Memoiren einer Geschäftsreisenden - Hilfe, wo fährt der Pole mit mir hin! (1)

Kurz nach der Ostöffnung meldete sich eine polnische Firma bei mir, die unsere Produkte in Polen vertreiben wollte. Nachdem der perfekte Vertriebspartner noch nicht gefunden war, beschloss ich, diese Firma gemeinsam mit einem Kollegen in Polen zu besuchen. Die Firma war in Krakau angesiedelt, aber irgendwo am Stadtrand. Der Besitzer meinte, dass wir sie nicht alleine finden würden und er uns in der Stadt treffen wolle. Wir sollten ihm dann nachfahren. Es war Winter, später Nachmittag und schon dunkel. Wir trafen uns am vereinbarten Punkt und folgten dem Auto des potentiellen Geschäftspartners. Die noch kommunistische Straßenbeleuchtung war nicht besonders gut ausgebaut, und es wurde immer finsterer um uns. Schließlich landeten wir in einem "Gewerbegebiet" - alte Lagerhäuser und halb verfallene Fabriksgebäude. Niemand war zu sehen, es war schon nach sechs, und die meisten Leute waren schon nach Hause gegangen.

Zuerst zeigte uns der Mann im Halbdunkeln sein Lager, dann führte er uns in sein Büro. Dort sahen wir ihn zum ersten Mal richtig. Er trug interessanterweise ein kurzärmeliges Hawaii-Hemd. Nicht sehr business-like und etwas wenig für den Winter. Doch das sollte nicht das Problem sein. Während er uns seine Firma präsentierte und sprach, fiel mir auf, dass der Mann an den Armen und am Hals  lauter Narben hatte. Und zwar eine ganze Menge. Ich fühlte mich sofort in einen Seeräuber-Film versetzt und wunderte mich nur, an wen wir da wohl geraten waren. Unauffällig blickte ich zu meinem Kollegen. Auch er hatte es schon bemerkt. Schweißperlen standen ihm auf der Oberlippe, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er nervös war. Der Mann verhielt sich aber sonst ganz normal und freundlich. Auch er war ein bisschen nervös. Würden wir mit ihm arbeiten wollen oder nicht? Wir zeigten uns einmal grundsätzlich interessiert und wollten es uns noch überlegen. Wir verließen die Firma und freuten uns, als wir sicher zurück im Zentrum Krakaus waren.

Heute weiß ich, dass es Menschen mit psychischen Störungen gibt, die sich selbst Verletzungen zufügen und sich die Haut auf den Armen aufschneiden. Ob dieser Mann so ein Fall war, sei dahingestellt. Jedenfalls pflegten wir eine Zeit lang eine ganz normale Geschäftsbeziehung, die danach ganz zivilisiert und nicht in Seeräubermanier beendet wurde.

Foto. www.hawaiihemd.org

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Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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irmi

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