf sich – und dennoch werden die einzelnen Castingtermine unverändert gestürmt.

Dritter im Bunde ist das Publikum: es wird gelauscht, mitgefiebert mit den gefundenen talentierten Menschen, die vielleicht sogar ein bisheriges Leben schildern, welches mit dem eigenen vergleichbar scheint und einem somit das Gefühl schenkt, eigentlich doch ebenfalls das Zeug dazu zu haben, ganz groß rauszukommen. Finden dann die Castings auch noch an malerischen Stränden statt, so ist die Entführung in eine Traumwelt nahezu perfekt. Und Kommentare der Jurorinnen und Juroren bieten guten Gesprächsstoff für die nächsten Tage – wobei man doch eigentlich ja gar nicht zu denen gehört, die sowas ansehen; man ist halt zufällig beim Durchzappen der Sender darauf gestoßen und hat eh nur kurz hineingeschaut.

Was wurde allerdings aus den einzelnen Siegerinnen und Siegern, die aus den zahlreichen Staffeln der unterschiedlichsten Varianten namens Starmania, DSDS, Pop Idol, The X Factor oder MusicStar, um einige zu nennen, hervorgegangen sind. Hat da echt die große Karriere begonnen? Waren diese Menschen dem Druck gewachsen, schlagartig in einem vollkommen anderen Umfeld zu stehen? Haben sich die vom Veranstalter gezeichneten Träume verwirklicht? Christina Stürmer ist die erste Künstlerin, welche mir auf Anhieb dazu einfällt, dass sie die Chance wirklich nachhaltig für sich nutzen konnte: Die gelernte Buchhändlerin war in der im Herbst 2002 startenden ersten Staffel des österreichischen Formats „Starmania“ aufgefallen durch eine sagenhafte Unbekümmertheit auf der Bühne, eine gute Stimme, viel Gefühl und ansteckende Freude am Gesang. Ich war damals einer von den zahlreichen Menschen, die sich von Sendung zu Sendung auf ihren nächsten Auftritt freuten. Es war für mich einfach sensationell, welch Talent da bislang unerkannt in einer Buchhandlung, dem heutigen „Thalia“ herumlief oder in kleineren Kreisen musizierte und sang.

Bereits damals war für mich klar, dass diese sich unscheinbar gebende junge Frau viele Botschaften hatte, die sie der Welt musikalisch schenken möchte. Und ich hab mich geärgert, wenn sie den Wettbewerb in meinen Augen nicht ernst genug nahm, wenn sie eine Titelwahl traf, zu welcher ich überzeugt war, dass das zwar eine tolle Interpretation war, der Song selbst allerdings nicht die unterstützende Reichweite hatte. Sie wurde so auch „nur“ Zweite – aber genau dieser Linie blieb sie treu und diese führte sie auch zu großen Erfolgen mit für deutschsprachige Sängerinnen und Sänger phänomenalen Verkaufszahlen im mittlerweile satt 7stelligen Bereich. In ihren nicht unbedingt nach Kriterien des Mainstreams ausgerichteten Songs greift sie immer wieder gesellschaftskritische Themen auf, beleuchtet das unendliche Leid durch Gewalt und Krieg (etwa in „Mama (Ana Ahabak)“), versprüht aber auch Lebensfreude („Ich kriege nicht genug“) oder greift von Menschen immer wieder erlebte Herausforderungen in Beziehungen und Gesellschaft auf („Ich lebe“, „Bus durch London“, „Ist mir egal“). „Ist mir egal“ war dabei in einer schweren Zeit für mich etwa ein Begleiter, welcher mich immer wieder dazu ermunterte, mich nicht selbst zu verraten, um anderen gefallen zu können.

Ja, Christina Stürmer hat es geschafft. Sie ist aus einer Castingshow zwar nicht als Siegerin hervorgegangen, hat die Chance aber zu nutzen verstanden und sich zu einem Fixpunkt der deutschsprachigen Musikszene emporgearbeitet. Sie ist dabei heute, 13 Jahre nach ihrem ersten Auftritt in der Castingshow, nicht nur bei international bekannten Kolleginnen und Kollegen beliebt und geschätzt (so stand sie beispielsweise auch im Mittelpunkt der aktuell laufenden Sendung „Sing meinen Song – das Tauschkonzert“ oder wurde 2013 von Jon Bon Jovi zu gemeinsamen Auftritten und einem Duett eingeladen) – beim Publikum sowieso – sie ist auch bodenständig geblieben. Und engagiert sich für zahlreiche soziale Projekte, was ihr auch immer wieder Vereinnahmungsversuche der Politik einbringt, gegen die sie sich entschieden zur Wehr setzt. Ja, ich bin ein Fan von ihr – und ich wünsche all den vielen Kandidatinnen und Kandidaten, die sich demnächst wieder den Castings stellen für ähnliche Sendeformate, dass auch sie es schaffen, Menschen mit ihrem Gesang nachhaltig so zu berühren und durchs Leben zu begleiten, wie Christina Stürmer das bei mir geschafft hat.

6
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Bluesanne

Bluesanne bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:11

Herbert Erregger

Herbert Erregger bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:11

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:11

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:11

FraMoS

FraMoS bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:11

Hansjuergen Gaugl

Hansjuergen Gaugl bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:11

3 Kommentare

Mehr von Hansjuergen Gaugl