Stürme und Schiffsuntergänge bei Gordon Lightfoot (Teil 2) & Bob Dylan

Zwei Songwriter – ein Thema: Gordon Lightfoot und Bob Dylan haben sich unabhängig voneinander mit Schiffskatastrophen beschäftigt und jeweils ein Lied darüber geschrieben. Über den Untergang der Edmund Fitzgerald und den Untergang der Titanic. Um diese beiden Songs soll es hier gehen. Zwei lange Songs, genau wie dieser Blog. Doch es muss sein, da es auch um den Untergang Amerikas geht. Man möge sich also etwas Zeit nehmen...

„When the gales of November came early“

Gordon Lightfoot hielt es für sein bestes Lied: „The Wreck of the Edmund Fitzgerald“. Es wurde nach „Sundown“ zur zweiterfolgreichsten Single-Auskopplung des Künstlers und stammt von dem 1976er Album „Summertime Dream“.

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„The legend lives on from the Chippewa on down

Of the big lake they called Gitche Gumee

The lake, it is said, never gives up her dead

When the skies of November turn gloomy“

In der Sprache der Chippewa-Indianer wird der Obere See, der Lake Superior, auch Gitche Gumee genannt. Er ist der größte der fünf Großen Seen Nordamerikas. Durch ihn verläuft die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada [1].

Auf diesem See verkehrte das Frachtschiff Edmund Fitzgerald. Es wurde 1958 gebaut und war mit 222 m Länge bis 1971 das größte Schiff auf den Großen Seen. Mit 29 Mann Besatzung und gut 20 000 PS, die aus zwei Dampfturbinen kamen, transportierte das Schiff hauptsächlich Eisenerz.

„With a load of iron ore twenty-six thousand tons more

Than the Edmund Fitzgerald weighed empty

That good ship and true was a bone to be chewed

When the gales of November came early“

Die Edmund Fitzgerald im Mai 1975 • Foto: wikipedia

Der Untergang der Edmund Fitzgerald

Am 10. November 1975 geriet das Schiff in einen schweren Herbststurm mit Windgeschwindigkeiten von über 50 Knoten und bis zu 10 Meter hohen Wellen.

Am späten Nachmittag wurde die Fitzgerald von einer Windböe in der Stärke eines Hurricanes getroffen. Das Schiff bekam eine leichte Schlagseite und verlor seine Radargeräte.

Der letzte Funkspruch kam gegen 19.00 Uhr, wonach das Schiff von einer „Riesenwelle“ getroffen wurde. Die Edmund Fitzgerald sei unmittelbar danach versunken und dabei in zwei Teile zerbrochen. Alle 29 Besatzungsmitglieder kamen ums Leben [2].

Es gibt eine Ereignis-Zeitleiste der Fitzgerald, in der man die Ereignisse am 10.11.1975 minutiös und auch im Wortlaut der Funksprüche nachlesen kann, die der Kapitän mit einem hinter der Fitzgerald fahrenden Schiff, der Anderson, führte.

In diesen beiden Animationen wird der Untergang des Schiffes dargestellt:

Dauer: 1:40

Dauer: 6:15

Hier kann man sich noch ausführlicher informieren (32:30).

„The Wreck of the Edmund Fitzgerald“

Als Lightfoot von dem Unglück in der Zeitung erfährt, setzt er sich umgehend hin und schreibt ein Lied über das Ereignis. Es ist mit 14 Strophen und über sechs Minuten Dauer sein längstes Lied.

In diesen sechs Minuten entfaltet die Musik eine eigentümliche Stimmung: langsam und düster, sachlich, aber auch in ihrer ganzen Tragik werden die Ereignisse um das Schiffsunglück geschildert, wobei sich Lightfoot nicht vollständig an die Realitäten hält; er kannte bestimmte Einzelheiten auch noch gar nicht. Das Lied hat keinen Refrain, die vierzeiligen Strophen werden nacheinander gesungen, nur jeweils von einem kurzen Gitarrenriff unterbrochen. Kein Solo, kein Instrumentalteil, der die Entfaltung der Handlung unterbricht. Die Stimme ist gleichbleibend ausdrucksstark, aber ohne jegliche emotionale Höhepunkte. Die Auswahl der gewählten Worte ist eindrucksvoll genug. Text und Musik bilden in ihrer beinahe dokumentarischen Schlichtheit eine Einheit. Die Erzeugung einer pathetischen Stimmung, etwa durch den Einsatz von Streichern, wird vermieden.

Die letzte Zeile der ersten Strophen deutet immer wieder auf das drohende Schicksal der „Fitz“, wie das Frachtschiff auch genannt wurde, hin, indem auf die Novemberstürme, die in dieser Gegend berüchtigt sind, hingewiesen wird:

„When the skies of November turn gloomy.“

„When the gales of November came early.“

„Could it be the North Wind they’d been feeling.“

„T’was the witch of November come stealing.“

Ab der 6. Strophe, es ist der Tag der Katastrophe, wird es langsam ungemütlich:

„The dawn came late and the breakfast had to wait

When the gales of November came slashing

When afternoon came it was freezing rain

In the face of a hurricane West Wind“

Dann kommt der Schiffskoch zu Wort, der sich wegen der rauen See nicht mehr in der Lage sieht, die ums Überleben kämpfende Mannschaft zu beköstigen:

„When supper time came the old cook came on deck

Saying fellows it’s too rough to feed ya

At 7 PM a main hatchway caved in

He said fellas it’s been good to know ya“

Der Kapitän meldet schließlich, dass Wasser eindringt. Die gute alte „Fitz“ und die Mannschaft sind in höchster Gefahr – und dann kommt auch schon das Ende:

„The captain wired in he had water coming in

And the good ship and crew was in peril

And later that night when his lights went out of sight

Came the wreck of the Edmund Fitzgerald“

Es heißt, das Schiff sei durch eine Art Monsterwelle in zwei Teile zerbrochen und augenblicklich versunken.

Angesichts der Katastrophe wäre es vorstellbar, mit Gott zu hadern. Doch der Sänger spricht nicht Gott direkt an, sondern fragt die Zuhörer, ob jemand wisse, wohin in solchen Momenten die Liebe Gottes gehe. Ist es, weil er den Glauben an Gott verloren hat und er nur noch über ihn statt mit ihm sprechen kann?

„Does any one know where the love of God goes

When the waves turn the minutes to hours...“

Und später erklingen die Kirchenglocken 29-mal, für jeden ums Leben gekommenen Seemann einmal:

„The church bell chimed, 'til it rang 29 times

For each man on the Edmund Fitzgerald“

Hier ist der vollständige Text nachzulesen.

Der Song „The Wreck of the Edmund Fitzgerald“ wurde nur wenige Wochen nach dem Unglück im Studio eingespielt und im August 1976 veröffentlicht.

Folgende Instrumente sind zu hören: 12-string acoustic guitar – electric guitar – pedal steel guitar – electric bass – drums – Moog synthesizer

Und hier die gleiche Originalfassung von 1976 mit eingeblendetem Text:

Am 1. Mai 2023 ist Gordon Lightfoot im Alter von 84 Jahren verstorben. In Teil 1 wurde sein musikalisches Werk in Auszügen gewürdigt und sein Leben skizziert.

Duluth – Da war doch was?

Duluth ist eine Hafenstadt im südöstlichen Teil des Lake Superior. Die Edmund Fitzgerald legte in früheren Jahren sicherlich auch im Hafen von Duluth an, um Eisenerze zu laden.

Duluth am Lake Superior: Beladung von Schiffen mit Eisenerz • Foto: Wikipedia

Duluth? Kenner der Musikszene werden jetzt womöglich stutzig. Welcher Künstler kam noch mal aus Duluth? – Richtig, Robert Allen Zimmerman. Allen besser bekannt als BOB DYLAN.

Dieser Bob Dylan kannte also die Frachtschiffe auf dem Lake Superior, womöglich auch die Edmund Fitzgerald.

Dieser Bob Dylan kannte auch Gordon Lightfoot bereits seit frühen Tagen in New York. „Sie gehörten beide demselben Stall an, wie sie einmal bemerkten“ [3]. Auch ist bekannt, dass Bob Dylan die Songs von Lightfoot sehr mochte: „Und wann immer er eins seiner Lieder höre, so Dylan weiter, wünschte er, es möge niemals enden“ [3]. Dylan coverte 1970 den Song „Early Morning Rain“ auf seinem Album „Self Portrait“. Umgekehrt nahm Lightfoot den Dylan-Song „Ring Them Bell“ 1993 auf dem Album „Waiting for You“ auf. Und wer nahm Gordon Lightfoot 1986 in die Canadian Music Hall of Fame auf? Genau!

Sturm und Schiffsuntergang bei Bob Dylan

Die Gemeinsamkeiten zwischen Gordon Lightfoot und Bob Dylan gehen noch weiter: Auch Bob Dylan hat ein Lied über Stürme und einen Schiffsuntergang geschrieben. Allerdings nicht in jüngeren Jahren wie Lightfoot (Er war 37) und auch nicht über ein gerade eben versunkenes Schiff. Dylan war bereits 71 Jahre alt, als er 2012 auf seinem Album „Tempest“ (Sturm, Unwetter) den Untergang der TITANIC zu seinem Thema machte.

Warum schreibt Dylan ausgerechnet ein Lied über dieses doch inzwischen hinlänglich bekannte Thema? Fällt ihm denn wirklich nichts anderes mehr ein?

2012 jährte sich der Untergang des als unsinkbar geltenden Schiffes zum 100. Mal. Ein solches Jubiläum dürfte für Dylan allerdings kein ausreichender Grund für einen Song sein.

Bei ihm steckt mehr dahinter. Viel mehr. Es beginnt schon mit dem Titel. Der Song heißt nicht etwa „Titanic“, sondern „Tempest“. Es ist der Titelsong des Albums „Tempest“. Merkwürdig: Die Titanic ging doch gar nicht durch einen Sturm unter.

Aber auch in keinem der anderen neun Lieder taucht irgendwo ein Sturm auf. Der Eisberg als Auslöser des Untergangs kommt übrigens in Dylans Song „Tempest“ ebenso wenig vor. Der Untergang scheint sich „einfach so“ ereignet zu haben...

Es geht Dylan nicht nur um das reale Ereignis des Schiffsuntergangs. Es geht ihm um mehr. Um den „Untergang“ Amerikas.

Sturm als Metapher

Der Titel „Tempest“ ist metaphorisch gemeint. Ein Sturm wirbelt alles durcheinander, löst auf, zerstört die bestehende Ordnung. Dylan entfaltet in den Liedern des Albums ein düsteres, ja apokalyptisches Bild des heutigen Amerikas mit Bezügen zu seiner geschichtlichen Vergangenheit. Es geht um Gewalt, Mord, Mordopfer, zerbrochene Beziehungen und Rache, um seelische und wirtschaftliche Depression. Untergangsstimmung also. „Tempest ist ein düsteres Jubiläumsalbum. Es betrauert das Scheitern eines weltgeschichtlichen Projekts namens ‚Amerika‘ “, schreibt der Literaturwissenschaftler HEINRICH DETERING [4, S. 137].

Die Titanic als Aufbruch in die Neue Welt – der vergebliche Traum von Freiheit und Gerechtigkeit

Man könnte die Fahrt der Titanic vergleichen mit der Reise der ersten Siedler nach Amerika, in die „Neue Welt“. Eine bessere Welt, wo der Traum von Freiheit und Gerechtigkeit gelebt werden sollte. Ein Aufbruch der Pilgerväter Amerikas in ein goldenes Zeitalter. Die verheißene Stunde war nah. Denn davon singt Dylan im Titanic-Song in der zweiten und dritten Strophe:

„Sailing into tomorrow / To a golden age foretold“

„Moving through the shadows / The promised hour was near“

„Mayflower im Hafen von Plymouth“ von William Halsall, 1882 • Foto: wikipedia

Doch das Experiment scheitert. So wie die Titanic untergeht, sieht Dylan auch die Ideale des heutigen Amerika untergehen. „Das heutige Amerika ist zum Land der Kämpfer geworden, der Mörder und der Ermordeten ... der heruntergekommenen ‚no-good towns‘, der verlorenen Farmen und der Bettler am Tor, der nicht abzahlbaren Schulden – ein Land der zerstörten Hoffnungen und gescheiterten Beziehungen..." [4, S.149]. Das also ist der eigentliche inhaltliche Sinn in Dylans Ballade über den Untergang der Titanic.

Der Untergang der Titanic als Apokalypse

Dylan sieht im Untergang der Titanic nicht nur den gescheiterten Traum von Freiheit und Gerechtigkeit. Für ihn nimmt die Schiffskatastrophe apokalyptische Ausmaße an. Und damit stellt Dylan auch zahlreiche religiöse Bezüge her. So liest der Kapitän im Moment des Untergangs im Buch der Offenbarung, in dem es bekanntermaßen um die Apokalypse geht, „und füllte seinen Becher mit Tränen“:

„In the dark illumination / He remembered bygone years

He read the Book of Revelation / And he filled his cup with tears“

Der Vorhang ist zerrissen – und kein plötzliches Wunder kann das Geschehene ungeschehen machen:

„The veil was torn asunder / 'Tween the hours of twelve and one

No change, no sudden wonder / Could undo what had been done“

Und die Menschen versuchen vergeblich einen Sinn in Allem zu finden. Doch Gottes Handeln wird ihnen nicht verständlich – die Wege des Herrn sind unergründlich...

„They waited at the landing / And they tried to understand

But there is no understanding / On the judgement of God's hand“

Untergang der Titanic • Illustration von Willy Stöwer • Foto: wikipedia

Der Untergang der Titanic als Werk eines bösen Zauberers

In einer einzigen Strophe erwähnt Dylan nebenbei eine weitere Deutung des Schiffsunglücks: dem bösen Fluch eines Zauberers („a wizard’s curse“):

„Petals fell from flowers / 'Til all of them were gone

In the long and dreadful hours / The wizard's curse played on“

Damit bezieht er sich auf das Drama „The Tempest“ von William Shakespeare und das Wirken des Zauberers Prospero, der zu Beginn des Schauspiels mit Hilfe eines Luftgeistes einen Schiffbruch inszeniert [4, S.147]. Dieses Drama, aber vor allem auch Shakespeare („Willy the Shake“) überhaupt, steht in einem nicht unerheblichen Zusammenhang zu den Werken besonders des späten Dylan.

Hoffnung? – Der Untergang der Titanic als Traum

Während die Tänzer im Ballsaal tanzen, träumt „the watchman“ (der Wächter, der Beobachter), die Titanic würde untergehen, versinken in die Unterwelt.

„The watchman, he lay dreaming / As the ballroom dancers twirled

He dreamed the Titanic was sinking / Into the underworld“

Das Wort „Unterwelt“ drückt noch einmal mit aller Schärfe die apokalyptische Deutung der Katastrophe aus. Das Schiff versinkt nicht einfach im Meer, sondern sinkt in die Unterwelt, in das Reich der Toten, ob es nun der griechische Hades oder die christliche Hölle sei.

Gibt es denn gar keine Hoffnung in Dylans Interpretation des Untergangs der Titanic?

Doch, die Hoffnung ergibt sich in der Person des „watchman“. Dieser Wächter kommt refrainmäßig in vier Strophen des Liedes vor. Dazwischen entfaltet sich die Dramatik des Untergangs. Auch, als sich das Unglück bereits vollzieht, träumt der Wächter davon, dass die Titanic untergehen werde. Ja selbst ganz am Schluss, in der allerletzten Strophe, als das Schiff längst versunken ist, träumt er immer noch:

„The watchman he lay dreaming / Of all the things that can be

He dreamed the titanic was sinking / Into the deep blue sea“

Da stimmt doch etwas nicht. Die Rätselhaftigkeit des Textes lässt sich nur erklären, wenn man annimmt, dass der „watchman“ gar nicht auf dem Schiff zugegen war, sondern irgendwo anders den gesamten Untergang lediglich geträumt hat [4, S. 148]. Dylan lässt damit also alles offen. Und so ist am Ende auch nicht mehr von der Unterwelt zu Rede, sondern das Schiff versinkt – im Traum des „watchman“ – in der tiefen, blauen See.

Auch wenn viele Geschichten damit enden, dass der Erzähler alles nur geträumt hat, darauf muss man erst einmal kommen...

Nach der letzten Strophe wird die Musik übrigens nicht beendet, sondern langsam ausgeblendet. Man könnte also meinen, die Bordkapelle spiele ihre Walzermelodien noch weiter. Auch nach dem Untergang...

Mit dieser Deutung des Untergangs der Titanic offenbart sich Dylan vielleicht doch nicht ausschließlich als der düstere, pessimistische Schwarzseher.

So wie übrigens auch Richard Wagner in seinem 16-Stunden-Werk „Der Ring des Nibelungen“ am Schluss der „Götterdämmerung“ Brünnhilde zwar auf der Bühne alles in Brand setzen lässt und damit der Weltuntergang vermutet werden kann. Aber das Entscheidende wird an der Musik deutlich: „Die Götterdämmerung“ endet nicht in Moll, sondern in Dur und mit dem Liebeserlösungsmotiv... [5]

Hochwald • Ausschnitt Albumcover Bob Dylan: „Tempest“ • Columbia Records/Sony

Jetzt aber endlich zur Musik!

Wir sind inzwischen gut vorbereitet, um uns endlich das Lied anzuhören. Doch die umfangreiche Vorrede war notwendig. Denn würde man den Titelsong unvorbereitet abspielen, könnte es sein, dass man gar nicht erst bis zu Ende hört.

Denn da wäre zunächst die Länge des Stückes: Fast 14 Minuten dauert „Tempest“. Schunkelnd wie im Westernsaloon im 6/8-Walzertakt ertönt eine einfache, eher monotone Melodie. Musikalisch nicht sehr raffiniert steht diese schlichte Musik im krassen Gegensatz zum dramatischen, komplexen Text. Ist es die Bordkapelle, die hier erklingt? Insgesamt 45 (!) vierzeilige Strophen. Kein packender, hypnotisierender Rhythmus wie etwa im 11-minütigen „Desolation Row“. Kein Refrain, kein einziges Gitarrensolo. Lediglich nach den vier bereits erwähnten Strophen über den „watchman“ spielt Gastmusiker David Hildago (LOS LOBOS) jeweils auf seiner Fiddle eine kleine verträumte (sic!) Melodie. Schnell könnte sich hier Langeweile ausbreiten. Oder, wie es ein Kritiker formuliert hat: „It was a song you listened to for the first time and figured, ‚that was nice, but I’ll never listen to it again‘“... [6]. Oder wie der Autor und Musikkritiker GREIL MARCUS schreibt: „For the first three or four minutes you might think, ‚Well, I’ll be back in a minute‘ “... [6]. Da kommt also keine Begeisterung auf.

Aber beide Kritiker schreiben weiter, dass es sich lohnt, sich zu überwinden und bis zum Schluss durchzuhalten. Ja, erst wenn man das Stück mehrfach hört, entfaltet die Reimstruktur ihre hypnotische Wirkung: „Yet every time it pops up, its hypnotic rhyming structure makes you keep listening and 15-minutes later you're glad you did it.“ [6] Und man wird von Strophe zu Strophe mehr in das Geschehen hineingezogen: „Then it becomes a lot harder, a lot more dangerous, a lot uglier, and you begin to feel a sense of horror and dread at what's going on.“ [6]

Man sollte sich also diese Hörerfahrung nicht entgehen lassen und tatsächlich das Stück ganz durchhören und bei Gelegenheit mehrfach wiederholen. Es lohnt sich!

Denn in der Tat lassen einen die geschilderten Ereignisse auf der Titanic, wie Dylan sie sich ausgedacht hat, als Hörer nicht unberührt. Er stellt uns einzelne Personen vor und zeigt auf, wie sie sich angesichts des unausweichlichen Todes verhalten.

Da küsst ein reicher Herr Aston (ein Multimillionär, der tatsächlich auf der Passagierliste stand) ein letztes Mal seine Frau:

„The rich man, Mister Astor / Kissed his darling wife

He had no way of knowing / It’d be the last trip of his life“

Jim Dandy (eine historische Figur aus den früheren Minstrel Shows) verschafft sich ein ruhiges Gewissen, indem er selbstlos seinen Platz in einem Rettungsboot einem behinderten Kind überlässt und damit selbst in den Tod geht:

„Jim Dandy smiled / He never learned to swim

Saw the little crippled child / And he gave his seat to him“

Da gibt es ein „Hauen und Stechen“ an Bord, einem Totentanz gleich:

„Brother rose up 'gainst brother / In every circumstance

They fought and slaughtered each other / In a deadly dance“

Dylan beschreibt, wie Mütter und ihre Töchter ins eiskalte Wasser springen, Passagiere durch die Luft gewirbelt werden, Freunde und Liebende sich aneinanderklammern. Es gibt Verräter, es gibt Abtrünnige, „gebrochene Rücken und gebrochene Hälse“.

Und es gibt Leo („Leo took his sketchbook“). Gemeint ist Leonardo DiCaprio, der in der Titanic-Verfilmung von 1997 den mittellosen Künstler Jack Dawson spielt. Er taucht auch bei Dylan in sieben Strophen als Passagier auf.

„He heard a loud commotion / Something sounded wrong

His inner spirit was saying / That he couldn't stand here long“

„He staggered to the quarterdeck / No time now to sleep

Water on the quarterdeck / Already three foot deep“

Ohne den Film, so Dylan, und ohne Leo sei der Song nicht so geworden, wie er ist [7].

So wie Dylan mit seiner künstlerischen Freiheit den Schiffsuntergang beschreibt, geht er wie wir gesehen haben, weit über den Film hinaus.

BOB DYLAN: „Tempest“ (2012)

Wer den Text beim Hören mitlesen möchte:

Für die Hardcore-Dylan-Fans gibt es sogar eine Fassung, bei der ausschließlich die Stimme Dylans zu hören ist, ganz ohne Musik...

Nachtrag: Die Ursprünge des Titanic-Songs

Bob Dylan war nicht der erste, der den Untergang der Titanic vertont hat. Er kannte eine Aufnahme der CARTER FAMILY aus den 1950er Jahren. Die Carter Family [8] gründete sich bereits 1927 und war eine der ersten kommerziellen Vertreter der Country-Musik. Nebenbei: In den 1960er Jahren schlossen sich die damaligen Mitglieder der JOHNNY CASH SHOW an, wodurch es zur Beziehung von June Carter mit Johnny Cash kam. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dylan hat einiges vom Titanic-Song der Carter Family übernommen. Am auffälligsten ist, dass er die Melodie und den 6/8-Walzertakt übernommen hat. Dylan sagte einmal gegenüber dem ROLLING STONE, er mochte diese Melodie einfach sehr [7].

Die erste Strophe ist fast identisch. Ebenso singt auch die Carter Family vom träumenden „watchman“:

„He dreamed the Titanic was sinking / Out on the deep blue sea“

Aus den ursprünglich 7 Strophen wurden bei Dylan dann allerdings einige mehr...

THE CARTER FAMILY: „The Titanic“ (1956 )

Auch die Carter Family war nicht die erste, die über die Titanic gesungen hat. Es sollen bereits einige Wochen nach der Katastrophe erste Lieder darüber entstanden sein.

1915 oder 1916 schrieb das Ehepaar WILLIAM & JERSEY SMITH eine der ersten Fassungen, die auch 1927 vertont wurde. Das Lied hatte den Refrain: „It was sad / When the great ship went down“. Diese Version wurde später u.a. von PETE SEEGER gesungen.

BLIND WILLIE JOHNSON gilt als der Komponist eines weiteren Liedes über die Titanic, allerdings mit dem Titel: „God Moves on the Water“. Es entstand 1929 und erschien auf einer 78er Schellackplatte. Das Lied enthält vier Strophen, unterbrochen vom Refrain und wird von Johnson auf seiner Gitarre mit einem Bottleneck (abgebrochener Flaschenhals) begleitet:

BLIND WILLIE JOHNSON: „God Moves on the Water“ (1929)

Eine weitere originelle Fassung stammt aus dem Jahr 1933 und wurde von dem Feldforscher Alan Lomax aufgenommen, der zu dieser Zeit durch die USA zog und alte Folksongs mit seinem Kassettenrecorder aufnahm und so wertvolle Archivierungsarbeit leistete. Hier die Fassung von „God moves on the water“ von LIGHTNIN’ WASHINGTON, der zum Zeitpunkt der Aufnahme im Gefängnis saß. Zu hören sind auch einige Mitgefangene, so dass ein „authentischer“ Gospelsong entstand.

LIGHTNIN’ WASHINGTON: „God Moves on the Water“ (1933)

Zuletzt eine Version mit der starken Stimme von BESSIE JONES, die Alan Lomax im Jahr 1960 mit seinem Mikrophon einfing.

BESSIE JONES: „God Moves on the Water“ (1960)

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„The Wreck of the Edmund Fitzgerald“ und „Tempest“ – zwei Lieder, die Geschichte beschreiben, in künstlerischer Freiheit gestaltet wurden und damit selbst Musikgeschichte schreiben...

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Quellenangaben:

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Oberer_See

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Edmund_Fitzgerald_(Schiff)

[3] https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/musik/im-stall-mit-bob-dylan-zum-tode-des-grossen-songwriters-gordon-lightfoot-li.344011

[4] Dieter Lamping, Sascha Seiler (Hg.), May your songs always be sung. Bob Dylans große Studioalben. Marburg 2021.

Darin der sehr lesenswerte Aufsatz von Heinrich Detering: "Hard Country", S. 137–150. Dieser Aufsatz ist auch online abrufbar: https://literaturkritik.de/hard-country-bob-dylans-album-tempest,27880.html

[5] Stefan Mickisch über den Ring der Nibelungen: https://www.mickisch.de/musik/richard-wagner/der-ring-in-worten/

[6] https://en.wikipedia.org/wiki/Tempest_(Bob_Dylan_song)

[7] ROLLING STONE: Bob Dylan on his dark new Album: https://www.rollingstone.com/music/music-news/bob-dylan-on-his-dark-new-album-tempest-184271/

[8a] https://de.wikipedia.org/wiki/The_Carter_Family

[8b] https://www.bear-family.de/carter-family-the/

Fotos:

• Edmund Fitzgerald im Mai 1975 https://de.wikipedia.org/wiki/Edmund_Fitzgerald_(Schiff) Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Edmund_Fitzgerald-USACE.jpg

• Duluth am Lake Superior: https://de.wikipedia.org/wiki/Duluth_(Minnesota) Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Duluth_Ore_Docks.jpg

• Mayflower im Hafen von Plymouth: https://de.wikipedia.org/wiki/Mayflower Foto:https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mayflower_in_Plymouth_Harbor,_by_William_Halsall.jpg

• Untergang der Titanic: https://de.wikipedia.org/wiki/Titanic_(Schiff) Foto:https://commons.wikimedia.org/wiki/File:St%C3%B6wer_Titanic.jpg

• Ausschnitt Albumcover Bob Dylan: „Tempest“, Columbia Records/SONY

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