Camerons Wahlsieg ist gut für Europa!

Für David Cameron und seine Conservative Party war es nicht weniger als ein historischer Triumph: die Wähler bescherten ihnen nicht nur eine solide Commons-Mehrheit (die erste seit 1992), sondern zugleich ein Mandat für eine Alleinregierung und einen beeindruckenden Abstand zur zweitplatzierten Labour Party, die das schlechteste Ergebnis seit 1987 einfuhr, als Margaret Thatcher den Altsozialisten Neil Kinnock deklassierte. Zu den Verlieren gehören neben Labour, den Liberal Democrats und den britischen Meinungsforschern, die mit ihren Prognosen durchgehend daneben lagen, aber auch das kontinentaleuropäische Establishment, denen der konservative Brite stets ein Dorn im Auge und ein Hindernis auf dem Pfad zu ihrem ideologischen Fetisch einer föderalen EU war.

Hatten sie sich im Vorfeld noch freudig die Hände gerieben und eine Niederlage der Tory-Regierung für ausgemacht gehalten, müssen die Anglophoben in Brüssel, Paris, Wien, Berlin und anderswo das Resultat nun mit kleinlautem Grummeln zähneknirschend zur Kenntnis nehmen. Gehofft hatten sie wohl auf eine europhile Labour-Regierung mit der SNP oder den Lib Dems im Schlepptau, die den Briten jenes Referendum vorenthalten hatte, das Cameron im Falle einer Wiederwahl versprochen hatte, nämlich eine Abstimmung über den Verbleib in der EU. Von diesen Wunschträumen ist wenig geblieben, im Rückblick entpuppt sich das schwärmerische Geschreibsel vor allem der deutschsprachigen Presse über die vermeintliche Aufholjagd von Oppositionsführer Ed Miliband und der angeblichen Nervosität der Tories als realitätsentrückter Kampagnenjournalismus.

Der Unmut der Übereuropäer angesichts des Tory-Erdrutschsieges mutet verständlich an angesichts der Tatsache, dass Cameron sich vehement gegen vertiefende EU-Integrationsschritte verwehrt und auf eine Neuverhandlung des britischen Verhältnisses zur Union pocht. Dennoch ist er maßlos überzogen: die Aversion, die der britischen Regierung für ihren euroskeptischen Kurs entgegenschlägt, steht in keinem Verhältnis zur politischen Realität. Die üblichen Kritikpunkte, mit denen das öde Cameron-Bashing üblicherweise ansetzt, lauten zumeist wie folgt: der Premierminister hintertreibe die notwendige Vertiefung der europäischen Union, picke sich die ökonomischen Rosinen aus den EU-Verträgen heraus, ohne die damit verbundenen politischen Konsequenzen tragen zu wollen und navigiere sein Land aus Opportunismus und Angst vor der eurofeindlichen UKIP fahrlässig auf einen EU-Austritt hin.

Alle diese Argumente entpuppen sich bei näherer Betrachtung als entweder schwächlich oder geradeheraus verfehlt. Cameron hintertreibt die Integration nicht, er will sie aber nicht aktiv mittragen, weil die britische Öffentlichkeit den von Berlin und Brüssel favorisierten Vertiefungsgrad nicht akzeptiert – das hat viel mit dem britischen Selbstverständnis in Bezug auf ihr politisches System zu tun, dessen Quintessenz sich in der sovereignty of parliamentmanifestiert, die seit der Glorious Revolution als Garant für demokratische Selbstbestimmung und Schutz vor Tyrannei gilt. Wie wichtig den Briten diese Rückkoppelung politischer Entscheidungen an unmittelbare demokratische Willensbildung vor Ort ist, zeigt sich auf lokaler Ebene: die Schotten wollen sich nicht von London aus ihre Politik diktieren lassen, ebenso wenig die Waliser und zunehmend auch die Engländer, die es leid sind, dass schottische und walisische Abgeordnete im Unterhaus bei English-only mattersmitstimmen und sich zeitgleich jegliche Einmischung in die eigenen regionalen Belange verbitten. Es fällt nicht schwer, sich unter diesem Eindruck dieser auf Dezentralisierung angelegten politischen Kultur vorzustellen, wie sehr den Briten die Idee einer weiteren Übertragung an politischen Kompetenzen an Brüssel widerstreben muss. Ihnen dies dennoch aufzuzwingen, kommt einer Forderung nach der Verleugnung ihres historisch gewachsenen Demokratieverständnisses dar, das in seiner systemischen Ausführung einen erheblichen Teil ihrer nationalen Identität ausmacht.

Für Großbritannien ist die EU darüber hinaus zuvorderst eine Wirtschaftsunion. Der Binnenmarkt ist der zentrale Grund, warum sich die Briten überhaupt erst zum Eintritt in die Union entschlossen – wie sonst wäre es vorstellbar, dass selbst eine Margaret Thatcher dereinst  entschlossen für einen Beitritt eintrat? Nicht die politische Utopie der „Vereinigten Staaten von Europa“ (ein Begriff, den Winston Churchill gänzlich anders verstand, als ihm heute oft unterstellt wird), sondern eine nüchtern-ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse war es, die die britische Wählerschaft anno 1975 dazu bewog, in einem Referendum für den Verbleib in der europäischen Gemeinschaft zu votieren – die auf den Stimmzetteln daher auch mit dem Zusatz „Common Market“ versehen war. Selbst proeuropäischen britischen Politikern wie Nick Clegg dienen die Vorteile des Freihandels heute als primäres Argument gegen einen EU-Austritt und nicht etwa die Notwendigkeit weiterführender Integrationsschritte. Dieser Einwand zielt jedoch ins Leere: denn selbst die schärfsten EU-Kritiker aus dem Lager der Konservativen und der UKIP betonen bei jeder Gelegenheit, dass der Binnenmarkt nicht zur Diskussion stehe und man auch im Falle eines Austrittes den freien Handel beibehalten möchte.

Cameron selbst will die EU nicht verlassen, sondern favorisiert einen Verbleib unter neuverhandelten Konditionen. Ihm schwebt, der Tradition des britischen Wirtschaftsliberalismus seit Adam Smith folgend, eine Freihandelsunion vor, die Zölle abbaut, den freien Wettbewerb absichert und politische Interventionen auf ein Minimum beschränkt, ansonsten aber den Mitgliedsstaaten freie Hand bei der Bewältigung ihrer innenpolitischen Aufgaben lässt. Wer dies als unzulässige „Rosinenpickerei“ bezeichnet, sollte sich ernsthaft fragen,  warum die EU gleichzeitig problemlos mit der EFTA ein ähnliches Arrangement mit Norwegen, der Schweiz oder Island zu unterhalten vermag, und gerade umfassenden Freihandel mit den USA anstrebt. Wer die politische als notwendige Konsequenz der ökonomischen Integration postuliert, gehört in Wahrheit zu denen, die es nicht ertragen können, dass freie Märkte ohne einen zentralen politische Überbau mit dirigistischen Interventionsmöglichkeiten verbleiben – dies aber ist ein ideologischer Streit und hat mit dem EU-Integrationsprozess wenig zu tun, der keinem automatischen Verlaufsmuster folgt und institutionell auch nicht auf einen solchen ausgelegt ist, weil einzelne Staaten eine Integrationsvertiefung verhindern können.

Zuletzt: Cameron des Opportunismus zu bezichtigen, weil er ein Referendum über den Verbleib in der EU in seine Liste an Wahlversprechen aufgenommen hat, ist lachhaft. Seine Partei, die Conservative Party, besitzt seit der Ära Thatcher ein ausgesprochen euroskeptisches Profil, das längst in die DNA der Partei übergegangen war, als Cameron 2005 zum Vorsitzenden der Tories gewählt wurde. Damals aber besaß das EU-Thema nicht die innenpolitische Priorität, die es im Zuge der Finanzkrise ab 2008 erlangte. Dass das Verhältnis Großbritanniens zur EU seitdem einen enormen Zuwachs an Relevanz in der öffentlichen Debatte erfuhr, lässt sich nicht zuletzt anhand des kometenhaften Aufstieges der UK Independence Party ablesen. Cameron wäre ein Narr gewesen, hätte er sich dieser Stimmungslage nicht angenommen und mit seinem Referendumsvorschlag eine gangbare Lösung aufgezeigt – dies war zwar zugegeben nicht zuletzt ein Zugeständnis an die euroskeptische Mehrheit in seiner eigenen Partei, aber auch eine lobenswerte Demonstration politischer Responsivität, die sich der Themen annimmt, die den Bürgern unter den Nägeln brennen. Und anders als im Falle des österreichischen Bundeskanzlers Faymann handelte es sich hierbei um keine 180-Grad-Wende aus heiterem Himmel, sondern lediglich um eine strategisch sinnvolle Adjustierung, die aber auf dem Boden des eigenen ideologischen Fundamentes geschah.

Schlussendlich sollten sich die kontinentaleuropäische Öffentlichkeit und ihre politischen Repräsentanten aber auch folgende Frage stellen: gibt Camerons Wahlsieg für Europa nicht auch einigen Anlass zur Freude? Bei vielen dürfte eine solche Frage nur ungläubiges Stirnrunzeln oder gar empörtes Kopfschütteln hervorrufen, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass vieles für diese Annahme spricht. Mit Ed Miliband hätte im Falle eines Labour-Sieges ein orthodoxer Sozialist Einzug in die Downing Street gehalten, der in der seine Inspiration aus der dirigistischen Wirtschaftspolitik der 70er Jahre, als Großbritannien sich im Würgegriff der Gewerkschaften der Wirtschaftsleistung der DDR annäherte, gewinnt und die ökonomischen Probleme im Lande durch tausendmal erprobte und ebenso oft gescheiterte Markteingriffe wie Preiskontrollen und Strafsteuern für Reiche  beheben zu können glaubt. Mit ihm an der Spitze – und das womöglich in einer Koalition mit der Scottish National Party, die jegliche Sparmaßnahmen kategorisch ablehnt - würde Großbritanniendieselben ideologischen Irrwege beschreiten, mit denen Francois Hollande Frankreich in die wirtschaftspolitische Malaise getrieben hat. Eine ökonomisch ohnehin strauchelnde EU kann wahrlich kein weiteres ökonomisches Sorgenkind gebrauchen, schon gar keines vom Gewicht Großbritanniens. Zum Vergleich: während Frankreich bei 0,4% Wachstum grundelt, dürfen sich die Briten trotz Sparkurs der höchsten Wachstumsrate aller Industrieländer erfreuen. In einer Zeit, in der die EU wirtschaftliche Erfolgsstories dringend gebrauchen kann, kann man den Wert solcher Zahlen gar nicht unterschätzen. Dass die Briten mit ihrem liberalen Wohlfahrtsmodell und ihrem Vertrauen in die freie Marktwirtschaft ein willkommenes Gegengewicht zu grassierenden sozialdemokratischen Uniformisierungsfantasien unter dem Schlagwort „Steuerharmonisierung“ und „Sozialstandards“ darstellen, betont die ökonomische Bedeutung von Camerons Wiederwahl noch zusätzlich.

Ein weiterer Grund, warum Europa ob Camerons Wahlsieg eigentlich eher jubeln denn schmollen sollte, besteht in der Tatsache, dass nur die Tories die euroskeptische Mehrheitsmeinung in Großbritannien in gemäßigte Bahnen lenken können. Mit seinem Referendumsvorschlag gelang es den Konservativen, UKIP auszubremsen und sogar deren eloquenten Anführer Nigel Farage in dessen eigenen Wahlkreis zu schlagen. Während für UKIP ein Austritt die einzig akzeptable Lösung darstellt, wollen die Tories den Verbleib absichern, indem sie einen für Großbritannien zufriedenstellenden Deal ausverhandeln. Weil die Teilnahme an einem föderalen Europa für die Briten nicht zur Debatte steht, ist eine Mitgliedschaft unter speziellen Bedingungen die einzige Möglichkeit, sie in der EU zu halten.  Wer klug ist, wird daher jetzt, da sie ihren Premierminister mit einem unmissverständlichen Mandat ausgestattet haben, auf die Briten zugehen und ihnen einen Kompromiss vorschlagen – lässt man sie hingegen aus billigem Revanchismus auflaufen und versperrt sich dem Dialog, wird Cameron das wohl unter dem Jubel seiner Landsleute mit der trockenen Feststellung quittieren, dass sich man mangels Gesprächsbereitschaft in der EU nicht mehr willkommen fühle – mit den entsprechenden Konsequenzen.

Es bestehen also im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, mit dem Wahlsieg Camerons umzugehen: Europa kann sich in den Schmollwinkel zurückziehen, sich weiterhin über die britischen Alleingänge mokieren  und sich weiterhin mit garstigen Seitenhieben an Cameron abarbeiten, wie dies einige Polit-Knilche auf dem europäischen Parkett tun, um ihren wenig gewichtigen Einlassungen etwas Schärfe zu verleihen und medial auch mal wahrgenommen zu werden. Damit werden sie Großbritannien nachhaltig vergraulen und die antieuropäische im Stimmung im Land zusätzlich aufheizen, was in einem Austritt kulminieren könnte – für die europäische Gemeinschaft freilich ein Schuss ins Knie, denn eine EU ohne Vereinigtes Königreich hätte deutlich weniger Gewicht als zuvor. Die zweite Variante, die mit realpolitischem Pragmatismus und einem Quantum Goodwill einhergeht, besteht darin, die Eigenart der Briten anzuerkennen und sie in die EU zu integrieren, ohne ihnen abzuverlangen, ihrem Selbstverständnis abzuschwören. Jean-Claude Juncker scheint sich für den zweiten Weg entscheiden zu wollen, und das ist gut so. Es bleibt abzuwarten, ob ihm Parlament und Regierungschefs auf diesem vernünftigen Weg, den er einzuschlagen gedenkt, folgen wollen. Wenn nicht, werden sie sich damit nur selbst schaden – und der EU gleich dazu.

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Bernhard Juranek

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